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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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Vio Briefe Turgenjews.

den Anforderungen der Gegenwart geniigen und nie an die Zukunft denken."
5. "Ein Mensch, der ruhig leben will, unternehme nie etwas, vermute nichts,
vertraue auf nichts und fürchte nichts."

In Briefen Pflegt sich der Mensch im allgemeinen so zu geben, wie er in
Wahrheit ist, ohne Heuchelei, ohne Verstellung, ohne Überhebung. So lernen
wir denn auch den Dichter hier als Menschen kennen, und gewiß, es ist das
die schönste Seite des Bildes: ein durch und durch edler, hochherziger Mann,
der opferfreudig hilft, wo immer er helfen kann, so steht Iwan Turgenjew da
vor Mit- und Nachwelt. Nur einige Beispiele. Einem jungen Russen ohne
Legitimationspapiere und ohne Subsistenzmittel verschaffte er Aufnahme im
landwirtschaftlichen Institut zu Montpellier, setzte denselben in den Stand, seine
Studien zu vollenden, und ermöglichte ihm später durch Besorgung eines Passes
die Rückkehr in die Heimat. Ein Herr W. verfolgte unsern Dichter fortwährend
mit Bitten um Geldunterstützung und stieß hierbei sogar Drohungen wider ihn
aus. Turgenjew willfahrte trotzdem jeder seiner Bitten. Wie sich später heraus¬
stellte, war der zudringliche Mensch geisteskrank und mußte in ein Irrenhaus
gebracht werden. Einem Juden ließ er seine Hilfe angedeihen, damit er sein
Studium beendigen konnte, und ersuchte einen Glaubensgenossen seines Schütz¬
lings, ihn in seinem Bestreben zu unterstützen. Ja er wendet sogar eine xiu>
kraus an, um einem Landsmanne, der dem Tode nahe ist, aber voll edeln
Stolzes jede Unterstützung zurückweist, die letzten Tage zu erleichtern, und läßt
demselben durch seinen Verleger Jurjew, angeblich für eine literarische Arbeit,
zweihundert Franks zustellen. Am klarsten tritt die wahre, edle Menschlichkeit
des Dichters zu Tage in seinem Denken und Handeln gegenüber der traurigen
Leibeigenschaft. Schon in zarter Jngend flößten ihm die Mißhandlungen der
Knechte und der Bauern auf seinem väterlichen Gute Spaßkoe einen tiefen, un¬
auslöschlichen Widerwillen ein. Er durfte sich rühmen, niemals irgend einen
Untergebenen geschlagen zu haben, und nach dem Tode seiner Mutter, einer
"Despotin und Grillenfängerin," gab er allen Leibeignen sofort die Freiheit.
"Ich war damals (beim Tode des Vaters) erst sechzehn Jahre alt. Schon
jetzt lebte in mir der Haß gegen die Leibeigenschaft; dieser war unter anderen
auch die Ursache, weshalb ich, obwohl angesichts von Mißhandlungen und Fol¬
terungen aufgewachsen, meine Hand niemals mit einem einzigen Schlage be¬
fleckte____Als aber 1850 die Mutter starb, gab ich dem Hausgesinde unver¬
züglich die Freiheit." In Wort und Schrift eiferte er mit heiliger Begeisterung
und voll gerechter Entrüstung gegen dieses menschenunwürdige Institut, und seine
Mahnungen, seine Warnungen sollten nicht vergebens sein. Interessante Per¬
sönlichkeiten in Turgenjews Biographie sind die Leibeignen Porfirij Timofeewitsch
Kudrjaschew. später Arzt in Spaßkoe und dann Steuerbeamter im Kreise Tscherr
im Gouvernement Tula, Athanasij, im "Tagebuche eines Jägers" unter dem
Namen Ermolaj vorgeführt, ein "Spezialist auf dem Gebiete jedweder Jagd,


Vio Briefe Turgenjews.

den Anforderungen der Gegenwart geniigen und nie an die Zukunft denken."
5. „Ein Mensch, der ruhig leben will, unternehme nie etwas, vermute nichts,
vertraue auf nichts und fürchte nichts."

In Briefen Pflegt sich der Mensch im allgemeinen so zu geben, wie er in
Wahrheit ist, ohne Heuchelei, ohne Verstellung, ohne Überhebung. So lernen
wir denn auch den Dichter hier als Menschen kennen, und gewiß, es ist das
die schönste Seite des Bildes: ein durch und durch edler, hochherziger Mann,
der opferfreudig hilft, wo immer er helfen kann, so steht Iwan Turgenjew da
vor Mit- und Nachwelt. Nur einige Beispiele. Einem jungen Russen ohne
Legitimationspapiere und ohne Subsistenzmittel verschaffte er Aufnahme im
landwirtschaftlichen Institut zu Montpellier, setzte denselben in den Stand, seine
Studien zu vollenden, und ermöglichte ihm später durch Besorgung eines Passes
die Rückkehr in die Heimat. Ein Herr W. verfolgte unsern Dichter fortwährend
mit Bitten um Geldunterstützung und stieß hierbei sogar Drohungen wider ihn
aus. Turgenjew willfahrte trotzdem jeder seiner Bitten. Wie sich später heraus¬
stellte, war der zudringliche Mensch geisteskrank und mußte in ein Irrenhaus
gebracht werden. Einem Juden ließ er seine Hilfe angedeihen, damit er sein
Studium beendigen konnte, und ersuchte einen Glaubensgenossen seines Schütz¬
lings, ihn in seinem Bestreben zu unterstützen. Ja er wendet sogar eine xiu>
kraus an, um einem Landsmanne, der dem Tode nahe ist, aber voll edeln
Stolzes jede Unterstützung zurückweist, die letzten Tage zu erleichtern, und läßt
demselben durch seinen Verleger Jurjew, angeblich für eine literarische Arbeit,
zweihundert Franks zustellen. Am klarsten tritt die wahre, edle Menschlichkeit
des Dichters zu Tage in seinem Denken und Handeln gegenüber der traurigen
Leibeigenschaft. Schon in zarter Jngend flößten ihm die Mißhandlungen der
Knechte und der Bauern auf seinem väterlichen Gute Spaßkoe einen tiefen, un¬
auslöschlichen Widerwillen ein. Er durfte sich rühmen, niemals irgend einen
Untergebenen geschlagen zu haben, und nach dem Tode seiner Mutter, einer
„Despotin und Grillenfängerin," gab er allen Leibeignen sofort die Freiheit.
„Ich war damals (beim Tode des Vaters) erst sechzehn Jahre alt. Schon
jetzt lebte in mir der Haß gegen die Leibeigenschaft; dieser war unter anderen
auch die Ursache, weshalb ich, obwohl angesichts von Mißhandlungen und Fol¬
terungen aufgewachsen, meine Hand niemals mit einem einzigen Schlage be¬
fleckte____Als aber 1850 die Mutter starb, gab ich dem Hausgesinde unver¬
züglich die Freiheit." In Wort und Schrift eiferte er mit heiliger Begeisterung
und voll gerechter Entrüstung gegen dieses menschenunwürdige Institut, und seine
Mahnungen, seine Warnungen sollten nicht vergebens sein. Interessante Per¬
sönlichkeiten in Turgenjews Biographie sind die Leibeignen Porfirij Timofeewitsch
Kudrjaschew. später Arzt in Spaßkoe und dann Steuerbeamter im Kreise Tscherr
im Gouvernement Tula, Athanasij, im „Tagebuche eines Jägers" unter dem
Namen Ermolaj vorgeführt, ein „Spezialist auf dem Gebiete jedweder Jagd,


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[0181] Vio Briefe Turgenjews. den Anforderungen der Gegenwart geniigen und nie an die Zukunft denken." 5. „Ein Mensch, der ruhig leben will, unternehme nie etwas, vermute nichts, vertraue auf nichts und fürchte nichts." In Briefen Pflegt sich der Mensch im allgemeinen so zu geben, wie er in Wahrheit ist, ohne Heuchelei, ohne Verstellung, ohne Überhebung. So lernen wir denn auch den Dichter hier als Menschen kennen, und gewiß, es ist das die schönste Seite des Bildes: ein durch und durch edler, hochherziger Mann, der opferfreudig hilft, wo immer er helfen kann, so steht Iwan Turgenjew da vor Mit- und Nachwelt. Nur einige Beispiele. Einem jungen Russen ohne Legitimationspapiere und ohne Subsistenzmittel verschaffte er Aufnahme im landwirtschaftlichen Institut zu Montpellier, setzte denselben in den Stand, seine Studien zu vollenden, und ermöglichte ihm später durch Besorgung eines Passes die Rückkehr in die Heimat. Ein Herr W. verfolgte unsern Dichter fortwährend mit Bitten um Geldunterstützung und stieß hierbei sogar Drohungen wider ihn aus. Turgenjew willfahrte trotzdem jeder seiner Bitten. Wie sich später heraus¬ stellte, war der zudringliche Mensch geisteskrank und mußte in ein Irrenhaus gebracht werden. Einem Juden ließ er seine Hilfe angedeihen, damit er sein Studium beendigen konnte, und ersuchte einen Glaubensgenossen seines Schütz¬ lings, ihn in seinem Bestreben zu unterstützen. Ja er wendet sogar eine xiu> kraus an, um einem Landsmanne, der dem Tode nahe ist, aber voll edeln Stolzes jede Unterstützung zurückweist, die letzten Tage zu erleichtern, und läßt demselben durch seinen Verleger Jurjew, angeblich für eine literarische Arbeit, zweihundert Franks zustellen. Am klarsten tritt die wahre, edle Menschlichkeit des Dichters zu Tage in seinem Denken und Handeln gegenüber der traurigen Leibeigenschaft. Schon in zarter Jngend flößten ihm die Mißhandlungen der Knechte und der Bauern auf seinem väterlichen Gute Spaßkoe einen tiefen, un¬ auslöschlichen Widerwillen ein. Er durfte sich rühmen, niemals irgend einen Untergebenen geschlagen zu haben, und nach dem Tode seiner Mutter, einer „Despotin und Grillenfängerin," gab er allen Leibeignen sofort die Freiheit. „Ich war damals (beim Tode des Vaters) erst sechzehn Jahre alt. Schon jetzt lebte in mir der Haß gegen die Leibeigenschaft; dieser war unter anderen auch die Ursache, weshalb ich, obwohl angesichts von Mißhandlungen und Fol¬ terungen aufgewachsen, meine Hand niemals mit einem einzigen Schlage be¬ fleckte____Als aber 1850 die Mutter starb, gab ich dem Hausgesinde unver¬ züglich die Freiheit." In Wort und Schrift eiferte er mit heiliger Begeisterung und voll gerechter Entrüstung gegen dieses menschenunwürdige Institut, und seine Mahnungen, seine Warnungen sollten nicht vergebens sein. Interessante Per¬ sönlichkeiten in Turgenjews Biographie sind die Leibeignen Porfirij Timofeewitsch Kudrjaschew. später Arzt in Spaßkoe und dann Steuerbeamter im Kreise Tscherr im Gouvernement Tula, Athanasij, im „Tagebuche eines Jägers" unter dem Namen Ermolaj vorgeführt, ein „Spezialist auf dem Gebiete jedweder Jagd,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/181>, abgerufen am 27.09.2024.