Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Der Entwicklungsgang dos englischen Parlaments.

der Kron- und Untervasallen befähigt, nach eignem Ermessen Krieg anzufangen
oder Frieden abzuschließen, während früher hierzu ein Beschluß der Landes¬
versammlung erforderlich gewesen war. An Stelle der Landesversammlung
treten periodische Hoffeste an den drei großen christlichen Festtagen, aber mit
ganz verändertem Charakter; die Nvrmannenkönige regieren das Land durch
Kabinetsbefehl und Gnadenbriefc, ohne ihren Mannen (vMonos) einen andern
Einfluß zu gestatten als in widerrufliche!? Ämtern und Kommissionen. Es giebt
in der That im ersten Jahrhundert der Normannenhcrrschaft keine Gesetze, die
aus der freien Beratung von Ständen hervorgegangen wären; die sogenannten
"Gesetze" dieser Zeit sind Proklamationen, Charten, Amtsanweisungen, wie schon
der Stil ergiebt: überall heißt es kurz und gut: Der König will, befiehlt, ver¬
ordnet. Das ständische Wesen ist nicht vollständig erloschen, aber es fristet nur
ein Scheindasein; die Stände sinken zu beratenden Hoflager und Notabeln-
versammlungen herab. Gefördert wurden die Rechte der Könige namentlich auch
durch den Gegensatz der beiden Elemente des Volkes, der eingebornen ^.ngli und
der eingedrungenen Vranoigsriie; wenn auch den Proklamationen Wilhelms I.
nach beide Stämme gleichberechtigt sein sollten, so betrachteten sich die sieg¬
reichen Z?rM(zig'orÄö doch thatsächlich als die Herren, und da sie die Grvß-
vasallenschaft ausmachten, so fehlte es ihnen an einem festen Halt nach unten
in der angelsächsischen Bevölkerung, wie dieser anderseits es an führenden Männern
in der Umgebung des Königs gebrach. Wenn also Allen im 35. Bande der
HäwdurBr Roviöv behauptet hat: "Der Name und wahrscheinlich auch die Zu¬
sammensetzung der angelsächsischen Reichsversammlung wurde bei Ankunft der
Normannen geändert; ihre Thätigkeit aber blieb dieselbe und setzt sich ins
heutige Parlament fort," so ist diese aus parlamentarischem Übereifer gemachte
Behauptung ersichtlich falsch; vielmehr mußte sich als Ersatz für die gesetz¬
gebenden Magnatenversammlnngen später in völlig neuer Weise eine parlamen¬
tarische Körperschaft bilden, da selbst die alten Hoffeste seit 1139, unter der
Negierung des leichtsinnigen Stephan, allmählich verschwunden sind.

Über hundert Jahre hatte die Herrschaft der Normannenkönige gedauert,
bis ihre Gewalt einen ersten harten Stoß erlitt. König Heinrich III. sah sich
genötigt, in dem mit Thomas a Wecket und weiterhin mit Papst Alexander III.
geführten Kircheustreit am Ende nachzugeben (1171) und auf einige seither von
der Krone geübte Rechte zu verzichten. Die damit in das System der absoluten
Krongewalt gelegte Bresche konnte nie mehr geschlossen werden, und als König
Johann ein in jedem Betracht abscheuliches und schädliches Regiment führte,
kam es zu einer allgemeinen Erhebung, welche dadurch unwiderstehlich wurde,
daß sie von einer einheitlich gewordenen Nation ausging. Fünf Geschlechter
hatten jetzt unter einer Kirche, einem Königtum, einem Verwaltungssystem in
gleichem Frieden und gleichem Druck miteinander gelebt; das Gemeindeleben
hatte die Verheiratungen der ^.ngli und I'iMoigor^o zu einer täglichen Er-


Der Entwicklungsgang dos englischen Parlaments.

der Kron- und Untervasallen befähigt, nach eignem Ermessen Krieg anzufangen
oder Frieden abzuschließen, während früher hierzu ein Beschluß der Landes¬
versammlung erforderlich gewesen war. An Stelle der Landesversammlung
treten periodische Hoffeste an den drei großen christlichen Festtagen, aber mit
ganz verändertem Charakter; die Nvrmannenkönige regieren das Land durch
Kabinetsbefehl und Gnadenbriefc, ohne ihren Mannen (vMonos) einen andern
Einfluß zu gestatten als in widerrufliche!? Ämtern und Kommissionen. Es giebt
in der That im ersten Jahrhundert der Normannenhcrrschaft keine Gesetze, die
aus der freien Beratung von Ständen hervorgegangen wären; die sogenannten
„Gesetze" dieser Zeit sind Proklamationen, Charten, Amtsanweisungen, wie schon
der Stil ergiebt: überall heißt es kurz und gut: Der König will, befiehlt, ver¬
ordnet. Das ständische Wesen ist nicht vollständig erloschen, aber es fristet nur
ein Scheindasein; die Stände sinken zu beratenden Hoflager und Notabeln-
versammlungen herab. Gefördert wurden die Rechte der Könige namentlich auch
durch den Gegensatz der beiden Elemente des Volkes, der eingebornen ^.ngli und
der eingedrungenen Vranoigsriie; wenn auch den Proklamationen Wilhelms I.
nach beide Stämme gleichberechtigt sein sollten, so betrachteten sich die sieg¬
reichen Z?rM(zig'orÄö doch thatsächlich als die Herren, und da sie die Grvß-
vasallenschaft ausmachten, so fehlte es ihnen an einem festen Halt nach unten
in der angelsächsischen Bevölkerung, wie dieser anderseits es an führenden Männern
in der Umgebung des Königs gebrach. Wenn also Allen im 35. Bande der
HäwdurBr Roviöv behauptet hat: „Der Name und wahrscheinlich auch die Zu¬
sammensetzung der angelsächsischen Reichsversammlung wurde bei Ankunft der
Normannen geändert; ihre Thätigkeit aber blieb dieselbe und setzt sich ins
heutige Parlament fort," so ist diese aus parlamentarischem Übereifer gemachte
Behauptung ersichtlich falsch; vielmehr mußte sich als Ersatz für die gesetz¬
gebenden Magnatenversammlnngen später in völlig neuer Weise eine parlamen¬
tarische Körperschaft bilden, da selbst die alten Hoffeste seit 1139, unter der
Negierung des leichtsinnigen Stephan, allmählich verschwunden sind.

Über hundert Jahre hatte die Herrschaft der Normannenkönige gedauert,
bis ihre Gewalt einen ersten harten Stoß erlitt. König Heinrich III. sah sich
genötigt, in dem mit Thomas a Wecket und weiterhin mit Papst Alexander III.
geführten Kircheustreit am Ende nachzugeben (1171) und auf einige seither von
der Krone geübte Rechte zu verzichten. Die damit in das System der absoluten
Krongewalt gelegte Bresche konnte nie mehr geschlossen werden, und als König
Johann ein in jedem Betracht abscheuliches und schädliches Regiment führte,
kam es zu einer allgemeinen Erhebung, welche dadurch unwiderstehlich wurde,
daß sie von einer einheitlich gewordenen Nation ausging. Fünf Geschlechter
hatten jetzt unter einer Kirche, einem Königtum, einem Verwaltungssystem in
gleichem Frieden und gleichem Druck miteinander gelebt; das Gemeindeleben
hatte die Verheiratungen der ^.ngli und I'iMoigor^o zu einer täglichen Er-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0023" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/199377"/>
          <fw type="header" place="top"> Der Entwicklungsgang dos englischen Parlaments.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_37" prev="#ID_36"> der Kron- und Untervasallen befähigt, nach eignem Ermessen Krieg anzufangen<lb/>
oder Frieden abzuschließen, während früher hierzu ein Beschluß der Landes¬<lb/>
versammlung erforderlich gewesen war. An Stelle der Landesversammlung<lb/>
treten periodische Hoffeste an den drei großen christlichen Festtagen, aber mit<lb/>
ganz verändertem Charakter; die Nvrmannenkönige regieren das Land durch<lb/>
Kabinetsbefehl und Gnadenbriefc, ohne ihren Mannen (vMonos) einen andern<lb/>
Einfluß zu gestatten als in widerrufliche!? Ämtern und Kommissionen. Es giebt<lb/>
in der That im ersten Jahrhundert der Normannenhcrrschaft keine Gesetze, die<lb/>
aus der freien Beratung von Ständen hervorgegangen wären; die sogenannten<lb/>
&#x201E;Gesetze" dieser Zeit sind Proklamationen, Charten, Amtsanweisungen, wie schon<lb/>
der Stil ergiebt: überall heißt es kurz und gut: Der König will, befiehlt, ver¬<lb/>
ordnet. Das ständische Wesen ist nicht vollständig erloschen, aber es fristet nur<lb/>
ein Scheindasein; die Stände sinken zu beratenden Hoflager und Notabeln-<lb/>
versammlungen herab. Gefördert wurden die Rechte der Könige namentlich auch<lb/>
durch den Gegensatz der beiden Elemente des Volkes, der eingebornen ^.ngli und<lb/>
der eingedrungenen Vranoigsriie; wenn auch den Proklamationen Wilhelms I.<lb/>
nach beide Stämme gleichberechtigt sein sollten, so betrachteten sich die sieg¬<lb/>
reichen Z?rM(zig'orÄö doch thatsächlich als die Herren, und da sie die Grvß-<lb/>
vasallenschaft ausmachten, so fehlte es ihnen an einem festen Halt nach unten<lb/>
in der angelsächsischen Bevölkerung, wie dieser anderseits es an führenden Männern<lb/>
in der Umgebung des Königs gebrach. Wenn also Allen im 35. Bande der<lb/>
HäwdurBr Roviöv behauptet hat: &#x201E;Der Name und wahrscheinlich auch die Zu¬<lb/>
sammensetzung der angelsächsischen Reichsversammlung wurde bei Ankunft der<lb/>
Normannen geändert; ihre Thätigkeit aber blieb dieselbe und setzt sich ins<lb/>
heutige Parlament fort," so ist diese aus parlamentarischem Übereifer gemachte<lb/>
Behauptung ersichtlich falsch; vielmehr mußte sich als Ersatz für die gesetz¬<lb/>
gebenden Magnatenversammlnngen später in völlig neuer Weise eine parlamen¬<lb/>
tarische Körperschaft bilden, da selbst die alten Hoffeste seit 1139, unter der<lb/>
Negierung des leichtsinnigen Stephan, allmählich verschwunden sind.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_38" next="#ID_39"> Über hundert Jahre hatte die Herrschaft der Normannenkönige gedauert,<lb/>
bis ihre Gewalt einen ersten harten Stoß erlitt. König Heinrich III. sah sich<lb/>
genötigt, in dem mit Thomas a Wecket und weiterhin mit Papst Alexander III.<lb/>
geführten Kircheustreit am Ende nachzugeben (1171) und auf einige seither von<lb/>
der Krone geübte Rechte zu verzichten. Die damit in das System der absoluten<lb/>
Krongewalt gelegte Bresche konnte nie mehr geschlossen werden, und als König<lb/>
Johann ein in jedem Betracht abscheuliches und schädliches Regiment führte,<lb/>
kam es zu einer allgemeinen Erhebung, welche dadurch unwiderstehlich wurde,<lb/>
daß sie von einer einheitlich gewordenen Nation ausging. Fünf Geschlechter<lb/>
hatten jetzt unter einer Kirche, einem Königtum, einem Verwaltungssystem in<lb/>
gleichem Frieden und gleichem Druck miteinander gelebt; das Gemeindeleben<lb/>
hatte die Verheiratungen der ^.ngli und I'iMoigor^o zu einer täglichen Er-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0023] Der Entwicklungsgang dos englischen Parlaments. der Kron- und Untervasallen befähigt, nach eignem Ermessen Krieg anzufangen oder Frieden abzuschließen, während früher hierzu ein Beschluß der Landes¬ versammlung erforderlich gewesen war. An Stelle der Landesversammlung treten periodische Hoffeste an den drei großen christlichen Festtagen, aber mit ganz verändertem Charakter; die Nvrmannenkönige regieren das Land durch Kabinetsbefehl und Gnadenbriefc, ohne ihren Mannen (vMonos) einen andern Einfluß zu gestatten als in widerrufliche!? Ämtern und Kommissionen. Es giebt in der That im ersten Jahrhundert der Normannenhcrrschaft keine Gesetze, die aus der freien Beratung von Ständen hervorgegangen wären; die sogenannten „Gesetze" dieser Zeit sind Proklamationen, Charten, Amtsanweisungen, wie schon der Stil ergiebt: überall heißt es kurz und gut: Der König will, befiehlt, ver¬ ordnet. Das ständische Wesen ist nicht vollständig erloschen, aber es fristet nur ein Scheindasein; die Stände sinken zu beratenden Hoflager und Notabeln- versammlungen herab. Gefördert wurden die Rechte der Könige namentlich auch durch den Gegensatz der beiden Elemente des Volkes, der eingebornen ^.ngli und der eingedrungenen Vranoigsriie; wenn auch den Proklamationen Wilhelms I. nach beide Stämme gleichberechtigt sein sollten, so betrachteten sich die sieg¬ reichen Z?rM(zig'orÄö doch thatsächlich als die Herren, und da sie die Grvß- vasallenschaft ausmachten, so fehlte es ihnen an einem festen Halt nach unten in der angelsächsischen Bevölkerung, wie dieser anderseits es an führenden Männern in der Umgebung des Königs gebrach. Wenn also Allen im 35. Bande der HäwdurBr Roviöv behauptet hat: „Der Name und wahrscheinlich auch die Zu¬ sammensetzung der angelsächsischen Reichsversammlung wurde bei Ankunft der Normannen geändert; ihre Thätigkeit aber blieb dieselbe und setzt sich ins heutige Parlament fort," so ist diese aus parlamentarischem Übereifer gemachte Behauptung ersichtlich falsch; vielmehr mußte sich als Ersatz für die gesetz¬ gebenden Magnatenversammlnngen später in völlig neuer Weise eine parlamen¬ tarische Körperschaft bilden, da selbst die alten Hoffeste seit 1139, unter der Negierung des leichtsinnigen Stephan, allmählich verschwunden sind. Über hundert Jahre hatte die Herrschaft der Normannenkönige gedauert, bis ihre Gewalt einen ersten harten Stoß erlitt. König Heinrich III. sah sich genötigt, in dem mit Thomas a Wecket und weiterhin mit Papst Alexander III. geführten Kircheustreit am Ende nachzugeben (1171) und auf einige seither von der Krone geübte Rechte zu verzichten. Die damit in das System der absoluten Krongewalt gelegte Bresche konnte nie mehr geschlossen werden, und als König Johann ein in jedem Betracht abscheuliches und schädliches Regiment führte, kam es zu einer allgemeinen Erhebung, welche dadurch unwiderstehlich wurde, daß sie von einer einheitlich gewordenen Nation ausging. Fünf Geschlechter hatten jetzt unter einer Kirche, einem Königtum, einem Verwaltungssystem in gleichem Frieden und gleichem Druck miteinander gelebt; das Gemeindeleben hatte die Verheiratungen der ^.ngli und I'iMoigor^o zu einer täglichen Er-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/23
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/23>, abgerufen am 19.10.2024.