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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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Die Theater der Reichshauxtstadt.

ihn zu seinen Lebzeiten. Aber nun sehe ich, sie weinen." Wer auch immer
sein Nachfolger sein möge, er wird sich dieses Verdienstes immer zu erinnern
haben, er wird in dieser Hinsicht Hülsens Erbe antreten müssen, wenn anders
er sich die Grundsympathien des Volkes sichern will. Denn das Berliner Theater
ist jetzt nicht mehr bloß das Theater einer großen Stadt, es ist das Theater
des Reichs. Als solchem siud ihm Pflichten auferlegt, an die es früher uicht
zu denken brauchte. Und ich meine, in manchen Punkten thäte es ganz gut,
wenn einmal etwas "Disziplin" im Hülsenschen Stile in das Theaterwesen
führe. Ich wundre mich z. B. darüber, daß in der gesamten Tagespresse, die
doch sonst so findig ist in der Aufdeckung selbst des geringsten materiellen Miß-
standes, sich noch keine Stimme erhoben hat gegen einen allerdings nicht mate¬
riellen, aber umso kläglicheren, nämlich gegen die nachgerade alle Grenzen über¬
schreitende Frechheit, mit welcher sich das Bums- und Meßbndenunwesen auf unsern
Anschlagsäulen breit macht. So wie sich das im Laufe der letzten Jahre bei
uns ausgebildet hat, dürfte es in keiner europäischen Großstadt zu finden sein,
selbst in London uicht, keinesfalls in Paris. Oft in Mannshöhe, mit schreiend¬
sten Farben beklext, in einer Ausführung, die schon längst nicht mehr kindlich,
die einfach kannibalisch zu nennen ist, grinsen da die abscheulichsten Fratzen von
starken Männern, Riesinnen, Taucherinnen, aus der Kanone geschossenen Luft-
springcrinncn und dergleichen den Kunstsinn des Volkes fördernde Gebilde dem
harmlos des Weges kommenden Kulturmenschen entgegen. Und niemanden fällt
das auf, niemand findet es unangemessen, daß man in diesem Wust seineu
Konzert- und Theaterzettel mit Mühe an einer verlorenen Stelle suchen muß,
ja oft garnicht findet, weil er in jener erhabenen Gesellschaft keinen Platz mehr
erhielt. Ist es nicht natürlich, wenn man sich dann bei solchen tiefdeutigen
Zeichen der Zeit mitunter scheinbar grundlos vor die Stirn schlägt und ver¬
zweifelt ausruft: "Das ist deine Welt! Das heißt eine Welt!"

Sagt mir nur nicht immer, das Volk wolle es so, das Volk sei nun ein¬
mal heute so! Nein, das Volk ist noch immer ehrbar, tüchtig und gut, wie
für das ganz Hohe, so auch für das ganz Gemeine nicht empfänglich. Aber
ihr, ihr treibt es herab mit euern wüsten Ausrufern auf der Straße, mit euern
Gründungen von Etablissements der ästhetischen Gemeinheit, kurz mit euerm
ganzen Ausbeutungssystcm der niedrigsten Triebe in der Menschennatur! Ihr treibt
es herab mit eurer immer "praktischeren" Erziehung, mit euerm dem Deutschen
so wenig wohlstehender politischen Hetzen und Schüren, mit euerm schrecklichen
Evangelium vom alleinseligmachenden materiellen Fortschritt! Da wurde neulich
sang- und klanglos in einem jener Stadtteile, wo so etwas so notthut, eine
Opernbühnc geschlossen, die für ihr armes Teil sicherlich mehr zum Lebens¬
behagen Berlins beigetragen hat, als etwa das elektrische Licht auf der Leipziger
Straße. Es ist -- ach nein! es war das alte Luisenstädtische Theater. Der
rechtschaffen sich so durchschlagende Bürger kam mit Frau und Töchtern von


Die Theater der Reichshauxtstadt.

ihn zu seinen Lebzeiten. Aber nun sehe ich, sie weinen." Wer auch immer
sein Nachfolger sein möge, er wird sich dieses Verdienstes immer zu erinnern
haben, er wird in dieser Hinsicht Hülsens Erbe antreten müssen, wenn anders
er sich die Grundsympathien des Volkes sichern will. Denn das Berliner Theater
ist jetzt nicht mehr bloß das Theater einer großen Stadt, es ist das Theater
des Reichs. Als solchem siud ihm Pflichten auferlegt, an die es früher uicht
zu denken brauchte. Und ich meine, in manchen Punkten thäte es ganz gut,
wenn einmal etwas „Disziplin" im Hülsenschen Stile in das Theaterwesen
führe. Ich wundre mich z. B. darüber, daß in der gesamten Tagespresse, die
doch sonst so findig ist in der Aufdeckung selbst des geringsten materiellen Miß-
standes, sich noch keine Stimme erhoben hat gegen einen allerdings nicht mate¬
riellen, aber umso kläglicheren, nämlich gegen die nachgerade alle Grenzen über¬
schreitende Frechheit, mit welcher sich das Bums- und Meßbndenunwesen auf unsern
Anschlagsäulen breit macht. So wie sich das im Laufe der letzten Jahre bei
uns ausgebildet hat, dürfte es in keiner europäischen Großstadt zu finden sein,
selbst in London uicht, keinesfalls in Paris. Oft in Mannshöhe, mit schreiend¬
sten Farben beklext, in einer Ausführung, die schon längst nicht mehr kindlich,
die einfach kannibalisch zu nennen ist, grinsen da die abscheulichsten Fratzen von
starken Männern, Riesinnen, Taucherinnen, aus der Kanone geschossenen Luft-
springcrinncn und dergleichen den Kunstsinn des Volkes fördernde Gebilde dem
harmlos des Weges kommenden Kulturmenschen entgegen. Und niemanden fällt
das auf, niemand findet es unangemessen, daß man in diesem Wust seineu
Konzert- und Theaterzettel mit Mühe an einer verlorenen Stelle suchen muß,
ja oft garnicht findet, weil er in jener erhabenen Gesellschaft keinen Platz mehr
erhielt. Ist es nicht natürlich, wenn man sich dann bei solchen tiefdeutigen
Zeichen der Zeit mitunter scheinbar grundlos vor die Stirn schlägt und ver¬
zweifelt ausruft: „Das ist deine Welt! Das heißt eine Welt!"

Sagt mir nur nicht immer, das Volk wolle es so, das Volk sei nun ein¬
mal heute so! Nein, das Volk ist noch immer ehrbar, tüchtig und gut, wie
für das ganz Hohe, so auch für das ganz Gemeine nicht empfänglich. Aber
ihr, ihr treibt es herab mit euern wüsten Ausrufern auf der Straße, mit euern
Gründungen von Etablissements der ästhetischen Gemeinheit, kurz mit euerm
ganzen Ausbeutungssystcm der niedrigsten Triebe in der Menschennatur! Ihr treibt
es herab mit eurer immer „praktischeren" Erziehung, mit euerm dem Deutschen
so wenig wohlstehender politischen Hetzen und Schüren, mit euerm schrecklichen
Evangelium vom alleinseligmachenden materiellen Fortschritt! Da wurde neulich
sang- und klanglos in einem jener Stadtteile, wo so etwas so notthut, eine
Opernbühnc geschlossen, die für ihr armes Teil sicherlich mehr zum Lebens¬
behagen Berlins beigetragen hat, als etwa das elektrische Licht auf der Leipziger
Straße. Es ist — ach nein! es war das alte Luisenstädtische Theater. Der
rechtschaffen sich so durchschlagende Bürger kam mit Frau und Töchtern von


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[0142] Die Theater der Reichshauxtstadt. ihn zu seinen Lebzeiten. Aber nun sehe ich, sie weinen." Wer auch immer sein Nachfolger sein möge, er wird sich dieses Verdienstes immer zu erinnern haben, er wird in dieser Hinsicht Hülsens Erbe antreten müssen, wenn anders er sich die Grundsympathien des Volkes sichern will. Denn das Berliner Theater ist jetzt nicht mehr bloß das Theater einer großen Stadt, es ist das Theater des Reichs. Als solchem siud ihm Pflichten auferlegt, an die es früher uicht zu denken brauchte. Und ich meine, in manchen Punkten thäte es ganz gut, wenn einmal etwas „Disziplin" im Hülsenschen Stile in das Theaterwesen führe. Ich wundre mich z. B. darüber, daß in der gesamten Tagespresse, die doch sonst so findig ist in der Aufdeckung selbst des geringsten materiellen Miß- standes, sich noch keine Stimme erhoben hat gegen einen allerdings nicht mate¬ riellen, aber umso kläglicheren, nämlich gegen die nachgerade alle Grenzen über¬ schreitende Frechheit, mit welcher sich das Bums- und Meßbndenunwesen auf unsern Anschlagsäulen breit macht. So wie sich das im Laufe der letzten Jahre bei uns ausgebildet hat, dürfte es in keiner europäischen Großstadt zu finden sein, selbst in London uicht, keinesfalls in Paris. Oft in Mannshöhe, mit schreiend¬ sten Farben beklext, in einer Ausführung, die schon längst nicht mehr kindlich, die einfach kannibalisch zu nennen ist, grinsen da die abscheulichsten Fratzen von starken Männern, Riesinnen, Taucherinnen, aus der Kanone geschossenen Luft- springcrinncn und dergleichen den Kunstsinn des Volkes fördernde Gebilde dem harmlos des Weges kommenden Kulturmenschen entgegen. Und niemanden fällt das auf, niemand findet es unangemessen, daß man in diesem Wust seineu Konzert- und Theaterzettel mit Mühe an einer verlorenen Stelle suchen muß, ja oft garnicht findet, weil er in jener erhabenen Gesellschaft keinen Platz mehr erhielt. Ist es nicht natürlich, wenn man sich dann bei solchen tiefdeutigen Zeichen der Zeit mitunter scheinbar grundlos vor die Stirn schlägt und ver¬ zweifelt ausruft: „Das ist deine Welt! Das heißt eine Welt!" Sagt mir nur nicht immer, das Volk wolle es so, das Volk sei nun ein¬ mal heute so! Nein, das Volk ist noch immer ehrbar, tüchtig und gut, wie für das ganz Hohe, so auch für das ganz Gemeine nicht empfänglich. Aber ihr, ihr treibt es herab mit euern wüsten Ausrufern auf der Straße, mit euern Gründungen von Etablissements der ästhetischen Gemeinheit, kurz mit euerm ganzen Ausbeutungssystcm der niedrigsten Triebe in der Menschennatur! Ihr treibt es herab mit eurer immer „praktischeren" Erziehung, mit euerm dem Deutschen so wenig wohlstehender politischen Hetzen und Schüren, mit euerm schrecklichen Evangelium vom alleinseligmachenden materiellen Fortschritt! Da wurde neulich sang- und klanglos in einem jener Stadtteile, wo so etwas so notthut, eine Opernbühnc geschlossen, die für ihr armes Teil sicherlich mehr zum Lebens¬ behagen Berlins beigetragen hat, als etwa das elektrische Licht auf der Leipziger Straße. Es ist — ach nein! es war das alte Luisenstädtische Theater. Der rechtschaffen sich so durchschlagende Bürger kam mit Frau und Töchtern von

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/142>, abgerufen am 27.09.2024.