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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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Goethes Lila.

ist es auf die Nachwelt gekommen und für diese, soweit sie nicht bloß mit den
Augen liest, ein Rätsel geblieben.

Etwas Widerspruchsvolleres läßt sich auch kaum denken. Im ersten Aufzuge
befinden wir uns in der alltäglichsten, plansten Wirklichkeit, im Saale eines
Gutshauses, unter leibhaftigen Menschen, die über die Gemütskrankheit Lilas
und ihre verschiednen Heiluugsversuche sprechen; im zweite", dritten und vierten
Aufzuge befinden wir uns dagegen in einer Märchenwelt, die zum größten
Teile in einem "rauhen Walde" ihr Wesen treibt; Feen, Dämonen und tanzende
"Gefangene" gehen aus und ein, und Lila spricht wie eine auferstandene Griechin
vom Acheron, vom Nachen des Charon und schwört zu verschiedenen malen
bei den Göttern, was sich doch weder mit der Neuzcitlichleit des ersten Aufzuges,
noch mit der Mittelalterlichkeit der Geister der drei andern Aufzüge vereinbaren
läßt. Obwohl äußerlich der Stil von Anfang bis zu Ende derselbe bleibt, so
ist doch von einem einheitlichen Stil des Vorganges keine Rede, und selbst
die Prüfungen Lilas und was damit zusammenhängt, alle diese Vorgänge
bleiben schattenhaft; und wenn schließlich die Gatten sich wiederfinden, so weiß
man kaum, wie es eigentlich gekommen ist.

Diese Widersprüche und Unklarheiten, mit einem Worte dieses Geheimnis¬
volle, Rätselhafte des Ganzen hängt nun offenbar mit der letzten Umarbeitung
zusammen, bei der das ursprünglich wohl rein medizinische Verfahren gegen
Lila in eine mystische Seelenkur umgewandelt winde. Um aber die hieraus
sich ergebenden wunderbaren Vorgänge zu begründen, mußte auch der erste
Aufzug etwas verändert werden; und diese Veränderungen oder vielmehr Zu¬
sätze lassen sich sehr leicht erkennen. Nachdem nämlich im ersten Aufzuge immer
nur von medizinischen Kuren die Rede gewesen ist, berichtet der aus dem
Pferdestall zurückkehrende Graf Altenstein, daß das Kammermädchen Lilas ihm
soeben verraten habe, daß Lila an einer fixen Idee leide, daß sie glaube, ihr
Gemahl sei nicht tot, sondern werde von bösen Geistern gefangen gehalten, und
sie müsse unaufhörlich herumwandern, bis sie Gelegenheit und Mittel finde, ihn
zu befreien. Und nun besinnt sich auch plötzlich der Baron, daß seine Gattin
"der nette" weitläufige Geschichten von Zauberern, Feen, Ogcrn und Dämonen
erzählt habe, und was sie auszustehen habe, bis sie den Gatten wiedererlangen
könne. Daraufhin unternimmt dann der Arzt Verazio die Kur, welche eben
die drei letzten Auszüge ausfüllt. Diese "Besessenheit" Lilas tritt ganz uner¬
wartet auf; denn Sophie und Friedrich sprechen zwar am Anfange des Stückes
auch von einer Besessenheit der Kranken, aber diese besteht hier nur darin, daß
Lila ihre Freunde und selbst ihren Mann "für Schattenbilder und von den
Geistern untergeschobene Gestalten hält."*)



*) Man konnte meinen, daß auch dieses ein Zusatz sei; aber ich glaube, daß dann schon
bestimmter auf das Gcfangenschasts- und Wanderungsmotiv hingedeutet worden wäre. Goethe
machte sich ohne Zweifel nicht die Milbe, die Sache so weit zurückzuverfolgen.
Goethes Lila.

ist es auf die Nachwelt gekommen und für diese, soweit sie nicht bloß mit den
Augen liest, ein Rätsel geblieben.

Etwas Widerspruchsvolleres läßt sich auch kaum denken. Im ersten Aufzuge
befinden wir uns in der alltäglichsten, plansten Wirklichkeit, im Saale eines
Gutshauses, unter leibhaftigen Menschen, die über die Gemütskrankheit Lilas
und ihre verschiednen Heiluugsversuche sprechen; im zweite», dritten und vierten
Aufzuge befinden wir uns dagegen in einer Märchenwelt, die zum größten
Teile in einem „rauhen Walde" ihr Wesen treibt; Feen, Dämonen und tanzende
„Gefangene" gehen aus und ein, und Lila spricht wie eine auferstandene Griechin
vom Acheron, vom Nachen des Charon und schwört zu verschiedenen malen
bei den Göttern, was sich doch weder mit der Neuzcitlichleit des ersten Aufzuges,
noch mit der Mittelalterlichkeit der Geister der drei andern Aufzüge vereinbaren
läßt. Obwohl äußerlich der Stil von Anfang bis zu Ende derselbe bleibt, so
ist doch von einem einheitlichen Stil des Vorganges keine Rede, und selbst
die Prüfungen Lilas und was damit zusammenhängt, alle diese Vorgänge
bleiben schattenhaft; und wenn schließlich die Gatten sich wiederfinden, so weiß
man kaum, wie es eigentlich gekommen ist.

Diese Widersprüche und Unklarheiten, mit einem Worte dieses Geheimnis¬
volle, Rätselhafte des Ganzen hängt nun offenbar mit der letzten Umarbeitung
zusammen, bei der das ursprünglich wohl rein medizinische Verfahren gegen
Lila in eine mystische Seelenkur umgewandelt winde. Um aber die hieraus
sich ergebenden wunderbaren Vorgänge zu begründen, mußte auch der erste
Aufzug etwas verändert werden; und diese Veränderungen oder vielmehr Zu¬
sätze lassen sich sehr leicht erkennen. Nachdem nämlich im ersten Aufzuge immer
nur von medizinischen Kuren die Rede gewesen ist, berichtet der aus dem
Pferdestall zurückkehrende Graf Altenstein, daß das Kammermädchen Lilas ihm
soeben verraten habe, daß Lila an einer fixen Idee leide, daß sie glaube, ihr
Gemahl sei nicht tot, sondern werde von bösen Geistern gefangen gehalten, und
sie müsse unaufhörlich herumwandern, bis sie Gelegenheit und Mittel finde, ihn
zu befreien. Und nun besinnt sich auch plötzlich der Baron, daß seine Gattin
„der nette" weitläufige Geschichten von Zauberern, Feen, Ogcrn und Dämonen
erzählt habe, und was sie auszustehen habe, bis sie den Gatten wiedererlangen
könne. Daraufhin unternimmt dann der Arzt Verazio die Kur, welche eben
die drei letzten Auszüge ausfüllt. Diese „Besessenheit" Lilas tritt ganz uner¬
wartet auf; denn Sophie und Friedrich sprechen zwar am Anfange des Stückes
auch von einer Besessenheit der Kranken, aber diese besteht hier nur darin, daß
Lila ihre Freunde und selbst ihren Mann „für Schattenbilder und von den
Geistern untergeschobene Gestalten hält."*)



*) Man konnte meinen, daß auch dieses ein Zusatz sei; aber ich glaube, daß dann schon
bestimmter auf das Gcfangenschasts- und Wanderungsmotiv hingedeutet worden wäre. Goethe
machte sich ohne Zweifel nicht die Milbe, die Sache so weit zurückzuverfolgen.
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[0031] Goethes Lila. ist es auf die Nachwelt gekommen und für diese, soweit sie nicht bloß mit den Augen liest, ein Rätsel geblieben. Etwas Widerspruchsvolleres läßt sich auch kaum denken. Im ersten Aufzuge befinden wir uns in der alltäglichsten, plansten Wirklichkeit, im Saale eines Gutshauses, unter leibhaftigen Menschen, die über die Gemütskrankheit Lilas und ihre verschiednen Heiluugsversuche sprechen; im zweite», dritten und vierten Aufzuge befinden wir uns dagegen in einer Märchenwelt, die zum größten Teile in einem „rauhen Walde" ihr Wesen treibt; Feen, Dämonen und tanzende „Gefangene" gehen aus und ein, und Lila spricht wie eine auferstandene Griechin vom Acheron, vom Nachen des Charon und schwört zu verschiedenen malen bei den Göttern, was sich doch weder mit der Neuzcitlichleit des ersten Aufzuges, noch mit der Mittelalterlichkeit der Geister der drei andern Aufzüge vereinbaren läßt. Obwohl äußerlich der Stil von Anfang bis zu Ende derselbe bleibt, so ist doch von einem einheitlichen Stil des Vorganges keine Rede, und selbst die Prüfungen Lilas und was damit zusammenhängt, alle diese Vorgänge bleiben schattenhaft; und wenn schließlich die Gatten sich wiederfinden, so weiß man kaum, wie es eigentlich gekommen ist. Diese Widersprüche und Unklarheiten, mit einem Worte dieses Geheimnis¬ volle, Rätselhafte des Ganzen hängt nun offenbar mit der letzten Umarbeitung zusammen, bei der das ursprünglich wohl rein medizinische Verfahren gegen Lila in eine mystische Seelenkur umgewandelt winde. Um aber die hieraus sich ergebenden wunderbaren Vorgänge zu begründen, mußte auch der erste Aufzug etwas verändert werden; und diese Veränderungen oder vielmehr Zu¬ sätze lassen sich sehr leicht erkennen. Nachdem nämlich im ersten Aufzuge immer nur von medizinischen Kuren die Rede gewesen ist, berichtet der aus dem Pferdestall zurückkehrende Graf Altenstein, daß das Kammermädchen Lilas ihm soeben verraten habe, daß Lila an einer fixen Idee leide, daß sie glaube, ihr Gemahl sei nicht tot, sondern werde von bösen Geistern gefangen gehalten, und sie müsse unaufhörlich herumwandern, bis sie Gelegenheit und Mittel finde, ihn zu befreien. Und nun besinnt sich auch plötzlich der Baron, daß seine Gattin „der nette" weitläufige Geschichten von Zauberern, Feen, Ogcrn und Dämonen erzählt habe, und was sie auszustehen habe, bis sie den Gatten wiedererlangen könne. Daraufhin unternimmt dann der Arzt Verazio die Kur, welche eben die drei letzten Auszüge ausfüllt. Diese „Besessenheit" Lilas tritt ganz uner¬ wartet auf; denn Sophie und Friedrich sprechen zwar am Anfange des Stückes auch von einer Besessenheit der Kranken, aber diese besteht hier nur darin, daß Lila ihre Freunde und selbst ihren Mann „für Schattenbilder und von den Geistern untergeschobene Gestalten hält."*) *) Man konnte meinen, daß auch dieses ein Zusatz sei; aber ich glaube, daß dann schon bestimmter auf das Gcfangenschasts- und Wanderungsmotiv hingedeutet worden wäre. Goethe machte sich ohne Zweifel nicht die Milbe, die Sache so weit zurückzuverfolgen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/31>, abgerufen am 19.10.2024.