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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal.

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Zur "Charakteristik Turgenjews.

einen leisen Zweifel an der Schlechtigkeit der andern und ein festes Vertrauen
in die eigne Güte; es ist ein Pessimismus von einer tiefen Sittlichkeit."

Wenn Berthold Thorsch auf der einen Seite zugesteht, daß ein krankhafter
pathologischer Zug durch den Realismus des großen russischen Novellisten hin¬
durchgeht (ein Zug, der immerhin aus den spezifisch russischen Zuständen erklärt
lind entschuldigt werden mag), wenn er anderseits ein Hauptgewicht auf die innere
Reinheit des Dichters, auf sein tiefes, leidenschaftliches Mitgefühl für alle edeln
Elemente der menschlichen Natur legt, soweit Turgenjew sie nach Maßgabe seiner
eignen Erlebnisse und Erfahrungen zu sehen vermag, so erscheint es kaum nötig,
den Gegensatz, der zwischen seinen und unsern Auffassungen noch vorhanden ist,
besonders zu betonen. Wir glauben, daß das subjektiv idealistische Moment in
Turgenjews Novellistik diese von dem landläufigen reuvmmistischeu Naturalismus
nicht nur unterscheidet, sondern sie hoch über denselben erhebt. Wir können uus
der Überzeugung nicht entschlagen, daß der Dichter unter glücklicheren nationalen
Voraussetzungen dem Jdealstil (der denn doch nicht gleichbedeutend ist mit dem,
was Thorsch "Stilisirtheit" nennt) keineswegs so unbedingt feindlich gegenüber
gestanden haben würde. Man darf eben nie vergessen, daß nahezu alles, was
sich im Rußland seiner Tage Pathos, Schwung, Gesinnung, Heroismus und
große Leidenschaft dünkte oder taufen ließ, entweder roher Egoismus oder hohle,
erbärmliche Lüge war, daß er sozusagen in die tiefe Abneigung gegen Phrase
und Stilisirthcit hineingetrieben ward, welche bei ihm bis zum Herben und
Peinlichen vorwaltend ist. Und Thorsch selbst räumt ein: "Turgenjew ist zwar
modern durch und durch, aber der alte, echte Zauber der Dichtung ist ihm eigen
und Unterthan, die Macht, Harmonien zu erschaffen, Akkorde zu erträumen, ans
dem starren, toten Dinge die Musik zu erwecken, die darin schlummert." Da
es in erster Linie hierauf und nicht auf die Besonderheit der Mittel ankommt,
durch welche der Dichter diese Wirkung erreicht, so können wir das Gefühl
freudiger Anerkennung, mit dein der naturalistische Kritiker seinem poetischen
Helden gegenübersteht, in der Hauptsache teilen und allen Lesern, denen es
darum zu thun ist, sich über die Eindrücke ihrer Lektüre ernste Rechenschaft zu
geben, das geistvolle und dnrch Klarheit und Ruhe ausgezeichnete Büchlein
von Thorsch bestens empfehlen.




Zur «Charakteristik Turgenjews.

einen leisen Zweifel an der Schlechtigkeit der andern und ein festes Vertrauen
in die eigne Güte; es ist ein Pessimismus von einer tiefen Sittlichkeit."

Wenn Berthold Thorsch auf der einen Seite zugesteht, daß ein krankhafter
pathologischer Zug durch den Realismus des großen russischen Novellisten hin¬
durchgeht (ein Zug, der immerhin aus den spezifisch russischen Zuständen erklärt
lind entschuldigt werden mag), wenn er anderseits ein Hauptgewicht auf die innere
Reinheit des Dichters, auf sein tiefes, leidenschaftliches Mitgefühl für alle edeln
Elemente der menschlichen Natur legt, soweit Turgenjew sie nach Maßgabe seiner
eignen Erlebnisse und Erfahrungen zu sehen vermag, so erscheint es kaum nötig,
den Gegensatz, der zwischen seinen und unsern Auffassungen noch vorhanden ist,
besonders zu betonen. Wir glauben, daß das subjektiv idealistische Moment in
Turgenjews Novellistik diese von dem landläufigen reuvmmistischeu Naturalismus
nicht nur unterscheidet, sondern sie hoch über denselben erhebt. Wir können uus
der Überzeugung nicht entschlagen, daß der Dichter unter glücklicheren nationalen
Voraussetzungen dem Jdealstil (der denn doch nicht gleichbedeutend ist mit dem,
was Thorsch „Stilisirtheit" nennt) keineswegs so unbedingt feindlich gegenüber
gestanden haben würde. Man darf eben nie vergessen, daß nahezu alles, was
sich im Rußland seiner Tage Pathos, Schwung, Gesinnung, Heroismus und
große Leidenschaft dünkte oder taufen ließ, entweder roher Egoismus oder hohle,
erbärmliche Lüge war, daß er sozusagen in die tiefe Abneigung gegen Phrase
und Stilisirthcit hineingetrieben ward, welche bei ihm bis zum Herben und
Peinlichen vorwaltend ist. Und Thorsch selbst räumt ein: „Turgenjew ist zwar
modern durch und durch, aber der alte, echte Zauber der Dichtung ist ihm eigen
und Unterthan, die Macht, Harmonien zu erschaffen, Akkorde zu erträumen, ans
dem starren, toten Dinge die Musik zu erwecken, die darin schlummert." Da
es in erster Linie hierauf und nicht auf die Besonderheit der Mittel ankommt,
durch welche der Dichter diese Wirkung erreicht, so können wir das Gefühl
freudiger Anerkennung, mit dein der naturalistische Kritiker seinem poetischen
Helden gegenübersteht, in der Hauptsache teilen und allen Lesern, denen es
darum zu thun ist, sich über die Eindrücke ihrer Lektüre ernste Rechenschaft zu
geben, das geistvolle und dnrch Klarheit und Ruhe ausgezeichnete Büchlein
von Thorsch bestens empfehlen.




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[0564] Zur «Charakteristik Turgenjews. einen leisen Zweifel an der Schlechtigkeit der andern und ein festes Vertrauen in die eigne Güte; es ist ein Pessimismus von einer tiefen Sittlichkeit." Wenn Berthold Thorsch auf der einen Seite zugesteht, daß ein krankhafter pathologischer Zug durch den Realismus des großen russischen Novellisten hin¬ durchgeht (ein Zug, der immerhin aus den spezifisch russischen Zuständen erklärt lind entschuldigt werden mag), wenn er anderseits ein Hauptgewicht auf die innere Reinheit des Dichters, auf sein tiefes, leidenschaftliches Mitgefühl für alle edeln Elemente der menschlichen Natur legt, soweit Turgenjew sie nach Maßgabe seiner eignen Erlebnisse und Erfahrungen zu sehen vermag, so erscheint es kaum nötig, den Gegensatz, der zwischen seinen und unsern Auffassungen noch vorhanden ist, besonders zu betonen. Wir glauben, daß das subjektiv idealistische Moment in Turgenjews Novellistik diese von dem landläufigen reuvmmistischeu Naturalismus nicht nur unterscheidet, sondern sie hoch über denselben erhebt. Wir können uus der Überzeugung nicht entschlagen, daß der Dichter unter glücklicheren nationalen Voraussetzungen dem Jdealstil (der denn doch nicht gleichbedeutend ist mit dem, was Thorsch „Stilisirtheit" nennt) keineswegs so unbedingt feindlich gegenüber gestanden haben würde. Man darf eben nie vergessen, daß nahezu alles, was sich im Rußland seiner Tage Pathos, Schwung, Gesinnung, Heroismus und große Leidenschaft dünkte oder taufen ließ, entweder roher Egoismus oder hohle, erbärmliche Lüge war, daß er sozusagen in die tiefe Abneigung gegen Phrase und Stilisirthcit hineingetrieben ward, welche bei ihm bis zum Herben und Peinlichen vorwaltend ist. Und Thorsch selbst räumt ein: „Turgenjew ist zwar modern durch und durch, aber der alte, echte Zauber der Dichtung ist ihm eigen und Unterthan, die Macht, Harmonien zu erschaffen, Akkorde zu erträumen, ans dem starren, toten Dinge die Musik zu erwecken, die darin schlummert." Da es in erster Linie hierauf und nicht auf die Besonderheit der Mittel ankommt, durch welche der Dichter diese Wirkung erreicht, so können wir das Gefühl freudiger Anerkennung, mit dein der naturalistische Kritiker seinem poetischen Helden gegenübersteht, in der Hauptsache teilen und allen Lesern, denen es darum zu thun ist, sich über die Eindrücke ihrer Lektüre ernste Rechenschaft zu geben, das geistvolle und dnrch Klarheit und Ruhe ausgezeichnete Büchlein von Thorsch bestens empfehlen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198719/564>, abgerufen am 22.07.2024.