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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal.

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Marie von Ebner-Lschenbach.

das Wesen des jüdischen Nationalcharakters, dessen Licht- und Schattenseiten
sie in scharfer Beleuchtung vor Augen führt, mit der Unparteilichkeit des großen
Dichters schildert sie die Entwicklung eines ganzen Juden zu einem ganzen
Christen in der Gesinnung. Dieser Doktor Rosenzweig hat sich als blutarmer
Bursch ans der Krakauer Universität kümmerlich bis zum promovirtcn Arzt
durchgeschlagen und mit dem zähen Familiensinne des Juden die uralte Gro߬
mutter, die alle seiue Verwandten überlebt hat, in aller Not mit erhalten und
gepflegt. Er nimmt eine kümmerliche Landarztstelle an, und mit Zähigkeit er¬
füllt er die schweren Pflichten seines Berufes, einzig und allein den Gelderwerb
vor Augen, und wieder steht diese Leidenschaft im Dienste der Liebe zu der Gro߬
mutter, die noch immer lebt und die er liebt mehr als irgend etwas auf der
Welt. Hier setzt die Dichterin den Hebel zu seiner höhern ethischen Entwicklung
an. Dieser Arzt, der so ganz in seinem Berufe aufgeht, daß er zeitweilig selbst
seinen Durst nach Reichtum darüber vergißt, weiß garnicht, wie hoch er in der
Achtung jeuer christlichen Nachbarn gestiegen ist, die er zwar gewissenhaft ärztlich
behandelt, sonst aber gründlich in jüdischem Hochmut als "Gojim" verachtet.
Und als ihm einmal der Ausdruck jener Achtung zu Teil wird, da bricht gleich sein
spezifisch jüdisches Mißtrauen, aber auch versöhnend seine wissenschaftliche Be¬
scheidenheit dnrch. Zu derselben Zeit tritt jener oben erwähnte polnische Idealist
Dembinski mit den schwärmerischen evangelischen Ideen in seinen Gesichtskreis,
und der jüdische Arzt, der bisher der herben, nüchternen Moral des Mili¬
tarismus gefolgt ist, macht die Entwicklung zur höhern ethischen Lehre des
Christentums, welches die thätige und vorurteilsfreie Liebe zum Nebenmenschen
predigt, gleichviel ob er ein "Gvj" oder ein Rechtgläubiger ist, in herrlicher
Konsequenz durch.

Damit hätten wir den Stoff- und Jdeenkreis der Dichtungen des letzten
Jahrzehnts von Freifrau von Ebner-Eschcnbcich flüchtig umschrieben. Dabei ist
es für den vornehmen menschlichen Charakter unsrer Aphoristin höchst bezeichnend,
daß sie die Tugend der Großmut in sehr vielen ihrer sympathischen Figuren
mit Vorliebe betont. Die Uhrmacherin Lotti leistet das äußerste in dieser Be¬
ziehung, indem sie sich einem ungetreuen Geliebten, eben dem erwähnten ver¬
wilderten Dichter zuliebe von dem einzigen Schatze, den sie besitzt, ihrer Uhren-
sammlnng, trennt. Glaubwürdiger und noch interessanter ist der großmütige
Baron Schwarzburg in "Komtesse Paula," der gegen sich selbst Prozeß führt,
da es sich nach dem Tode seines Vaters zeigt, daß dieser ihm auf Kosten der
Redlichkeit und armer Gläubiger den Besitz seines Erbes vermacht hat.

Und nun noch ein Wort über die künstlerische Art unsrer Dichterin. Wenn
man von den Novellen der Frau von Ebner-Eschenbach sprechen hört, so wird
man meist das Lob ihrer Form vernehmen. Und in der That weist diese viele
Vorzüge auf. Die Sprache ist immer edel und literarisch geschult, und daß
die Diktion nie trivial, sondern immer anregend und geistreich ist, versteht sich


Marie von Ebner-Lschenbach.

das Wesen des jüdischen Nationalcharakters, dessen Licht- und Schattenseiten
sie in scharfer Beleuchtung vor Augen führt, mit der Unparteilichkeit des großen
Dichters schildert sie die Entwicklung eines ganzen Juden zu einem ganzen
Christen in der Gesinnung. Dieser Doktor Rosenzweig hat sich als blutarmer
Bursch ans der Krakauer Universität kümmerlich bis zum promovirtcn Arzt
durchgeschlagen und mit dem zähen Familiensinne des Juden die uralte Gro߬
mutter, die alle seiue Verwandten überlebt hat, in aller Not mit erhalten und
gepflegt. Er nimmt eine kümmerliche Landarztstelle an, und mit Zähigkeit er¬
füllt er die schweren Pflichten seines Berufes, einzig und allein den Gelderwerb
vor Augen, und wieder steht diese Leidenschaft im Dienste der Liebe zu der Gro߬
mutter, die noch immer lebt und die er liebt mehr als irgend etwas auf der
Welt. Hier setzt die Dichterin den Hebel zu seiner höhern ethischen Entwicklung
an. Dieser Arzt, der so ganz in seinem Berufe aufgeht, daß er zeitweilig selbst
seinen Durst nach Reichtum darüber vergißt, weiß garnicht, wie hoch er in der
Achtung jeuer christlichen Nachbarn gestiegen ist, die er zwar gewissenhaft ärztlich
behandelt, sonst aber gründlich in jüdischem Hochmut als „Gojim" verachtet.
Und als ihm einmal der Ausdruck jener Achtung zu Teil wird, da bricht gleich sein
spezifisch jüdisches Mißtrauen, aber auch versöhnend seine wissenschaftliche Be¬
scheidenheit dnrch. Zu derselben Zeit tritt jener oben erwähnte polnische Idealist
Dembinski mit den schwärmerischen evangelischen Ideen in seinen Gesichtskreis,
und der jüdische Arzt, der bisher der herben, nüchternen Moral des Mili¬
tarismus gefolgt ist, macht die Entwicklung zur höhern ethischen Lehre des
Christentums, welches die thätige und vorurteilsfreie Liebe zum Nebenmenschen
predigt, gleichviel ob er ein „Gvj" oder ein Rechtgläubiger ist, in herrlicher
Konsequenz durch.

Damit hätten wir den Stoff- und Jdeenkreis der Dichtungen des letzten
Jahrzehnts von Freifrau von Ebner-Eschcnbcich flüchtig umschrieben. Dabei ist
es für den vornehmen menschlichen Charakter unsrer Aphoristin höchst bezeichnend,
daß sie die Tugend der Großmut in sehr vielen ihrer sympathischen Figuren
mit Vorliebe betont. Die Uhrmacherin Lotti leistet das äußerste in dieser Be¬
ziehung, indem sie sich einem ungetreuen Geliebten, eben dem erwähnten ver¬
wilderten Dichter zuliebe von dem einzigen Schatze, den sie besitzt, ihrer Uhren-
sammlnng, trennt. Glaubwürdiger und noch interessanter ist der großmütige
Baron Schwarzburg in „Komtesse Paula," der gegen sich selbst Prozeß führt,
da es sich nach dem Tode seines Vaters zeigt, daß dieser ihm auf Kosten der
Redlichkeit und armer Gläubiger den Besitz seines Erbes vermacht hat.

Und nun noch ein Wort über die künstlerische Art unsrer Dichterin. Wenn
man von den Novellen der Frau von Ebner-Eschenbach sprechen hört, so wird
man meist das Lob ihrer Form vernehmen. Und in der That weist diese viele
Vorzüge auf. Die Sprache ist immer edel und literarisch geschult, und daß
die Diktion nie trivial, sondern immer anregend und geistreich ist, versteht sich


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198719/88>, abgerufen am 22.07.2024.