Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.Die Theater der Reichshauxtstadt. weit her dahin und hörte dort für billiges Geld schlecht und recht die alten, Die Theater der Reichshauxtstadt. weit her dahin und hörte dort für billiges Geld schlecht und recht die alten, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0143" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/199497"/> <fw type="header" place="top"> Die Theater der Reichshauxtstadt.</fw><lb/> <p xml:id="ID_476" prev="#ID_475" next="#ID_477"> weit her dahin und hörte dort für billiges Geld schlecht und recht die alten,<lb/> guten deutschen Lieder vom Don Juan und Fidelio, vom Freischütz und Oberon,<lb/> vom Waffenschmied und Hans Helling. Jetzt hat sich an seiner Stelle ein<lb/> Kunsttempel aufgethan, dessen Name in den Großstädten typisch werden zu wollen<lb/> scheint und der mit diesem Namen genugsam bezeichnet ist: ein „Edcntheciter."<lb/> Man wird achselzuckend sagen: Ja, das Unternehmen hat wohl eben nicht mehr<lb/> gelohnt. Durchaus das Gegenteil! Ich habe Wohl das Residenztheater, an<lb/> Wochentagen von der hundertsten Vorstellung an auch das Zeutraltheater, nie¬<lb/> mals aber das Luisenstädtische Opernhaus leer, sondern immer dicht besetzt ge¬<lb/> sehen. Aber das genügte nicht. Es ließ sich vielleicht mehr herausschlagen,<lb/> und so gründete man an dieser Stätte, wo kurz vorher noch das Lenorenquartett<lb/> gesungen hat: „Mir wird so wunderbar" — ein „Edentheater." Der ehrbare<lb/> Bürger wird mit Frau und Töchtern nicht mehr dahin pilgern, das steht fest.<lb/> Er wird zu Hause oder anderswo nur noch seine Zeitungen lesen und vielleicht<lb/> einmal dahin gelangen, ohne Frau und Töchter hinzugehen. Aber der Rowdy,<lb/> der MÄtwr-ok-lave-Mann, der zivilisirte Schlingel und der kultivirte Affe, all<lb/> die erlauchten Zierden und Spezialitäten des naturwissenschaftlichen Zeitalters,<lb/> sie werden diesen Bums allnächtlich so wie all die andern durchstreifen, und er<lb/> wird glänzende Geschäfte machen so wie all die andern. Und dann kommen<lb/> sie und sagen: Ihr seht es ja! Das Volk will es ja so! Im Gegenteil, das<lb/> Volk und namentlich der Hüter seiner eigentlichsten Lebensinteressen, die weibliche<lb/> Hälfte, hat nicht bloß einen starken praktischen Sinn, es zeigt auch Teilnahme,<lb/> es zeigt wahre Freude an einer gesunden, wackern Kunst. Und diese ist doch<lb/> zugleich die Grundlage auch der höchsten, wahrhaften Kunst. Das hat sich<lb/> jüngst recht deutlich gezeigt, als die Hauptstütze des verstreuten alten Walluer-<lb/> theatcrbestandes, Herr Thomas, auf der klassischen Stätte des Berliner Bürger-<lb/> Humors, dem arg heruntergekommenen Königstädtischen Theater, Versuche zur<lb/> Wiederbelebung der alten Volksbühne begann. Denn was sich im Zentraltheater<lb/> jetzt als solche ausgiebt, das wird man nur in sehr beschränktem Sinne dafür<lb/> gelten lassen können. Der Berliner findet sich hier mit einer starken und sehr<lb/> unangenehmen Dosis Jankeetum versetzt, welches dem Philistertum der Volks¬<lb/> bühne gerade so entgegengesetzt ist wie Anfang und Ende. Das Aankeetum<lb/> bedeutet in der Kunst das letzte Ende, das wahrhafte Tohuwabohu, das äußerste<lb/> Epigonentum, während das Philisterium wesentlich progonenhaft ist und daher<lb/> auch immer so merklich vor dem Anfange großer künstlerischer Perioden steht.<lb/> Der arme Willen versuchte vordem im Verein mit dem schlagenden Konplet-<lb/> dichter Jakobson und in einem ausgesuchteren schauspielerischen Genre (ich erinnere<lb/> an das ganz von der Bildfläche verschwundene witzsprühende Fräulein Bender)<lb/> eine ganz besondre Auffassung des Philisteriums dort zu vertreten, die ironisch-<lb/> parodische, die sich in allerlei Exkursen und tollen Sprüngen erging, aber<lb/> freilich mehr für den zwanglosen Abend einer gebildeten Gesellschaft, als zur</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0143]
Die Theater der Reichshauxtstadt.
weit her dahin und hörte dort für billiges Geld schlecht und recht die alten,
guten deutschen Lieder vom Don Juan und Fidelio, vom Freischütz und Oberon,
vom Waffenschmied und Hans Helling. Jetzt hat sich an seiner Stelle ein
Kunsttempel aufgethan, dessen Name in den Großstädten typisch werden zu wollen
scheint und der mit diesem Namen genugsam bezeichnet ist: ein „Edcntheciter."
Man wird achselzuckend sagen: Ja, das Unternehmen hat wohl eben nicht mehr
gelohnt. Durchaus das Gegenteil! Ich habe Wohl das Residenztheater, an
Wochentagen von der hundertsten Vorstellung an auch das Zeutraltheater, nie¬
mals aber das Luisenstädtische Opernhaus leer, sondern immer dicht besetzt ge¬
sehen. Aber das genügte nicht. Es ließ sich vielleicht mehr herausschlagen,
und so gründete man an dieser Stätte, wo kurz vorher noch das Lenorenquartett
gesungen hat: „Mir wird so wunderbar" — ein „Edentheater." Der ehrbare
Bürger wird mit Frau und Töchtern nicht mehr dahin pilgern, das steht fest.
Er wird zu Hause oder anderswo nur noch seine Zeitungen lesen und vielleicht
einmal dahin gelangen, ohne Frau und Töchter hinzugehen. Aber der Rowdy,
der MÄtwr-ok-lave-Mann, der zivilisirte Schlingel und der kultivirte Affe, all
die erlauchten Zierden und Spezialitäten des naturwissenschaftlichen Zeitalters,
sie werden diesen Bums allnächtlich so wie all die andern durchstreifen, und er
wird glänzende Geschäfte machen so wie all die andern. Und dann kommen
sie und sagen: Ihr seht es ja! Das Volk will es ja so! Im Gegenteil, das
Volk und namentlich der Hüter seiner eigentlichsten Lebensinteressen, die weibliche
Hälfte, hat nicht bloß einen starken praktischen Sinn, es zeigt auch Teilnahme,
es zeigt wahre Freude an einer gesunden, wackern Kunst. Und diese ist doch
zugleich die Grundlage auch der höchsten, wahrhaften Kunst. Das hat sich
jüngst recht deutlich gezeigt, als die Hauptstütze des verstreuten alten Walluer-
theatcrbestandes, Herr Thomas, auf der klassischen Stätte des Berliner Bürger-
Humors, dem arg heruntergekommenen Königstädtischen Theater, Versuche zur
Wiederbelebung der alten Volksbühne begann. Denn was sich im Zentraltheater
jetzt als solche ausgiebt, das wird man nur in sehr beschränktem Sinne dafür
gelten lassen können. Der Berliner findet sich hier mit einer starken und sehr
unangenehmen Dosis Jankeetum versetzt, welches dem Philistertum der Volks¬
bühne gerade so entgegengesetzt ist wie Anfang und Ende. Das Aankeetum
bedeutet in der Kunst das letzte Ende, das wahrhafte Tohuwabohu, das äußerste
Epigonentum, während das Philisterium wesentlich progonenhaft ist und daher
auch immer so merklich vor dem Anfange großer künstlerischer Perioden steht.
Der arme Willen versuchte vordem im Verein mit dem schlagenden Konplet-
dichter Jakobson und in einem ausgesuchteren schauspielerischen Genre (ich erinnere
an das ganz von der Bildfläche verschwundene witzsprühende Fräulein Bender)
eine ganz besondre Auffassung des Philisteriums dort zu vertreten, die ironisch-
parodische, die sich in allerlei Exkursen und tollen Sprüngen erging, aber
freilich mehr für den zwanglosen Abend einer gebildeten Gesellschaft, als zur
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