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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal.

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Antike Märchen in deutschem Gewände.

die Okecmosflut schwimmt, wie Theseus auf dem Schiffe mit schwarzen Segeln
zur Ariadne nach Kreta, wie Siegfried zwölf Tage weit zum Jsensteiu fährt,
wie der König vom goldnen Berge das verzauberte Schluß erreicht in einem
Wunderschiffe, bei dem der untere Teil zu oberst gekehrt ist. Das ist das
Wunderschisf des Lichtgottes Freyer aus germanischer Göttersage, welches, von
Zwergen erbaut, sich zusammenlegen läßt wie ein Gewand, und mit welchem
Freyer die schöne Riesin Gerdr sich erobert.

Dorthin also, nach der für andre unerreichbaren Stätte, wo die Mond-
göttin weilt, zieht mit solchen Mitteln der Sonnenheld. Dort angelangt aber,
muß er erst die böse, finstere Macht bezwingen, ehe er die Jungfrau und mit
ihr einen großen Schatz gewinnt.

Ein großes Schrecknis für die Heiden war die Verfinsterung des Mondes.
Sie glaubten, ein finsteres Ungeheuer, ein Drache, habe schon einen Teil des
freundlich strahlenden Gestirns in den Nachen gefaßt und drohe es zu ver¬
schlingen. Dieser Drache wird uun von dem Sonnengott bezwungen, in grie¬
chischer Sage von Perseus, Herakles, Jason, Theseus und andern, in deutscher
von den Helden der Lieder vom Siegfried, vom goldnen Schlosse, vom starken
Hans und von der Krystallkugel. Die Mondgöttin ist aber außerdem an un¬
wegsamer, unzugänglicher Stelle gefangen; so sind Andromeda und Hcsionc am
Meere an hochragende Klippen geschmiedet, so wohnt die Jungfrau in einem
der deutschen Märchen auf steilem, gläsernen Berge, in dem andern in tiefer,
dunkler Höhle, Siegfrieds Brunhild ist von einer hohen roten Flammenmauer
umgeben, und in dem zartesten der hierher gehörenden deutschen Märchen, der
Geschichte von Dornröschen, ist diese Flammenmauer zu einer undurchdringlichen
Dornhecke geworden, und der finstere Drache, der sonst die Mondjungfrau hütet,
ist hier nur ein altes spinnendes Mütterchen. Der unermeßliche Schatz, welchen
der Sonnengott zugleich mit gewinnt, der Nibelungenhort unsrer Heldensage,
ist in der Argonautensage das goldne Vließ, in der Heraklessage sind es die
goldnen Äpfel der Hesperiden. In den deutschen Märchen ist es die Krystall¬
kugel, der goldne Berg und der Wunschring des Zwerges.

Der Sieg des Sonnengottes und die Befreiung der Mondgöttin ans der
Hut des finstern winterlichen Drachen weckt die ganze Natur zu unermeßlichen
Jubel. Die göttlichen Sieger selber durcheilen frohlockend in rasender Lust die
erwachten blühenden Thäler und grünenden Höhen und reißen alle ihre befreiten
entzückten Geschöpfe mit sich fort zu einer unwiderstehlich einherbrcmseuden wilden
Jagd: das ist das Schlußgemälde der großen Sage von den Thaten des Licht¬
gottes. Der oberste Sonnengott bei den Deutschen war Wuotan, und die wilde
Jagd nannten unsre Vorfahren "Wuotannes Heer," ein Ausdruck, welcher zu
dem oft mißverstandenen neuhochdeutschen "Wütendes Heer" geführt hat. Me-
leager, der griechische Sonnenheros, war auch zugleich der wilde Jäger, der
mit der Mondgöttin Atalante den lalydonischen Eber jagte und um den Eber


Antike Märchen in deutschem Gewände.

die Okecmosflut schwimmt, wie Theseus auf dem Schiffe mit schwarzen Segeln
zur Ariadne nach Kreta, wie Siegfried zwölf Tage weit zum Jsensteiu fährt,
wie der König vom goldnen Berge das verzauberte Schluß erreicht in einem
Wunderschiffe, bei dem der untere Teil zu oberst gekehrt ist. Das ist das
Wunderschisf des Lichtgottes Freyer aus germanischer Göttersage, welches, von
Zwergen erbaut, sich zusammenlegen läßt wie ein Gewand, und mit welchem
Freyer die schöne Riesin Gerdr sich erobert.

Dorthin also, nach der für andre unerreichbaren Stätte, wo die Mond-
göttin weilt, zieht mit solchen Mitteln der Sonnenheld. Dort angelangt aber,
muß er erst die böse, finstere Macht bezwingen, ehe er die Jungfrau und mit
ihr einen großen Schatz gewinnt.

Ein großes Schrecknis für die Heiden war die Verfinsterung des Mondes.
Sie glaubten, ein finsteres Ungeheuer, ein Drache, habe schon einen Teil des
freundlich strahlenden Gestirns in den Nachen gefaßt und drohe es zu ver¬
schlingen. Dieser Drache wird uun von dem Sonnengott bezwungen, in grie¬
chischer Sage von Perseus, Herakles, Jason, Theseus und andern, in deutscher
von den Helden der Lieder vom Siegfried, vom goldnen Schlosse, vom starken
Hans und von der Krystallkugel. Die Mondgöttin ist aber außerdem an un¬
wegsamer, unzugänglicher Stelle gefangen; so sind Andromeda und Hcsionc am
Meere an hochragende Klippen geschmiedet, so wohnt die Jungfrau in einem
der deutschen Märchen auf steilem, gläsernen Berge, in dem andern in tiefer,
dunkler Höhle, Siegfrieds Brunhild ist von einer hohen roten Flammenmauer
umgeben, und in dem zartesten der hierher gehörenden deutschen Märchen, der
Geschichte von Dornröschen, ist diese Flammenmauer zu einer undurchdringlichen
Dornhecke geworden, und der finstere Drache, der sonst die Mondjungfrau hütet,
ist hier nur ein altes spinnendes Mütterchen. Der unermeßliche Schatz, welchen
der Sonnengott zugleich mit gewinnt, der Nibelungenhort unsrer Heldensage,
ist in der Argonautensage das goldne Vließ, in der Heraklessage sind es die
goldnen Äpfel der Hesperiden. In den deutschen Märchen ist es die Krystall¬
kugel, der goldne Berg und der Wunschring des Zwerges.

Der Sieg des Sonnengottes und die Befreiung der Mondgöttin ans der
Hut des finstern winterlichen Drachen weckt die ganze Natur zu unermeßlichen
Jubel. Die göttlichen Sieger selber durcheilen frohlockend in rasender Lust die
erwachten blühenden Thäler und grünenden Höhen und reißen alle ihre befreiten
entzückten Geschöpfe mit sich fort zu einer unwiderstehlich einherbrcmseuden wilden
Jagd: das ist das Schlußgemälde der großen Sage von den Thaten des Licht¬
gottes. Der oberste Sonnengott bei den Deutschen war Wuotan, und die wilde
Jagd nannten unsre Vorfahren „Wuotannes Heer," ein Ausdruck, welcher zu
dem oft mißverstandenen neuhochdeutschen „Wütendes Heer" geführt hat. Me-
leager, der griechische Sonnenheros, war auch zugleich der wilde Jäger, der
mit der Mondgöttin Atalante den lalydonischen Eber jagte und um den Eber


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198719/94>, abgerufen am 22.07.2024.