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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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Der Entwicklungsgang des englischen Parlaments.

scheimmg gemacht; es war allmählich ein neues insulares Volkstum entstanden
mit ganz überwiegend angelsächsischem Gepräge: wie oft ist von sprachkundiger
Seite hervorgehoben worden, daß das verwälschte Normannentum trotz seiner
Jahrhunderte hindurch hervorragenden gesellschaftlichen Stellung in die heutige
englische Sprache nicht ein Zehntel seiner Wörter, in das englische Vaterunser
nur drei Worte einzuführen vermocht hat. Die ganze Vasallenschaft erhob sich
1215 gegen den erbärmlichen König, und unter zweitausend Rittern, welche auf
Ostern zu Stauford sich versammelten, begegnet lehrrcicherweise kaum ein Name
aus den im ersten Jahrhundert nach der Eroberung hervorragenden normannischen
Familien, wohl aber zahlreiche Barone aus den nördlichen Grafschaften und
besonders viele Angehörige des seit Heinrich I. in den Großämtern empor-
gekommenen Amtsadels. Die Prälaten unter Führung des Primas Stephan
Langton, eines Mannes von festem, reinem Charakter, und die Bürgerschaft
von London schließen sich an den Adel an, und so wird der König gezwungen,
auf der Wiese von Runnimede vom 15. bis zum 19. Juni 1215 über Frieden
zu verhandeln und seine Unterschrift unter die Niigvu. etmrtÄ zu setzen. Es
ist erstaunlich, wie wenig diese Verfassung, welche die einzelnen Stände vor
königlicher Willkür schützen soll, an eigentlich parlamentarischen Rechten enthält;
kein Zustimmungsrecht zum Erlaß königlicher Verordnungen, keines zur Aus¬
schreibung von Steuern, keine Zusicherung periodischer Versammlungen zur Ver¬
handlung vou Laudesbeschwerdeu, sondern nur ein Versprechen, daß bei zwei
positiven Abänderungen der rechtlichen Bedingungen des Lchnbesitzes die Kron-
vasallenschaft versammelt und gehört werden und ihre Zustimmung geben soll;
diese zwei Fälle sind erstlich Geldfordernng statt Kriegsdienst, zweitens außer¬
ordentliche Erhebung von Hilfsgeldern. Mehr als dies hat die englische Va¬
sallenschaft in Waffen, verbunden mit der Kirche, getragen von der lauten
Sympathie des Landes, auf dem Höhepunkte ihrer Erfolge nicht beansprucht!
Im 61. Artikel der NaZna, Olurrts wurde zwar ein Widerstandsausschnß für
den Fall bestellt, daß der König sich von der Verfassung sollte losmachen
wollen, und fünfundzwanzig Barone, unter ihnen bezeichnenderweise der Mayor
von London, wurden ermächtigt, nötigenfalls den König durch Auspfändung
und Wegnahme seiner Burgen zur Einhaltung seiner Pflicht zu zwingen; aber
dieser Artikel, auf Grund dessen der Ausschuß 1216 einen französischen Prinzen
gegen Johann herbeirief, wurde schnell unpopulär und deshalb auf dem
"Concilium" zu Bristol uuter Heinrich III. bald wieder fallen gelassen. Die
NÄg'im Olmrta enthält demnach an formellen Verfassungsrechten überraschend
wenig; aber sie enthält dafür bereits die größten Züge der englischen Staats¬
entwicklung; sie sichert allen Engländern gleichmäßigen Rechtsschutz für Person
und Vermögen zu und gründet darauf die Verfassung; es liegt darin, daß dieser
Schutz alleu ohne Ausnahme zu Gute kommen soll, ein Pfand für die Versöhnung
der Stände; die höheren Klassen haben das Gefühl, daß sie auf die Dauer keine


Der Entwicklungsgang des englischen Parlaments.

scheimmg gemacht; es war allmählich ein neues insulares Volkstum entstanden
mit ganz überwiegend angelsächsischem Gepräge: wie oft ist von sprachkundiger
Seite hervorgehoben worden, daß das verwälschte Normannentum trotz seiner
Jahrhunderte hindurch hervorragenden gesellschaftlichen Stellung in die heutige
englische Sprache nicht ein Zehntel seiner Wörter, in das englische Vaterunser
nur drei Worte einzuführen vermocht hat. Die ganze Vasallenschaft erhob sich
1215 gegen den erbärmlichen König, und unter zweitausend Rittern, welche auf
Ostern zu Stauford sich versammelten, begegnet lehrrcicherweise kaum ein Name
aus den im ersten Jahrhundert nach der Eroberung hervorragenden normannischen
Familien, wohl aber zahlreiche Barone aus den nördlichen Grafschaften und
besonders viele Angehörige des seit Heinrich I. in den Großämtern empor-
gekommenen Amtsadels. Die Prälaten unter Führung des Primas Stephan
Langton, eines Mannes von festem, reinem Charakter, und die Bürgerschaft
von London schließen sich an den Adel an, und so wird der König gezwungen,
auf der Wiese von Runnimede vom 15. bis zum 19. Juni 1215 über Frieden
zu verhandeln und seine Unterschrift unter die Niigvu. etmrtÄ zu setzen. Es
ist erstaunlich, wie wenig diese Verfassung, welche die einzelnen Stände vor
königlicher Willkür schützen soll, an eigentlich parlamentarischen Rechten enthält;
kein Zustimmungsrecht zum Erlaß königlicher Verordnungen, keines zur Aus¬
schreibung von Steuern, keine Zusicherung periodischer Versammlungen zur Ver¬
handlung vou Laudesbeschwerdeu, sondern nur ein Versprechen, daß bei zwei
positiven Abänderungen der rechtlichen Bedingungen des Lchnbesitzes die Kron-
vasallenschaft versammelt und gehört werden und ihre Zustimmung geben soll;
diese zwei Fälle sind erstlich Geldfordernng statt Kriegsdienst, zweitens außer¬
ordentliche Erhebung von Hilfsgeldern. Mehr als dies hat die englische Va¬
sallenschaft in Waffen, verbunden mit der Kirche, getragen von der lauten
Sympathie des Landes, auf dem Höhepunkte ihrer Erfolge nicht beansprucht!
Im 61. Artikel der NaZna, Olurrts wurde zwar ein Widerstandsausschnß für
den Fall bestellt, daß der König sich von der Verfassung sollte losmachen
wollen, und fünfundzwanzig Barone, unter ihnen bezeichnenderweise der Mayor
von London, wurden ermächtigt, nötigenfalls den König durch Auspfändung
und Wegnahme seiner Burgen zur Einhaltung seiner Pflicht zu zwingen; aber
dieser Artikel, auf Grund dessen der Ausschuß 1216 einen französischen Prinzen
gegen Johann herbeirief, wurde schnell unpopulär und deshalb auf dem
„Concilium" zu Bristol uuter Heinrich III. bald wieder fallen gelassen. Die
NÄg'im Olmrta enthält demnach an formellen Verfassungsrechten überraschend
wenig; aber sie enthält dafür bereits die größten Züge der englischen Staats¬
entwicklung; sie sichert allen Engländern gleichmäßigen Rechtsschutz für Person
und Vermögen zu und gründet darauf die Verfassung; es liegt darin, daß dieser
Schutz alleu ohne Ausnahme zu Gute kommen soll, ein Pfand für die Versöhnung
der Stände; die höheren Klassen haben das Gefühl, daß sie auf die Dauer keine


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[0024] Der Entwicklungsgang des englischen Parlaments. scheimmg gemacht; es war allmählich ein neues insulares Volkstum entstanden mit ganz überwiegend angelsächsischem Gepräge: wie oft ist von sprachkundiger Seite hervorgehoben worden, daß das verwälschte Normannentum trotz seiner Jahrhunderte hindurch hervorragenden gesellschaftlichen Stellung in die heutige englische Sprache nicht ein Zehntel seiner Wörter, in das englische Vaterunser nur drei Worte einzuführen vermocht hat. Die ganze Vasallenschaft erhob sich 1215 gegen den erbärmlichen König, und unter zweitausend Rittern, welche auf Ostern zu Stauford sich versammelten, begegnet lehrrcicherweise kaum ein Name aus den im ersten Jahrhundert nach der Eroberung hervorragenden normannischen Familien, wohl aber zahlreiche Barone aus den nördlichen Grafschaften und besonders viele Angehörige des seit Heinrich I. in den Großämtern empor- gekommenen Amtsadels. Die Prälaten unter Führung des Primas Stephan Langton, eines Mannes von festem, reinem Charakter, und die Bürgerschaft von London schließen sich an den Adel an, und so wird der König gezwungen, auf der Wiese von Runnimede vom 15. bis zum 19. Juni 1215 über Frieden zu verhandeln und seine Unterschrift unter die Niigvu. etmrtÄ zu setzen. Es ist erstaunlich, wie wenig diese Verfassung, welche die einzelnen Stände vor königlicher Willkür schützen soll, an eigentlich parlamentarischen Rechten enthält; kein Zustimmungsrecht zum Erlaß königlicher Verordnungen, keines zur Aus¬ schreibung von Steuern, keine Zusicherung periodischer Versammlungen zur Ver¬ handlung vou Laudesbeschwerdeu, sondern nur ein Versprechen, daß bei zwei positiven Abänderungen der rechtlichen Bedingungen des Lchnbesitzes die Kron- vasallenschaft versammelt und gehört werden und ihre Zustimmung geben soll; diese zwei Fälle sind erstlich Geldfordernng statt Kriegsdienst, zweitens außer¬ ordentliche Erhebung von Hilfsgeldern. Mehr als dies hat die englische Va¬ sallenschaft in Waffen, verbunden mit der Kirche, getragen von der lauten Sympathie des Landes, auf dem Höhepunkte ihrer Erfolge nicht beansprucht! Im 61. Artikel der NaZna, Olurrts wurde zwar ein Widerstandsausschnß für den Fall bestellt, daß der König sich von der Verfassung sollte losmachen wollen, und fünfundzwanzig Barone, unter ihnen bezeichnenderweise der Mayor von London, wurden ermächtigt, nötigenfalls den König durch Auspfändung und Wegnahme seiner Burgen zur Einhaltung seiner Pflicht zu zwingen; aber dieser Artikel, auf Grund dessen der Ausschuß 1216 einen französischen Prinzen gegen Johann herbeirief, wurde schnell unpopulär und deshalb auf dem „Concilium" zu Bristol uuter Heinrich III. bald wieder fallen gelassen. Die NÄg'im Olmrta enthält demnach an formellen Verfassungsrechten überraschend wenig; aber sie enthält dafür bereits die größten Züge der englischen Staats¬ entwicklung; sie sichert allen Engländern gleichmäßigen Rechtsschutz für Person und Vermögen zu und gründet darauf die Verfassung; es liegt darin, daß dieser Schutz alleu ohne Ausnahme zu Gute kommen soll, ein Pfand für die Versöhnung der Stände; die höheren Klassen haben das Gefühl, daß sie auf die Dauer keine

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/24>, abgerufen am 19.10.2024.