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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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Das Wachstum der Socialdemokratie nach der Statistik der Reichstagswahlen.

In Anbetracht dessen, daß der Umsturzpartei ihre Stichwahlerfolge 1884
durch die Verbitterung der sogenannten Ordnungsparteien untereinander so
außerordentlich erleichtert worden sind, hat man neuerdings die Forderung er¬
hoben, ein Kartell der letztern gegen die Sozialdemokratie zu bilden. Nehmen
wir an, daß ein solches Kartell bereits für die Wahlen 1884 bestanden hätte,
so würden etwa vierzehn Sozialdemokraten weniger und sechs Freisinnige, vier
Nationalliberale, zwei Klerikale lind je ein Welse und Demokrat mehr im Reichs¬
tage sitzen. Den Hauptvorteil hätten also die Freisinnigen gehabt, gar keinen
Nutzen die Konservativen. Wenn man mit dem Fürsten Bismarck den Fort¬
schritt als Vorfrucht der Sozialdemokratie betrachtet und die Stellung der
Welsen, Demokraten und zum Teil auch der Klerikale" zum Reiche ins Auge
faßt, so wird der Unterschied zwischen dem, was ist und dem, was sein könnte,
Praktisch und politisch wenig bedeutend erscheinen.

ES kommt noch hinzu, daß es die Wahlverwandtschaft zwischen Sozial¬
demokratie und Freisinn zu einem aufrichtigen Anschluß der Freisinnigen an
das Kartell gar nicht kommen lassen und im gegebenen Fall ihre Feindschaft
gegen Mittelpartei, Konservative und Negierung die Oberhand behalten würde.
Anderseits werden sich die Konservativen nicht dazu verstehen, zur Vermehrung
der freisinnigen Mandate beizutragen, da ihnen das Auftreten der Nichter-
schen Partei in den Fragen des Svzialistcngesetzes, der Bekämpfung der Sozial¬
demokratie durch soziale Reformen, der Erhaltung und Stärkung unsrer Wehr,
der Ordnung unsers Steuerweseus :e. schon lauge zweifelhaft gemacht hat, in¬
wieweit sie noch als Ordnungspartei angesprochen werden kann. Bei diesem
Stande der Dinge wäre es richtiger und mehr Erfolg versprechend, wenn die
gedachte Forderung eines Kartells unter Ausschluß der Freisinnigen ausgestellt
und erfüllt würde.

Eine solche Vereinbarung, nicht bloß der Wahlen wegen geschlossn, könnte
nicht nur sehr viel dazu beitragen, größere Klarheit in die verwirrten Partei¬
verhältnisse zu bringen, sondern sich auch für die positive Reformarbeit außer¬
ordentlich fruchtbar erweisen. Wer möchte sich trotzdem getrauen, an ihren Ab¬
schluß zu glauben! Dem Abgeordneten Windthorst gefällt dieser Reichstag viel
zu gut und seine eigne Lust an dem Dasein und Wirken des Freisinns ist viel
zu groß, als daß er etwas zu dessen Isolirung beitragen möchte. Dieser treff¬
liche Minirer schließt Bündnisse nur von heute zu morgen, von Fall zu Fall.

Die Sozialdemokraten selbst kümmern sich um die Sorge" weder der För¬
derer des Reiches noch seiner Minderer. Die Formirung ihrer Bataillone in den
Fachvereinen hat bedeutende Fortschritte gemacht, und der Anblick des Rückganges
der Landwirtschaft und des Kampfes der Industrie mit den Wirkungen einer
Welthandclstrisis verstärkt ihre Hoffnungen, daß die nächsten Neichstagswahlen
das dritte Dutzend ihrer Abgeordneten voll machen werden.




Das Wachstum der Socialdemokratie nach der Statistik der Reichstagswahlen.

In Anbetracht dessen, daß der Umsturzpartei ihre Stichwahlerfolge 1884
durch die Verbitterung der sogenannten Ordnungsparteien untereinander so
außerordentlich erleichtert worden sind, hat man neuerdings die Forderung er¬
hoben, ein Kartell der letztern gegen die Sozialdemokratie zu bilden. Nehmen
wir an, daß ein solches Kartell bereits für die Wahlen 1884 bestanden hätte,
so würden etwa vierzehn Sozialdemokraten weniger und sechs Freisinnige, vier
Nationalliberale, zwei Klerikale lind je ein Welse und Demokrat mehr im Reichs¬
tage sitzen. Den Hauptvorteil hätten also die Freisinnigen gehabt, gar keinen
Nutzen die Konservativen. Wenn man mit dem Fürsten Bismarck den Fort¬
schritt als Vorfrucht der Sozialdemokratie betrachtet und die Stellung der
Welsen, Demokraten und zum Teil auch der Klerikale» zum Reiche ins Auge
faßt, so wird der Unterschied zwischen dem, was ist und dem, was sein könnte,
Praktisch und politisch wenig bedeutend erscheinen.

ES kommt noch hinzu, daß es die Wahlverwandtschaft zwischen Sozial¬
demokratie und Freisinn zu einem aufrichtigen Anschluß der Freisinnigen an
das Kartell gar nicht kommen lassen und im gegebenen Fall ihre Feindschaft
gegen Mittelpartei, Konservative und Negierung die Oberhand behalten würde.
Anderseits werden sich die Konservativen nicht dazu verstehen, zur Vermehrung
der freisinnigen Mandate beizutragen, da ihnen das Auftreten der Nichter-
schen Partei in den Fragen des Svzialistcngesetzes, der Bekämpfung der Sozial¬
demokratie durch soziale Reformen, der Erhaltung und Stärkung unsrer Wehr,
der Ordnung unsers Steuerweseus :e. schon lauge zweifelhaft gemacht hat, in¬
wieweit sie noch als Ordnungspartei angesprochen werden kann. Bei diesem
Stande der Dinge wäre es richtiger und mehr Erfolg versprechend, wenn die
gedachte Forderung eines Kartells unter Ausschluß der Freisinnigen ausgestellt
und erfüllt würde.

Eine solche Vereinbarung, nicht bloß der Wahlen wegen geschlossn, könnte
nicht nur sehr viel dazu beitragen, größere Klarheit in die verwirrten Partei¬
verhältnisse zu bringen, sondern sich auch für die positive Reformarbeit außer¬
ordentlich fruchtbar erweisen. Wer möchte sich trotzdem getrauen, an ihren Ab¬
schluß zu glauben! Dem Abgeordneten Windthorst gefällt dieser Reichstag viel
zu gut und seine eigne Lust an dem Dasein und Wirken des Freisinns ist viel
zu groß, als daß er etwas zu dessen Isolirung beitragen möchte. Dieser treff¬
liche Minirer schließt Bündnisse nur von heute zu morgen, von Fall zu Fall.

Die Sozialdemokraten selbst kümmern sich um die Sorge» weder der För¬
derer des Reiches noch seiner Minderer. Die Formirung ihrer Bataillone in den
Fachvereinen hat bedeutende Fortschritte gemacht, und der Anblick des Rückganges
der Landwirtschaft und des Kampfes der Industrie mit den Wirkungen einer
Welthandclstrisis verstärkt ihre Hoffnungen, daß die nächsten Neichstagswahlen
das dritte Dutzend ihrer Abgeordneten voll machen werden.




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[0317] Das Wachstum der Socialdemokratie nach der Statistik der Reichstagswahlen. In Anbetracht dessen, daß der Umsturzpartei ihre Stichwahlerfolge 1884 durch die Verbitterung der sogenannten Ordnungsparteien untereinander so außerordentlich erleichtert worden sind, hat man neuerdings die Forderung er¬ hoben, ein Kartell der letztern gegen die Sozialdemokratie zu bilden. Nehmen wir an, daß ein solches Kartell bereits für die Wahlen 1884 bestanden hätte, so würden etwa vierzehn Sozialdemokraten weniger und sechs Freisinnige, vier Nationalliberale, zwei Klerikale lind je ein Welse und Demokrat mehr im Reichs¬ tage sitzen. Den Hauptvorteil hätten also die Freisinnigen gehabt, gar keinen Nutzen die Konservativen. Wenn man mit dem Fürsten Bismarck den Fort¬ schritt als Vorfrucht der Sozialdemokratie betrachtet und die Stellung der Welsen, Demokraten und zum Teil auch der Klerikale» zum Reiche ins Auge faßt, so wird der Unterschied zwischen dem, was ist und dem, was sein könnte, Praktisch und politisch wenig bedeutend erscheinen. ES kommt noch hinzu, daß es die Wahlverwandtschaft zwischen Sozial¬ demokratie und Freisinn zu einem aufrichtigen Anschluß der Freisinnigen an das Kartell gar nicht kommen lassen und im gegebenen Fall ihre Feindschaft gegen Mittelpartei, Konservative und Negierung die Oberhand behalten würde. Anderseits werden sich die Konservativen nicht dazu verstehen, zur Vermehrung der freisinnigen Mandate beizutragen, da ihnen das Auftreten der Nichter- schen Partei in den Fragen des Svzialistcngesetzes, der Bekämpfung der Sozial¬ demokratie durch soziale Reformen, der Erhaltung und Stärkung unsrer Wehr, der Ordnung unsers Steuerweseus :e. schon lauge zweifelhaft gemacht hat, in¬ wieweit sie noch als Ordnungspartei angesprochen werden kann. Bei diesem Stande der Dinge wäre es richtiger und mehr Erfolg versprechend, wenn die gedachte Forderung eines Kartells unter Ausschluß der Freisinnigen ausgestellt und erfüllt würde. Eine solche Vereinbarung, nicht bloß der Wahlen wegen geschlossn, könnte nicht nur sehr viel dazu beitragen, größere Klarheit in die verwirrten Partei¬ verhältnisse zu bringen, sondern sich auch für die positive Reformarbeit außer¬ ordentlich fruchtbar erweisen. Wer möchte sich trotzdem getrauen, an ihren Ab¬ schluß zu glauben! Dem Abgeordneten Windthorst gefällt dieser Reichstag viel zu gut und seine eigne Lust an dem Dasein und Wirken des Freisinns ist viel zu groß, als daß er etwas zu dessen Isolirung beitragen möchte. Dieser treff¬ liche Minirer schließt Bündnisse nur von heute zu morgen, von Fall zu Fall. Die Sozialdemokraten selbst kümmern sich um die Sorge» weder der För¬ derer des Reiches noch seiner Minderer. Die Formirung ihrer Bataillone in den Fachvereinen hat bedeutende Fortschritte gemacht, und der Anblick des Rückganges der Landwirtschaft und des Kampfes der Industrie mit den Wirkungen einer Welthandclstrisis verstärkt ihre Hoffnungen, daß die nächsten Neichstagswahlen das dritte Dutzend ihrer Abgeordneten voll machen werden.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/317>, abgerufen am 27.09.2024.