Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Glympia und der olympische Aenstempel.

rechtfertigten. Nehmen wir min an, daß Alkamenes in dem Alter von dreißig
Jahren, was eher zu niedrig als zu hoch gegriffen sein dürfte, in dieser Weise sich
ausgezeichnet hatte, so würde er in einem Alter von ungefähr neunzig Jahren noch
künstlerisch thätig gewesen sein, eine Wirksamkeit, die mit Rücksicht auf ähnliche
Erscheinungen aus der neueren Kunstgeschichte -- es braucht nur an Tizian,
Michelangelo, Jacopo Sansovino und andre erinnert zu werden -- zwar nicht zu
den Unmöglichkeiten gehört, immerhin aber doch nur eine Ausnahme bildet und
für Alkcunenes als eine durch nichts begründete Möglichkeit angesehen werden muß.

Derartigem zeitlichen Bedenken unterliegt die Wirksamkeit des Päonios
nicht. Außer seiner Gebnrtsstadt kennen nur nur das Datum der Aufstellung
seiner Nikestatue. In der bekannten Inschrift am Postamente derselben heißt
es, daß sie von dem Zehnten feindlicher Kriegsbeute dem olympischen Zeus
geweiht sei, eine Bestimmung, die jetzt mit Sicherheit auf die Beute bezogen
wird, welche die Messeuier im peloponnesischen Kriege nach der Niederlage der
Spartaner auf der Insel Sphakteria im Jahre 424 durch Plünderung des
feindlichen Gebietes gewonnen hatten. Unter dem frischen Eindrucke dieses
Sieges wird man dem Künstler den Auftrag erteilt haben, und wohl spätestens
im Jahre 420 wird das Siegesweihgeschenk vollendet und in Olympia aufgestellt
wordeu sein. Zwischen dieser Zeit und Päonios' Thätigkeit am Zeustempel
würde ein Zeitraum von etwa vierzig Jahren liegen, den die Kunst mit Riesen¬
schritten und in staunenswerter Schnelligkeit bis zu ihrer höchsten Blüte durch¬
messen hatte. Wenn vielen der Gedanke, die Giebelgruppe und die Nike als
Werk von ein- und demselben Künstler sich vorzustellen, unmöglich erschien, und
dieser Zweifel, wie wir gestehen wollen, nicht ohne innere Berechtigung ist, so
müssen wir anderseits bedenken, daß ein Zeitraum von mehreren Jahrzehnten, in
dem ein Phidias seine Meisterwerke geschaffen hatte, in dem die Malerei, nnter
deren Einfluß die nach den Gesetzen der statuarischen Plastik fast unmöglich er¬
scheinende Nikestatue steht, zu freier Entwicklung gelangt war und in Polygnot
und seinen Schülern hervorragende Vertreter gefunden hatte, wohl geeignet war,
der Individualität eines bildungsfähigen Künstlers seine Spuren aufzuprägen.
Päonios braucht kein Schüler von Phidias gewesen zu sein, um in dem Bann¬
kreise der attischen Kunst zu stehen.

Wenn sich die Wissenschaft berufen fühlt, eine alte Überlieferung, die sich
mit klaren Worten über eine Thatsache ausspricht, in ihrer Glaubwürdigkeit
anzuzweifeln und ihren eignen Weg einzuschlagen, so hängt die Berechtigung
dieses Verfahrens zum guten Teile von der Beantwortung der Frage ab: Von
wem kommt die angefochtene Tradition, und wo ist ihr Ursprung abzuleiten?
Giebt Pausanias seine eignen Eindrücke, die er an Ort und Stelle empfangen
hatte, wieder, schöpft er bei Beschreibung und Beurteilung von Kunstwerken aus
seinen eignem Kenntnissen, oder berichtet er, was er von andern gehört, was
er in Büchern gelesen hatte? Die Reisebeschreilmng des Pausanias hat viel


Glympia und der olympische Aenstempel.

rechtfertigten. Nehmen wir min an, daß Alkamenes in dem Alter von dreißig
Jahren, was eher zu niedrig als zu hoch gegriffen sein dürfte, in dieser Weise sich
ausgezeichnet hatte, so würde er in einem Alter von ungefähr neunzig Jahren noch
künstlerisch thätig gewesen sein, eine Wirksamkeit, die mit Rücksicht auf ähnliche
Erscheinungen aus der neueren Kunstgeschichte — es braucht nur an Tizian,
Michelangelo, Jacopo Sansovino und andre erinnert zu werden — zwar nicht zu
den Unmöglichkeiten gehört, immerhin aber doch nur eine Ausnahme bildet und
für Alkcunenes als eine durch nichts begründete Möglichkeit angesehen werden muß.

Derartigem zeitlichen Bedenken unterliegt die Wirksamkeit des Päonios
nicht. Außer seiner Gebnrtsstadt kennen nur nur das Datum der Aufstellung
seiner Nikestatue. In der bekannten Inschrift am Postamente derselben heißt
es, daß sie von dem Zehnten feindlicher Kriegsbeute dem olympischen Zeus
geweiht sei, eine Bestimmung, die jetzt mit Sicherheit auf die Beute bezogen
wird, welche die Messeuier im peloponnesischen Kriege nach der Niederlage der
Spartaner auf der Insel Sphakteria im Jahre 424 durch Plünderung des
feindlichen Gebietes gewonnen hatten. Unter dem frischen Eindrucke dieses
Sieges wird man dem Künstler den Auftrag erteilt haben, und wohl spätestens
im Jahre 420 wird das Siegesweihgeschenk vollendet und in Olympia aufgestellt
wordeu sein. Zwischen dieser Zeit und Päonios' Thätigkeit am Zeustempel
würde ein Zeitraum von etwa vierzig Jahren liegen, den die Kunst mit Riesen¬
schritten und in staunenswerter Schnelligkeit bis zu ihrer höchsten Blüte durch¬
messen hatte. Wenn vielen der Gedanke, die Giebelgruppe und die Nike als
Werk von ein- und demselben Künstler sich vorzustellen, unmöglich erschien, und
dieser Zweifel, wie wir gestehen wollen, nicht ohne innere Berechtigung ist, so
müssen wir anderseits bedenken, daß ein Zeitraum von mehreren Jahrzehnten, in
dem ein Phidias seine Meisterwerke geschaffen hatte, in dem die Malerei, nnter
deren Einfluß die nach den Gesetzen der statuarischen Plastik fast unmöglich er¬
scheinende Nikestatue steht, zu freier Entwicklung gelangt war und in Polygnot
und seinen Schülern hervorragende Vertreter gefunden hatte, wohl geeignet war,
der Individualität eines bildungsfähigen Künstlers seine Spuren aufzuprägen.
Päonios braucht kein Schüler von Phidias gewesen zu sein, um in dem Bann¬
kreise der attischen Kunst zu stehen.

Wenn sich die Wissenschaft berufen fühlt, eine alte Überlieferung, die sich
mit klaren Worten über eine Thatsache ausspricht, in ihrer Glaubwürdigkeit
anzuzweifeln und ihren eignen Weg einzuschlagen, so hängt die Berechtigung
dieses Verfahrens zum guten Teile von der Beantwortung der Frage ab: Von
wem kommt die angefochtene Tradition, und wo ist ihr Ursprung abzuleiten?
Giebt Pausanias seine eignen Eindrücke, die er an Ort und Stelle empfangen
hatte, wieder, schöpft er bei Beschreibung und Beurteilung von Kunstwerken aus
seinen eignem Kenntnissen, oder berichtet er, was er von andern gehört, was
er in Büchern gelesen hatte? Die Reisebeschreilmng des Pausanias hat viel


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0239" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/199593"/>
          <fw type="header" place="top"> Glympia und der olympische Aenstempel.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_932" prev="#ID_931"> rechtfertigten. Nehmen wir min an, daß Alkamenes in dem Alter von dreißig<lb/>
Jahren, was eher zu niedrig als zu hoch gegriffen sein dürfte, in dieser Weise sich<lb/>
ausgezeichnet hatte, so würde er in einem Alter von ungefähr neunzig Jahren noch<lb/>
künstlerisch thätig gewesen sein, eine Wirksamkeit, die mit Rücksicht auf ähnliche<lb/>
Erscheinungen aus der neueren Kunstgeschichte &#x2014; es braucht nur an Tizian,<lb/>
Michelangelo, Jacopo Sansovino und andre erinnert zu werden &#x2014; zwar nicht zu<lb/>
den Unmöglichkeiten gehört, immerhin aber doch nur eine Ausnahme bildet und<lb/>
für Alkcunenes als eine durch nichts begründete Möglichkeit angesehen werden muß.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_933"> Derartigem zeitlichen Bedenken unterliegt die Wirksamkeit des Päonios<lb/>
nicht. Außer seiner Gebnrtsstadt kennen nur nur das Datum der Aufstellung<lb/>
seiner Nikestatue. In der bekannten Inschrift am Postamente derselben heißt<lb/>
es, daß sie von dem Zehnten feindlicher Kriegsbeute dem olympischen Zeus<lb/>
geweiht sei, eine Bestimmung, die jetzt mit Sicherheit auf die Beute bezogen<lb/>
wird, welche die Messeuier im peloponnesischen Kriege nach der Niederlage der<lb/>
Spartaner auf der Insel Sphakteria im Jahre 424 durch Plünderung des<lb/>
feindlichen Gebietes gewonnen hatten. Unter dem frischen Eindrucke dieses<lb/>
Sieges wird man dem Künstler den Auftrag erteilt haben, und wohl spätestens<lb/>
im Jahre 420 wird das Siegesweihgeschenk vollendet und in Olympia aufgestellt<lb/>
wordeu sein. Zwischen dieser Zeit und Päonios' Thätigkeit am Zeustempel<lb/>
würde ein Zeitraum von etwa vierzig Jahren liegen, den die Kunst mit Riesen¬<lb/>
schritten und in staunenswerter Schnelligkeit bis zu ihrer höchsten Blüte durch¬<lb/>
messen hatte. Wenn vielen der Gedanke, die Giebelgruppe und die Nike als<lb/>
Werk von ein- und demselben Künstler sich vorzustellen, unmöglich erschien, und<lb/>
dieser Zweifel, wie wir gestehen wollen, nicht ohne innere Berechtigung ist, so<lb/>
müssen wir anderseits bedenken, daß ein Zeitraum von mehreren Jahrzehnten, in<lb/>
dem ein Phidias seine Meisterwerke geschaffen hatte, in dem die Malerei, nnter<lb/>
deren Einfluß die nach den Gesetzen der statuarischen Plastik fast unmöglich er¬<lb/>
scheinende Nikestatue steht, zu freier Entwicklung gelangt war und in Polygnot<lb/>
und seinen Schülern hervorragende Vertreter gefunden hatte, wohl geeignet war,<lb/>
der Individualität eines bildungsfähigen Künstlers seine Spuren aufzuprägen.<lb/>
Päonios braucht kein Schüler von Phidias gewesen zu sein, um in dem Bann¬<lb/>
kreise der attischen Kunst zu stehen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_934" next="#ID_935"> Wenn sich die Wissenschaft berufen fühlt, eine alte Überlieferung, die sich<lb/>
mit klaren Worten über eine Thatsache ausspricht, in ihrer Glaubwürdigkeit<lb/>
anzuzweifeln und ihren eignen Weg einzuschlagen, so hängt die Berechtigung<lb/>
dieses Verfahrens zum guten Teile von der Beantwortung der Frage ab: Von<lb/>
wem kommt die angefochtene Tradition, und wo ist ihr Ursprung abzuleiten?<lb/>
Giebt Pausanias seine eignen Eindrücke, die er an Ort und Stelle empfangen<lb/>
hatte, wieder, schöpft er bei Beschreibung und Beurteilung von Kunstwerken aus<lb/>
seinen eignem Kenntnissen, oder berichtet er, was er von andern gehört, was<lb/>
er in Büchern gelesen hatte? Die Reisebeschreilmng des Pausanias hat viel</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0239] Glympia und der olympische Aenstempel. rechtfertigten. Nehmen wir min an, daß Alkamenes in dem Alter von dreißig Jahren, was eher zu niedrig als zu hoch gegriffen sein dürfte, in dieser Weise sich ausgezeichnet hatte, so würde er in einem Alter von ungefähr neunzig Jahren noch künstlerisch thätig gewesen sein, eine Wirksamkeit, die mit Rücksicht auf ähnliche Erscheinungen aus der neueren Kunstgeschichte — es braucht nur an Tizian, Michelangelo, Jacopo Sansovino und andre erinnert zu werden — zwar nicht zu den Unmöglichkeiten gehört, immerhin aber doch nur eine Ausnahme bildet und für Alkcunenes als eine durch nichts begründete Möglichkeit angesehen werden muß. Derartigem zeitlichen Bedenken unterliegt die Wirksamkeit des Päonios nicht. Außer seiner Gebnrtsstadt kennen nur nur das Datum der Aufstellung seiner Nikestatue. In der bekannten Inschrift am Postamente derselben heißt es, daß sie von dem Zehnten feindlicher Kriegsbeute dem olympischen Zeus geweiht sei, eine Bestimmung, die jetzt mit Sicherheit auf die Beute bezogen wird, welche die Messeuier im peloponnesischen Kriege nach der Niederlage der Spartaner auf der Insel Sphakteria im Jahre 424 durch Plünderung des feindlichen Gebietes gewonnen hatten. Unter dem frischen Eindrucke dieses Sieges wird man dem Künstler den Auftrag erteilt haben, und wohl spätestens im Jahre 420 wird das Siegesweihgeschenk vollendet und in Olympia aufgestellt wordeu sein. Zwischen dieser Zeit und Päonios' Thätigkeit am Zeustempel würde ein Zeitraum von etwa vierzig Jahren liegen, den die Kunst mit Riesen¬ schritten und in staunenswerter Schnelligkeit bis zu ihrer höchsten Blüte durch¬ messen hatte. Wenn vielen der Gedanke, die Giebelgruppe und die Nike als Werk von ein- und demselben Künstler sich vorzustellen, unmöglich erschien, und dieser Zweifel, wie wir gestehen wollen, nicht ohne innere Berechtigung ist, so müssen wir anderseits bedenken, daß ein Zeitraum von mehreren Jahrzehnten, in dem ein Phidias seine Meisterwerke geschaffen hatte, in dem die Malerei, nnter deren Einfluß die nach den Gesetzen der statuarischen Plastik fast unmöglich er¬ scheinende Nikestatue steht, zu freier Entwicklung gelangt war und in Polygnot und seinen Schülern hervorragende Vertreter gefunden hatte, wohl geeignet war, der Individualität eines bildungsfähigen Künstlers seine Spuren aufzuprägen. Päonios braucht kein Schüler von Phidias gewesen zu sein, um in dem Bann¬ kreise der attischen Kunst zu stehen. Wenn sich die Wissenschaft berufen fühlt, eine alte Überlieferung, die sich mit klaren Worten über eine Thatsache ausspricht, in ihrer Glaubwürdigkeit anzuzweifeln und ihren eignen Weg einzuschlagen, so hängt die Berechtigung dieses Verfahrens zum guten Teile von der Beantwortung der Frage ab: Von wem kommt die angefochtene Tradition, und wo ist ihr Ursprung abzuleiten? Giebt Pausanias seine eignen Eindrücke, die er an Ort und Stelle empfangen hatte, wieder, schöpft er bei Beschreibung und Beurteilung von Kunstwerken aus seinen eignem Kenntnissen, oder berichtet er, was er von andern gehört, was er in Büchern gelesen hatte? Die Reisebeschreilmng des Pausanias hat viel

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/239
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/239>, abgerufen am 27.09.2024.