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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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Der Entwicklungsgang des englischen Parlaments.

um den organischen Fehler sichtbar und fühlbar zu machen, welcher sich all¬
mählich im englischen Stciatstorpcr ausgebildet hatte. Dieser Fehler besteht
darin, daß der innere Zusammenhang der alten o0in.nrunitg.dös, der Grafschaften
und Städte, mehr und mehr gelockert worden ist. Vom englischen Selfgovern-
ment kann mau heute nur noch mit Unrecht reden; an Stelleder alten Ehren¬
ämter sind nach und nach Ortsparlamente der Steuerzahler getreten, looÄ
M'1i!uiiont,Z nach dem Ausdruck vou John Stuart Mill, wodurch die persön¬
liche Verpflichtung und Verantwortlichkeit im Kommunalverbände beseitigt und
die Wurzel" des ganzen Baues der Parlamentsverfassnng abgegraben sind; die
alten angesehenen Ämter der Schulzen (eonstMv) u. s. w, sanken zu bloßen
mißachteten Polizeibcdicustnugen herab, welche vou den bessergestellte" Ein¬
wohnern durch Stellvertreter versehen werden; das Kvmmunalwcseu ging durch
die Aufhebung der persönlichen Bürgerpflichten in das System von Aktien¬
gesellschaften über; an Stelle der persönlichen Leistungen der Mitglieder trat
ein kleines besoldetes Beamtentum, welches unter staatlicher Aufsicht steht und
also auch staatlichen Einfluß übt; die Zentralisation ist heute in England so
ziemlich so groß wie in Frankreich, das System der Ministerialkoinmissioncn
und Ministerialerlasse greift immer mehr um sich, alle Welt klagt über das Er¬
löschen des Gemeindegcistes, xN'vörut minni, und die bessern Klassen ziehen
sich vou den kommunalen Ehrenämtern, welche nichts Wichtiges mehr zu thun
haben, allmählich ganz zurück. Mau kann nicht leugne", daß seit der ersten
Parlameutsreform vom Jahre 1832, welche die miniato o1g.88ö8, die Mittelklasse!!,
aus Ruder brachte und die Zahl der Wähler von 400 000 auf etwa 900 000
erhöhte, sehr viel für soziale Reform auf allen Gebieten geschehen ist und schwere
Unterlassungssünden des aristokratischen Englands gut gemacht worden sind; es
ist Unrecht, wenn man das nicht anerkennen will und nicht daran denkt, daß
England z. B. die Aufhebung der Sklaverei mit einem Opfer vou 400 Mil¬
lionen Mark aus Staatsmitteln erkauft hat. Aber diese Fortschritte werden
durch die Zersetzung der alten Grundlage der Parlamentsverfaffung. der vom-
nrumtirkö8, aufgewogen, und mir wenn sich die englische Nation entschließt, die
Grafschaftsvcrfassung umzubilden und die persönlichen Bürgerpflichten im Self-
government herzustellen, d. h. mir wen" sie ein schweres Opfer auf sich
nimmt, das etwa der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht in Deutschland
gleichkommt, nur dann wird England die furchtbaren Krisen überstehen, denen
es langsam, aber sicher entgegengeht. Daß die Engländer das staatliche Pflicht¬
bewußtsein wiederfinden und die verloren gegangenen Grundlagen ihres freien
Staatswesens erneuern werden, das darf man auf Grund der englischen Ge¬
schichte wenigstens hoffen, und sehr wahrscheinlich ist es, daß bei diesem Her¬
stellungsprozesse die englische Monarchie, die so lange nur eine Zierde am
Stacitsbau bildete, wieder zu wirklicher Bedeutung gelaugt wie in den schöpfe¬
rischen Zeiten König Alfreds und der Eduarde.




Der Entwicklungsgang des englischen Parlaments.

um den organischen Fehler sichtbar und fühlbar zu machen, welcher sich all¬
mählich im englischen Stciatstorpcr ausgebildet hatte. Dieser Fehler besteht
darin, daß der innere Zusammenhang der alten o0in.nrunitg.dös, der Grafschaften
und Städte, mehr und mehr gelockert worden ist. Vom englischen Selfgovern-
ment kann mau heute nur noch mit Unrecht reden; an Stelleder alten Ehren¬
ämter sind nach und nach Ortsparlamente der Steuerzahler getreten, looÄ
M'1i!uiiont,Z nach dem Ausdruck vou John Stuart Mill, wodurch die persön¬
liche Verpflichtung und Verantwortlichkeit im Kommunalverbände beseitigt und
die Wurzel» des ganzen Baues der Parlamentsverfassnng abgegraben sind; die
alten angesehenen Ämter der Schulzen (eonstMv) u. s. w, sanken zu bloßen
mißachteten Polizeibcdicustnugen herab, welche vou den bessergestellte» Ein¬
wohnern durch Stellvertreter versehen werden; das Kvmmunalwcseu ging durch
die Aufhebung der persönlichen Bürgerpflichten in das System von Aktien¬
gesellschaften über; an Stelle der persönlichen Leistungen der Mitglieder trat
ein kleines besoldetes Beamtentum, welches unter staatlicher Aufsicht steht und
also auch staatlichen Einfluß übt; die Zentralisation ist heute in England so
ziemlich so groß wie in Frankreich, das System der Ministerialkoinmissioncn
und Ministerialerlasse greift immer mehr um sich, alle Welt klagt über das Er¬
löschen des Gemeindegcistes, xN'vörut minni, und die bessern Klassen ziehen
sich vou den kommunalen Ehrenämtern, welche nichts Wichtiges mehr zu thun
haben, allmählich ganz zurück. Mau kann nicht leugne», daß seit der ersten
Parlameutsreform vom Jahre 1832, welche die miniato o1g.88ö8, die Mittelklasse!!,
aus Ruder brachte und die Zahl der Wähler von 400 000 auf etwa 900 000
erhöhte, sehr viel für soziale Reform auf allen Gebieten geschehen ist und schwere
Unterlassungssünden des aristokratischen Englands gut gemacht worden sind; es
ist Unrecht, wenn man das nicht anerkennen will und nicht daran denkt, daß
England z. B. die Aufhebung der Sklaverei mit einem Opfer vou 400 Mil¬
lionen Mark aus Staatsmitteln erkauft hat. Aber diese Fortschritte werden
durch die Zersetzung der alten Grundlage der Parlamentsverfaffung. der vom-
nrumtirkö8, aufgewogen, und mir wenn sich die englische Nation entschließt, die
Grafschaftsvcrfassung umzubilden und die persönlichen Bürgerpflichten im Self-
government herzustellen, d. h. mir wen» sie ein schweres Opfer auf sich
nimmt, das etwa der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht in Deutschland
gleichkommt, nur dann wird England die furchtbaren Krisen überstehen, denen
es langsam, aber sicher entgegengeht. Daß die Engländer das staatliche Pflicht¬
bewußtsein wiederfinden und die verloren gegangenen Grundlagen ihres freien
Staatswesens erneuern werden, das darf man auf Grund der englischen Ge¬
schichte wenigstens hoffen, und sehr wahrscheinlich ist es, daß bei diesem Her¬
stellungsprozesse die englische Monarchie, die so lange nur eine Zierde am
Stacitsbau bildete, wieder zu wirklicher Bedeutung gelaugt wie in den schöpfe¬
rischen Zeiten König Alfreds und der Eduarde.




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[0029] Der Entwicklungsgang des englischen Parlaments. um den organischen Fehler sichtbar und fühlbar zu machen, welcher sich all¬ mählich im englischen Stciatstorpcr ausgebildet hatte. Dieser Fehler besteht darin, daß der innere Zusammenhang der alten o0in.nrunitg.dös, der Grafschaften und Städte, mehr und mehr gelockert worden ist. Vom englischen Selfgovern- ment kann mau heute nur noch mit Unrecht reden; an Stelleder alten Ehren¬ ämter sind nach und nach Ortsparlamente der Steuerzahler getreten, looÄ M'1i!uiiont,Z nach dem Ausdruck vou John Stuart Mill, wodurch die persön¬ liche Verpflichtung und Verantwortlichkeit im Kommunalverbände beseitigt und die Wurzel» des ganzen Baues der Parlamentsverfassnng abgegraben sind; die alten angesehenen Ämter der Schulzen (eonstMv) u. s. w, sanken zu bloßen mißachteten Polizeibcdicustnugen herab, welche vou den bessergestellte» Ein¬ wohnern durch Stellvertreter versehen werden; das Kvmmunalwcseu ging durch die Aufhebung der persönlichen Bürgerpflichten in das System von Aktien¬ gesellschaften über; an Stelle der persönlichen Leistungen der Mitglieder trat ein kleines besoldetes Beamtentum, welches unter staatlicher Aufsicht steht und also auch staatlichen Einfluß übt; die Zentralisation ist heute in England so ziemlich so groß wie in Frankreich, das System der Ministerialkoinmissioncn und Ministerialerlasse greift immer mehr um sich, alle Welt klagt über das Er¬ löschen des Gemeindegcistes, xN'vörut minni, und die bessern Klassen ziehen sich vou den kommunalen Ehrenämtern, welche nichts Wichtiges mehr zu thun haben, allmählich ganz zurück. Mau kann nicht leugne», daß seit der ersten Parlameutsreform vom Jahre 1832, welche die miniato o1g.88ö8, die Mittelklasse!!, aus Ruder brachte und die Zahl der Wähler von 400 000 auf etwa 900 000 erhöhte, sehr viel für soziale Reform auf allen Gebieten geschehen ist und schwere Unterlassungssünden des aristokratischen Englands gut gemacht worden sind; es ist Unrecht, wenn man das nicht anerkennen will und nicht daran denkt, daß England z. B. die Aufhebung der Sklaverei mit einem Opfer vou 400 Mil¬ lionen Mark aus Staatsmitteln erkauft hat. Aber diese Fortschritte werden durch die Zersetzung der alten Grundlage der Parlamentsverfaffung. der vom- nrumtirkö8, aufgewogen, und mir wenn sich die englische Nation entschließt, die Grafschaftsvcrfassung umzubilden und die persönlichen Bürgerpflichten im Self- government herzustellen, d. h. mir wen» sie ein schweres Opfer auf sich nimmt, das etwa der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht in Deutschland gleichkommt, nur dann wird England die furchtbaren Krisen überstehen, denen es langsam, aber sicher entgegengeht. Daß die Engländer das staatliche Pflicht¬ bewußtsein wiederfinden und die verloren gegangenen Grundlagen ihres freien Staatswesens erneuern werden, das darf man auf Grund der englischen Ge¬ schichte wenigstens hoffen, und sehr wahrscheinlich ist es, daß bei diesem Her¬ stellungsprozesse die englische Monarchie, die so lange nur eine Zierde am Stacitsbau bildete, wieder zu wirklicher Bedeutung gelaugt wie in den schöpfe¬ rischen Zeiten König Alfreds und der Eduarde.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/29>, abgerufen am 19.10.2024.