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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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Germanische Altertümer aus den Bauerdörfern Nordungarns.

Übergängen und Umwälzungen untrennbaren Verlegenheiten und Notstände auf
das verhängnisvollste in die Hände arbeiteten. Ein Teil der Haudörfer, unter
ihnen Krickerhäu, war früher vor dieser Plage geschützt durch die Privilegien
von Kremnitz, welche den Juden die Niederlassung vier Meilen im Umkreise der
Stadt untersagten, Auch nach der Abschaffung dieses "mittelalterlichen Zopfes"
gelang es dem Vater Wolcmds, der zugleich Richter und Notar im Orte war,
durch seinen Einfluß die Juden bis an sein Lebensende fernzuhalten. Heute,
nach verhältnismäßig kurzer Frist, ist die Bevölkerung schon so in den Händen
des Gencralgewaltigeu, daß der Bauer, wie mir versichert worden ist, es nicht
mehr wagen darf, sein Vieh an einen andern zu verkaufen, auch wenn dieser
einen doppelt so hohen Preis bietet.

Die Krickcrhäuer können sich übrigens damit trösten, daß sie mit den übrigen
Ungarn in derselben Verdammnis sind. Seit den letzten Jahrzehnten haben die
Juden in immer helleren Haufen das flache Land überzogen, und überall sinkt
der Wohlstand der Bauern vor ihnen dahin in den Staub. Es ist nachgerade
ein allgemeiner Erfahrungssatz, daß, sobald der Jude sein Gewölbe, seinen
Schnapsladen im Dorfe aufgeschlagen hat, der Bauer verloren ist. Das weiß
auch der Bauer ganz genau, er weiß, daß seine menschlichen Schwächen, Be¬
dürfnisse, Leidenschaften stärker sind als seine Willenskraft, und daß sie ihn
mit gebundenen Händen früher oder später dem Juden ausliefern, der nnr
eine Schwäche hat, das Geld, ein Bedürfnis, das Sparen, eine Leidenschaft,
die Spekulation. Der Bauer ist hier in dem bekannten Falle des Vogels ans
dem Ast, der wider seineu Willen magisch von dem Auge der Schlange gefesselt
wird. Auch der Vogel braucht nur seine Flügel zu rühren, ein Aufschwung --
so ist er gerettet. Warum ist der Vogel so dumm, warum braucht er nicht
seine Schwingen? fragen wir mit der Doktrin. Das einzige Mittel des Vogels
ist, dem Auge der Schlange fern zu bleiben, die einzige Rettung des Bauern,
die Ansiedlung der Juden um jeden Preis zu hintertreiben. Das haben denn
die Bauern in der That mehrfach versucht, und zwar auf verschiednen Wegen.
Natürlich vermag der Einzelne hierbei nichts, es bedarf einer allgemeinen Einigung,
einer Verschwörung, die von der Doktrin, wenn sie zum Regiment käme, als
gänzlich unsittlich und den obersten Prinzipien, zumal dem der Freizügigkeit,
zuwider, mit schwerer Ahndung belegt werden würde. Das Einfachste und
Sicherste ist, dem Juden überhaupt kein Lokal zu vermieten, aber dazu gehört,
daß sich in der ganzen Gemeinde kein einziges räudiges Schaf findet, es ist
deshalb schwieriger anzuwenden, auch kann man ihn nicht immer hindern, sich
anzubauen. Aber man kann ihn boyeottcn!

In einem Dorfe der kroatische,: Militärgrenze verbreitete sich das Gerücht,
ein Jude sei im Anzüge, und die erschreckten Bewohner, verstört wie ein
Hühnerhof, über dem der Geier seine Kreise zieht, eilten zu ihrem geistlichen, in
jenen Gegenden auch weltlicher Berater, dem Pfarrer. "Laßt ihn ruhig ge-


Germanische Altertümer aus den Bauerdörfern Nordungarns.

Übergängen und Umwälzungen untrennbaren Verlegenheiten und Notstände auf
das verhängnisvollste in die Hände arbeiteten. Ein Teil der Haudörfer, unter
ihnen Krickerhäu, war früher vor dieser Plage geschützt durch die Privilegien
von Kremnitz, welche den Juden die Niederlassung vier Meilen im Umkreise der
Stadt untersagten, Auch nach der Abschaffung dieses „mittelalterlichen Zopfes"
gelang es dem Vater Wolcmds, der zugleich Richter und Notar im Orte war,
durch seinen Einfluß die Juden bis an sein Lebensende fernzuhalten. Heute,
nach verhältnismäßig kurzer Frist, ist die Bevölkerung schon so in den Händen
des Gencralgewaltigeu, daß der Bauer, wie mir versichert worden ist, es nicht
mehr wagen darf, sein Vieh an einen andern zu verkaufen, auch wenn dieser
einen doppelt so hohen Preis bietet.

Die Krickcrhäuer können sich übrigens damit trösten, daß sie mit den übrigen
Ungarn in derselben Verdammnis sind. Seit den letzten Jahrzehnten haben die
Juden in immer helleren Haufen das flache Land überzogen, und überall sinkt
der Wohlstand der Bauern vor ihnen dahin in den Staub. Es ist nachgerade
ein allgemeiner Erfahrungssatz, daß, sobald der Jude sein Gewölbe, seinen
Schnapsladen im Dorfe aufgeschlagen hat, der Bauer verloren ist. Das weiß
auch der Bauer ganz genau, er weiß, daß seine menschlichen Schwächen, Be¬
dürfnisse, Leidenschaften stärker sind als seine Willenskraft, und daß sie ihn
mit gebundenen Händen früher oder später dem Juden ausliefern, der nnr
eine Schwäche hat, das Geld, ein Bedürfnis, das Sparen, eine Leidenschaft,
die Spekulation. Der Bauer ist hier in dem bekannten Falle des Vogels ans
dem Ast, der wider seineu Willen magisch von dem Auge der Schlange gefesselt
wird. Auch der Vogel braucht nur seine Flügel zu rühren, ein Aufschwung —
so ist er gerettet. Warum ist der Vogel so dumm, warum braucht er nicht
seine Schwingen? fragen wir mit der Doktrin. Das einzige Mittel des Vogels
ist, dem Auge der Schlange fern zu bleiben, die einzige Rettung des Bauern,
die Ansiedlung der Juden um jeden Preis zu hintertreiben. Das haben denn
die Bauern in der That mehrfach versucht, und zwar auf verschiednen Wegen.
Natürlich vermag der Einzelne hierbei nichts, es bedarf einer allgemeinen Einigung,
einer Verschwörung, die von der Doktrin, wenn sie zum Regiment käme, als
gänzlich unsittlich und den obersten Prinzipien, zumal dem der Freizügigkeit,
zuwider, mit schwerer Ahndung belegt werden würde. Das Einfachste und
Sicherste ist, dem Juden überhaupt kein Lokal zu vermieten, aber dazu gehört,
daß sich in der ganzen Gemeinde kein einziges räudiges Schaf findet, es ist
deshalb schwieriger anzuwenden, auch kann man ihn nicht immer hindern, sich
anzubauen. Aber man kann ihn boyeottcn!

In einem Dorfe der kroatische,: Militärgrenze verbreitete sich das Gerücht,
ein Jude sei im Anzüge, und die erschreckten Bewohner, verstört wie ein
Hühnerhof, über dem der Geier seine Kreise zieht, eilten zu ihrem geistlichen, in
jenen Gegenden auch weltlicher Berater, dem Pfarrer. „Laßt ihn ruhig ge-


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[0272] Germanische Altertümer aus den Bauerdörfern Nordungarns. Übergängen und Umwälzungen untrennbaren Verlegenheiten und Notstände auf das verhängnisvollste in die Hände arbeiteten. Ein Teil der Haudörfer, unter ihnen Krickerhäu, war früher vor dieser Plage geschützt durch die Privilegien von Kremnitz, welche den Juden die Niederlassung vier Meilen im Umkreise der Stadt untersagten, Auch nach der Abschaffung dieses „mittelalterlichen Zopfes" gelang es dem Vater Wolcmds, der zugleich Richter und Notar im Orte war, durch seinen Einfluß die Juden bis an sein Lebensende fernzuhalten. Heute, nach verhältnismäßig kurzer Frist, ist die Bevölkerung schon so in den Händen des Gencralgewaltigeu, daß der Bauer, wie mir versichert worden ist, es nicht mehr wagen darf, sein Vieh an einen andern zu verkaufen, auch wenn dieser einen doppelt so hohen Preis bietet. Die Krickcrhäuer können sich übrigens damit trösten, daß sie mit den übrigen Ungarn in derselben Verdammnis sind. Seit den letzten Jahrzehnten haben die Juden in immer helleren Haufen das flache Land überzogen, und überall sinkt der Wohlstand der Bauern vor ihnen dahin in den Staub. Es ist nachgerade ein allgemeiner Erfahrungssatz, daß, sobald der Jude sein Gewölbe, seinen Schnapsladen im Dorfe aufgeschlagen hat, der Bauer verloren ist. Das weiß auch der Bauer ganz genau, er weiß, daß seine menschlichen Schwächen, Be¬ dürfnisse, Leidenschaften stärker sind als seine Willenskraft, und daß sie ihn mit gebundenen Händen früher oder später dem Juden ausliefern, der nnr eine Schwäche hat, das Geld, ein Bedürfnis, das Sparen, eine Leidenschaft, die Spekulation. Der Bauer ist hier in dem bekannten Falle des Vogels ans dem Ast, der wider seineu Willen magisch von dem Auge der Schlange gefesselt wird. Auch der Vogel braucht nur seine Flügel zu rühren, ein Aufschwung — so ist er gerettet. Warum ist der Vogel so dumm, warum braucht er nicht seine Schwingen? fragen wir mit der Doktrin. Das einzige Mittel des Vogels ist, dem Auge der Schlange fern zu bleiben, die einzige Rettung des Bauern, die Ansiedlung der Juden um jeden Preis zu hintertreiben. Das haben denn die Bauern in der That mehrfach versucht, und zwar auf verschiednen Wegen. Natürlich vermag der Einzelne hierbei nichts, es bedarf einer allgemeinen Einigung, einer Verschwörung, die von der Doktrin, wenn sie zum Regiment käme, als gänzlich unsittlich und den obersten Prinzipien, zumal dem der Freizügigkeit, zuwider, mit schwerer Ahndung belegt werden würde. Das Einfachste und Sicherste ist, dem Juden überhaupt kein Lokal zu vermieten, aber dazu gehört, daß sich in der ganzen Gemeinde kein einziges räudiges Schaf findet, es ist deshalb schwieriger anzuwenden, auch kann man ihn nicht immer hindern, sich anzubauen. Aber man kann ihn boyeottcn! In einem Dorfe der kroatische,: Militärgrenze verbreitete sich das Gerücht, ein Jude sei im Anzüge, und die erschreckten Bewohner, verstört wie ein Hühnerhof, über dem der Geier seine Kreise zieht, eilten zu ihrem geistlichen, in jenen Gegenden auch weltlicher Berater, dem Pfarrer. „Laßt ihn ruhig ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/272>, abgerufen am 20.10.2024.