Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.Land und Leute in Bulgarion. der kroatischen gleicht. Sie sind jedoch als ein finnisch-tatarisches Volk hier Land und Leute in Bulgarion. der kroatischen gleicht. Sie sind jedoch als ein finnisch-tatarisches Volk hier <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0164" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/199518"/> <fw type="header" place="top"> Land und Leute in Bulgarion.</fw><lb/> <p xml:id="ID_587" prev="#ID_586" next="#ID_588"> der kroatischen gleicht. Sie sind jedoch als ein finnisch-tatarisches Volk hier<lb/> eingewandert und erst im Laufe der Jahrhunderte in Rede und Sitte zu<lb/> Slawen geworden. Ursprünglich ein Zweig desselben Stammes, dem die Gro߬<lb/> russen angehörten, zogen sie im sechsten und siebenten Jahrhundert aus den<lb/> Gegenden der Wolga nach der Balkanhalbinsel, unterwarfen die dortigen<lb/> slawischen Völkerschaften, gingen aber später in deren Wesen auf, doch nicht,<lb/> ohne gewisse Charaktereigenschaften zu bewahren, mit denen sie sich noch heute<lb/> von ihren serbische» Nachbarn unterscheiden. Diese sind ein leichtlebiges, offen¬<lb/> herziges, rasch aufbrausendes Volk, wenig zum Überlegen, zu stetiger Arbeit und<lb/> zum Sparen geschaffen, die Bulgaren dagegen erscheinen diesen Sanguinikern<lb/> gegenüber als Leute von phlegmatisch-melancholischen Temperament, verschlossen<lb/> und überlegsam, schwerfällig, aber beharrlich im Denken und Handeln, hinter¬<lb/> listig und immer in erster Reihe auf ihren Nutzen und Vorteil bedacht. Hat<lb/> der Serbe als Phantasiemensch manche Züge vom Iren, so läßt sich der Bulgare,<lb/> der nüchterne Verstandesmensch, mehr mit dem pfiffige», selbstsüchtigen Schotten<lb/> vergleichen. Der Grundsatz, daß Nehmen seliger als Geben sei, hat dieses harte,<lb/> derbe Bauernvolk mit andern Bauersleuten gemein, aber er prägt sich bei ihm<lb/> stärker und gröber als Geiz und Habgier aus, und Dankbarkeit ist hier weit<lb/> seltener als ihr Gegenteil anzutreffen. Die Bulgaren waren von Natur zu<lb/> geduldige Naturen, um wie die Serben und die Griechen selbst an Abwerfung<lb/> des türkischen Joches zu denken, aber sie waren, als Nußland es ihnen abnahm,<lb/> nicht so erkenntlich, daß sie geduldig zugesehen hätten, als dieses ihm um das<lb/> seinige aufzulegen strebte, sie sahen in der geschenkten Freiheit Vorteile liegen,<lb/> die sie sich auszunutzen eilten, und zwar mit möglichst wenig Rücksicht auf das<lb/> Interesse der Befreier, deren Macht sie anderseits als Leute von engen Gesichts¬<lb/> kreis nicht vollständig zu würdigen imstande waren. Die Gebildeten unter ihnen,<lb/> welche Wien und Paris, Odessa und Petersburg gesehen haben, wissen allerdings<lb/> genug von der Welt, um etwas von dem Spiele der Kräfte zu verstehen, welche<lb/> einander in der großen Politik entgegenwirken und sich anch am Balkan be¬<lb/> kämpfen. Sie bilden aber eine sehr geringe Minderheit und sind durch die<lb/> ungeheure Metamorphose, welche das Volk aus der politischen und sozialen<lb/> Nichtigkeit der Rajah plötzlich in den Zustand fast unbegrenzter Selbstregierung<lb/> versetzte, aus Rand und Band gegangen, auch, zum Teil wenigstens, vom Nihi¬<lb/> lismus angesteckt. Übrigens sind alle Bnlgciren, ob gebildet oder nicht, anch<lb/> insofern zu Slawen geworden, daß sie sich leicht in den Wechsel der Geschicke<lb/> finden und hastig die günstige Stunde ausbeuten, unbekümmert, ob das die<lb/> Gefahr einer Rückkehr zu unerfreulichen Zuständen herbeiführen mag. Maßhalten<lb/> ist nicht Sache des Slawen. Er kann sich ohne viel Überwindung in die<lb/> Stellung eines willenlosen Knechtes finden, und er bedarf keiner langen Über¬<lb/> legung, um sich den Anarchisten beigesellen zu können; aber eine Teilung der<lb/> Gewalten ist ihm schwer begreiflich, gegenseitige Schonung der einen durch die</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0164]
Land und Leute in Bulgarion.
der kroatischen gleicht. Sie sind jedoch als ein finnisch-tatarisches Volk hier
eingewandert und erst im Laufe der Jahrhunderte in Rede und Sitte zu
Slawen geworden. Ursprünglich ein Zweig desselben Stammes, dem die Gro߬
russen angehörten, zogen sie im sechsten und siebenten Jahrhundert aus den
Gegenden der Wolga nach der Balkanhalbinsel, unterwarfen die dortigen
slawischen Völkerschaften, gingen aber später in deren Wesen auf, doch nicht,
ohne gewisse Charaktereigenschaften zu bewahren, mit denen sie sich noch heute
von ihren serbische» Nachbarn unterscheiden. Diese sind ein leichtlebiges, offen¬
herziges, rasch aufbrausendes Volk, wenig zum Überlegen, zu stetiger Arbeit und
zum Sparen geschaffen, die Bulgaren dagegen erscheinen diesen Sanguinikern
gegenüber als Leute von phlegmatisch-melancholischen Temperament, verschlossen
und überlegsam, schwerfällig, aber beharrlich im Denken und Handeln, hinter¬
listig und immer in erster Reihe auf ihren Nutzen und Vorteil bedacht. Hat
der Serbe als Phantasiemensch manche Züge vom Iren, so läßt sich der Bulgare,
der nüchterne Verstandesmensch, mehr mit dem pfiffige», selbstsüchtigen Schotten
vergleichen. Der Grundsatz, daß Nehmen seliger als Geben sei, hat dieses harte,
derbe Bauernvolk mit andern Bauersleuten gemein, aber er prägt sich bei ihm
stärker und gröber als Geiz und Habgier aus, und Dankbarkeit ist hier weit
seltener als ihr Gegenteil anzutreffen. Die Bulgaren waren von Natur zu
geduldige Naturen, um wie die Serben und die Griechen selbst an Abwerfung
des türkischen Joches zu denken, aber sie waren, als Nußland es ihnen abnahm,
nicht so erkenntlich, daß sie geduldig zugesehen hätten, als dieses ihm um das
seinige aufzulegen strebte, sie sahen in der geschenkten Freiheit Vorteile liegen,
die sie sich auszunutzen eilten, und zwar mit möglichst wenig Rücksicht auf das
Interesse der Befreier, deren Macht sie anderseits als Leute von engen Gesichts¬
kreis nicht vollständig zu würdigen imstande waren. Die Gebildeten unter ihnen,
welche Wien und Paris, Odessa und Petersburg gesehen haben, wissen allerdings
genug von der Welt, um etwas von dem Spiele der Kräfte zu verstehen, welche
einander in der großen Politik entgegenwirken und sich anch am Balkan be¬
kämpfen. Sie bilden aber eine sehr geringe Minderheit und sind durch die
ungeheure Metamorphose, welche das Volk aus der politischen und sozialen
Nichtigkeit der Rajah plötzlich in den Zustand fast unbegrenzter Selbstregierung
versetzte, aus Rand und Band gegangen, auch, zum Teil wenigstens, vom Nihi¬
lismus angesteckt. Übrigens sind alle Bnlgciren, ob gebildet oder nicht, anch
insofern zu Slawen geworden, daß sie sich leicht in den Wechsel der Geschicke
finden und hastig die günstige Stunde ausbeuten, unbekümmert, ob das die
Gefahr einer Rückkehr zu unerfreulichen Zuständen herbeiführen mag. Maßhalten
ist nicht Sache des Slawen. Er kann sich ohne viel Überwindung in die
Stellung eines willenlosen Knechtes finden, und er bedarf keiner langen Über¬
legung, um sich den Anarchisten beigesellen zu können; aber eine Teilung der
Gewalten ist ihm schwer begreiflich, gegenseitige Schonung der einen durch die
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