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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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Germanische Altertümer aus den Bauerdörfern Nordungarns.

Sinne. Übrigens scheint der Wirt gewisse Vorrechte, wie sie wohl unter den
Südslawen vorkomme!?, nicht gehabt zu haben, z. B. die Schlüssel über die
Speisekammer und den Schnaps; der Zugang zu letzterem stand jedem der
Brüder offen, und das Brot lag selbstverständlich immer an seinem Platze.
Für das Innere der Hauswirtschaft stand dem Wirte seine Frau zur Seite,
welche insbesondre, erforderlichenfalls mit Hilfe der andern Weiber, die Küche
zu besorgen hatte. Die Mahlzeiten wurden gemeinsam in der Stube einge¬
nommen; nach alter Bauernsitte aß man Grütze, Suppe u. s. w. aus derselben
Schüssel; das Fleisch wurde vom Wirte zerlegt und einem jeden sein Stück in
die Hand gegeben; Teller wurden ebenso wenig gebraucht wie Gabeln, aus¬
genommen nur eine Gabel, welche dem Wirte beim Zerlegen des Fleisches
diente, denn, wie mich ein Bauer belehrte. "Gott hat dem Menschen zur Gabel
die Finger gegeben." Für die Nacht wurde die Stube durch Ausbreiten von
Betten auf dem Boden zum Schlafen hergerichtet; hier legten sich die ledigen
Mitglieder zur Ruhe, auf die eine Seite die Burschen, auf die andre die
Mädchen; trotz dieses engen Zusammenlebens herrschte in Krickcrhäu die denkbar
strengste Sitte, und Übertretungen waren bei diesem reinen Geschlecht so gut
wie unerhört. Die Ehepaare wanderten mit den kleinsten Kindern die Stiege
hinauf in den Oberstock, wo jedes seine Kammer besaß. Ein Jahr wurden
die Säuglinge alle miteinander in der großen Stube untergebracht; aber bei
der großen Vereinfachung aller Vorrichtungen, welche die gemeinschaftliche
Wirtschaft ermöglichte, brauchten nicht alle Mütter daheim zu bleiben, um ihre
Jüngsten abzuwarten. Ein altes "Miemela," eine Großmutter, die doch zu
nichts andern: zu brauchen war, genügte für dies Geschäft, welches ihr durch
eine sinnreiche Vorrichtung erleichtert wurde. Die Kleinen wurden nämlich in
sogenannten Hutschcu, hüngcmattenartigcn Tüchern, an den Trambalken der Decke
aufgehängt und konnten mittels eines von jeder Hutsche herabhängenden
Strickes in die bekannte besänftigende Schaukelbewegung versetzt werden. So
hatte das Miemela uicht nötig, auf ein Geschrei bald aus dieser, bald aus jener
Ecke in der Stube herumzujagen, sondern saß an ihrem Orte wie ein Leine¬
weber und zog bald an diesem Stricke, bald an jenem. Der Förster erzählte
mir, wie er einmal gesehen, daß ein Miemela fünf Hutscheu gleichzeitig besorgt
habe, zwei mit den Händen, zwei mit den Füßen und eine rin dem Kopfe,
sodaß sie, wenn alle fünf Säuglinge zugleich ihre Bemühung in Anspruch
nahmen, ein Bild geboten haben muß wie die bekannten Jahrmarktsvirtuosen,
die mit jedem Körperteile ein besondres Instrument bearbeiten.

(Schluß folgt.)




Germanische Altertümer aus den Bauerdörfern Nordungarns.

Sinne. Übrigens scheint der Wirt gewisse Vorrechte, wie sie wohl unter den
Südslawen vorkomme!?, nicht gehabt zu haben, z. B. die Schlüssel über die
Speisekammer und den Schnaps; der Zugang zu letzterem stand jedem der
Brüder offen, und das Brot lag selbstverständlich immer an seinem Platze.
Für das Innere der Hauswirtschaft stand dem Wirte seine Frau zur Seite,
welche insbesondre, erforderlichenfalls mit Hilfe der andern Weiber, die Küche
zu besorgen hatte. Die Mahlzeiten wurden gemeinsam in der Stube einge¬
nommen; nach alter Bauernsitte aß man Grütze, Suppe u. s. w. aus derselben
Schüssel; das Fleisch wurde vom Wirte zerlegt und einem jeden sein Stück in
die Hand gegeben; Teller wurden ebenso wenig gebraucht wie Gabeln, aus¬
genommen nur eine Gabel, welche dem Wirte beim Zerlegen des Fleisches
diente, denn, wie mich ein Bauer belehrte. „Gott hat dem Menschen zur Gabel
die Finger gegeben." Für die Nacht wurde die Stube durch Ausbreiten von
Betten auf dem Boden zum Schlafen hergerichtet; hier legten sich die ledigen
Mitglieder zur Ruhe, auf die eine Seite die Burschen, auf die andre die
Mädchen; trotz dieses engen Zusammenlebens herrschte in Krickcrhäu die denkbar
strengste Sitte, und Übertretungen waren bei diesem reinen Geschlecht so gut
wie unerhört. Die Ehepaare wanderten mit den kleinsten Kindern die Stiege
hinauf in den Oberstock, wo jedes seine Kammer besaß. Ein Jahr wurden
die Säuglinge alle miteinander in der großen Stube untergebracht; aber bei
der großen Vereinfachung aller Vorrichtungen, welche die gemeinschaftliche
Wirtschaft ermöglichte, brauchten nicht alle Mütter daheim zu bleiben, um ihre
Jüngsten abzuwarten. Ein altes „Miemela," eine Großmutter, die doch zu
nichts andern: zu brauchen war, genügte für dies Geschäft, welches ihr durch
eine sinnreiche Vorrichtung erleichtert wurde. Die Kleinen wurden nämlich in
sogenannten Hutschcu, hüngcmattenartigcn Tüchern, an den Trambalken der Decke
aufgehängt und konnten mittels eines von jeder Hutsche herabhängenden
Strickes in die bekannte besänftigende Schaukelbewegung versetzt werden. So
hatte das Miemela uicht nötig, auf ein Geschrei bald aus dieser, bald aus jener
Ecke in der Stube herumzujagen, sondern saß an ihrem Orte wie ein Leine¬
weber und zog bald an diesem Stricke, bald an jenem. Der Förster erzählte
mir, wie er einmal gesehen, daß ein Miemela fünf Hutscheu gleichzeitig besorgt
habe, zwei mit den Händen, zwei mit den Füßen und eine rin dem Kopfe,
sodaß sie, wenn alle fünf Säuglinge zugleich ihre Bemühung in Anspruch
nahmen, ein Bild geboten haben muß wie die bekannten Jahrmarktsvirtuosen,
die mit jedem Körperteile ein besondres Instrument bearbeiten.

(Schluß folgt.)




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[0123] Germanische Altertümer aus den Bauerdörfern Nordungarns. Sinne. Übrigens scheint der Wirt gewisse Vorrechte, wie sie wohl unter den Südslawen vorkomme!?, nicht gehabt zu haben, z. B. die Schlüssel über die Speisekammer und den Schnaps; der Zugang zu letzterem stand jedem der Brüder offen, und das Brot lag selbstverständlich immer an seinem Platze. Für das Innere der Hauswirtschaft stand dem Wirte seine Frau zur Seite, welche insbesondre, erforderlichenfalls mit Hilfe der andern Weiber, die Küche zu besorgen hatte. Die Mahlzeiten wurden gemeinsam in der Stube einge¬ nommen; nach alter Bauernsitte aß man Grütze, Suppe u. s. w. aus derselben Schüssel; das Fleisch wurde vom Wirte zerlegt und einem jeden sein Stück in die Hand gegeben; Teller wurden ebenso wenig gebraucht wie Gabeln, aus¬ genommen nur eine Gabel, welche dem Wirte beim Zerlegen des Fleisches diente, denn, wie mich ein Bauer belehrte. „Gott hat dem Menschen zur Gabel die Finger gegeben." Für die Nacht wurde die Stube durch Ausbreiten von Betten auf dem Boden zum Schlafen hergerichtet; hier legten sich die ledigen Mitglieder zur Ruhe, auf die eine Seite die Burschen, auf die andre die Mädchen; trotz dieses engen Zusammenlebens herrschte in Krickcrhäu die denkbar strengste Sitte, und Übertretungen waren bei diesem reinen Geschlecht so gut wie unerhört. Die Ehepaare wanderten mit den kleinsten Kindern die Stiege hinauf in den Oberstock, wo jedes seine Kammer besaß. Ein Jahr wurden die Säuglinge alle miteinander in der großen Stube untergebracht; aber bei der großen Vereinfachung aller Vorrichtungen, welche die gemeinschaftliche Wirtschaft ermöglichte, brauchten nicht alle Mütter daheim zu bleiben, um ihre Jüngsten abzuwarten. Ein altes „Miemela," eine Großmutter, die doch zu nichts andern: zu brauchen war, genügte für dies Geschäft, welches ihr durch eine sinnreiche Vorrichtung erleichtert wurde. Die Kleinen wurden nämlich in sogenannten Hutschcu, hüngcmattenartigcn Tüchern, an den Trambalken der Decke aufgehängt und konnten mittels eines von jeder Hutsche herabhängenden Strickes in die bekannte besänftigende Schaukelbewegung versetzt werden. So hatte das Miemela uicht nötig, auf ein Geschrei bald aus dieser, bald aus jener Ecke in der Stube herumzujagen, sondern saß an ihrem Orte wie ein Leine¬ weber und zog bald an diesem Stricke, bald an jenem. Der Förster erzählte mir, wie er einmal gesehen, daß ein Miemela fünf Hutscheu gleichzeitig besorgt habe, zwei mit den Händen, zwei mit den Füßen und eine rin dem Kopfe, sodaß sie, wenn alle fünf Säuglinge zugleich ihre Bemühung in Anspruch nahmen, ein Bild geboten haben muß wie die bekannten Jahrmarktsvirtuosen, die mit jedem Körperteile ein besondres Instrument bearbeiten. (Schluß folgt.)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/123>, abgerufen am 27.09.2024.