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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal.

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Die Meineidxest.

Der römisch-rechtliche Schiedscid im eigentlichen Sinne (der Eid nicht über
Thatsachen, sondern über das Recht) war kein Beweismittel, sondern vertrat
die Stelle des Beweises: eine Partei hatte die Wahl, ob sie, um den Prozeß
vor dem Richter abzuschneiden, dem Gegner den Eid zuschieben, oder aber für
die Thatsachen, aus denen sie ihr Recht ableitete, Beweis durch Zeugen oder
andre Beweismittel antreten wollte, ob sie durch den Eid des Gegners oder
durch ihren eignen Eid (wenn der Gegner, was für anständig galt, den Eid
zurückschob) formelle Wahrheit schaffen oder aber den Ausspruch des Richters
über die materielle Wahrheit herbeiführen wolle; das eine oder das andre, aber
nicht das eine neben dem andern oder das eine nach dem andern! Nach unsrer
Zivilprozeßordnung dagegen soll durch den Eid die Wahrheit von Thatsache,:
festgestellt werden, er ist insofern Beweismittel, und zwar ein Beweismittel, das
nicht statt andrer, sondern neben und nach andern Beweismitteln benutzt wird.
Während aber jeder andre Beweis vor Fällung des Urteils erhoben wird,
geht beim Beweis durch Eid das Urteil regelmäßig der Beweiserhebung voraus,
es wird ein sogenanntes eidbedingtes Urteil gefällt: "Wenn der Klüger (Be¬
klagte) schwört, so wird der Beklagte verurteilt (der Kläger abgewiesen)"; mir
dieses Urteil, nicht das nach Leistung des Eides gefällte gereinigte Urteil
unterliegt der Anfechtung durch Rechtsmittel. Insofern ist der Eid Schiedseid:
durch seine Leistung oder Verweigerung wird unmittelbar der Streit über das
Recht entschiede!?.

Daß diese Gestaltung des Verfahrens eine erhebliche Gefahr, einen bedenk¬
lichen Reiz zum Meineid in sich schließt, sollte billigerweise nicht bestritten
werden. Der Gegner des Schwurpflichtigen hat gewöhnlich, ehe es zur Eides¬
leistung kommt, seine Beweismittel erschöpft; wenn daher der Schwnrpflichtige
schwört, so läuft er keine Gefahr, glaubt wenigstens keine zu laufen, daß er
hinterher des Meineides überführt werde. Ferner: die Partei steht, wenn es
zum Schwören kommt, dem rechtskräftigen Urteil gegenüber, wonach sie, wenn
sie schwört, den Prozeß endgiltig gewinnt, wenn sie nicht schwört, ihn unfehlbar
verliert; sie ist von ihrem Recht überzeugt, sie hat vielleicht in Wahrheit Recht,
der Prozeß ist sachlich unrichtig entschieden; durch das Ans- oder nachsprechen
einiger Worte, da nach ihrer Überzeugung für ihr Recht unerheblich sind, kann
sie den ungerechten Spruch korrigiren; wird jeder Schwnrpflichtige einer solchen
Lockung widerstehen? Und endlich: jeder praktische Jurist weiß, welche Streitig¬
keiten oft die Formulirung des Eidcsthemas hervorruft; in einen Satz werden
gewöhnlich die Thatsachen zusammengedrängt, von deren Beschwörung oder Ab¬
schwörung die Entscheidung des Rechtsstreites abhängen soll; lautet der Satz
so, so kann die Partei mit gutem Gewissen schwören, lautet er ein wenig anders,
so kann sie nicht mit gutem Gewissen schwören, schwört aber am Ende doch
mit schlechtem Gewissen, zumal da ihr so geschworener Eid vielleicht nicht einmal
ein Meineid ist; der Richter verlangt von der beweispflichtigcu Partei möglichst


Die Meineidxest.

Der römisch-rechtliche Schiedscid im eigentlichen Sinne (der Eid nicht über
Thatsachen, sondern über das Recht) war kein Beweismittel, sondern vertrat
die Stelle des Beweises: eine Partei hatte die Wahl, ob sie, um den Prozeß
vor dem Richter abzuschneiden, dem Gegner den Eid zuschieben, oder aber für
die Thatsachen, aus denen sie ihr Recht ableitete, Beweis durch Zeugen oder
andre Beweismittel antreten wollte, ob sie durch den Eid des Gegners oder
durch ihren eignen Eid (wenn der Gegner, was für anständig galt, den Eid
zurückschob) formelle Wahrheit schaffen oder aber den Ausspruch des Richters
über die materielle Wahrheit herbeiführen wolle; das eine oder das andre, aber
nicht das eine neben dem andern oder das eine nach dem andern! Nach unsrer
Zivilprozeßordnung dagegen soll durch den Eid die Wahrheit von Thatsache,:
festgestellt werden, er ist insofern Beweismittel, und zwar ein Beweismittel, das
nicht statt andrer, sondern neben und nach andern Beweismitteln benutzt wird.
Während aber jeder andre Beweis vor Fällung des Urteils erhoben wird,
geht beim Beweis durch Eid das Urteil regelmäßig der Beweiserhebung voraus,
es wird ein sogenanntes eidbedingtes Urteil gefällt: „Wenn der Klüger (Be¬
klagte) schwört, so wird der Beklagte verurteilt (der Kläger abgewiesen)"; mir
dieses Urteil, nicht das nach Leistung des Eides gefällte gereinigte Urteil
unterliegt der Anfechtung durch Rechtsmittel. Insofern ist der Eid Schiedseid:
durch seine Leistung oder Verweigerung wird unmittelbar der Streit über das
Recht entschiede!?.

Daß diese Gestaltung des Verfahrens eine erhebliche Gefahr, einen bedenk¬
lichen Reiz zum Meineid in sich schließt, sollte billigerweise nicht bestritten
werden. Der Gegner des Schwurpflichtigen hat gewöhnlich, ehe es zur Eides¬
leistung kommt, seine Beweismittel erschöpft; wenn daher der Schwnrpflichtige
schwört, so läuft er keine Gefahr, glaubt wenigstens keine zu laufen, daß er
hinterher des Meineides überführt werde. Ferner: die Partei steht, wenn es
zum Schwören kommt, dem rechtskräftigen Urteil gegenüber, wonach sie, wenn
sie schwört, den Prozeß endgiltig gewinnt, wenn sie nicht schwört, ihn unfehlbar
verliert; sie ist von ihrem Recht überzeugt, sie hat vielleicht in Wahrheit Recht,
der Prozeß ist sachlich unrichtig entschieden; durch das Ans- oder nachsprechen
einiger Worte, da nach ihrer Überzeugung für ihr Recht unerheblich sind, kann
sie den ungerechten Spruch korrigiren; wird jeder Schwnrpflichtige einer solchen
Lockung widerstehen? Und endlich: jeder praktische Jurist weiß, welche Streitig¬
keiten oft die Formulirung des Eidcsthemas hervorruft; in einen Satz werden
gewöhnlich die Thatsachen zusammengedrängt, von deren Beschwörung oder Ab¬
schwörung die Entscheidung des Rechtsstreites abhängen soll; lautet der Satz
so, so kann die Partei mit gutem Gewissen schwören, lautet er ein wenig anders,
so kann sie nicht mit gutem Gewissen schwören, schwört aber am Ende doch
mit schlechtem Gewissen, zumal da ihr so geschworener Eid vielleicht nicht einmal
ein Meineid ist; der Richter verlangt von der beweispflichtigcu Partei möglichst


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[0362] Die Meineidxest. Der römisch-rechtliche Schiedscid im eigentlichen Sinne (der Eid nicht über Thatsachen, sondern über das Recht) war kein Beweismittel, sondern vertrat die Stelle des Beweises: eine Partei hatte die Wahl, ob sie, um den Prozeß vor dem Richter abzuschneiden, dem Gegner den Eid zuschieben, oder aber für die Thatsachen, aus denen sie ihr Recht ableitete, Beweis durch Zeugen oder andre Beweismittel antreten wollte, ob sie durch den Eid des Gegners oder durch ihren eignen Eid (wenn der Gegner, was für anständig galt, den Eid zurückschob) formelle Wahrheit schaffen oder aber den Ausspruch des Richters über die materielle Wahrheit herbeiführen wolle; das eine oder das andre, aber nicht das eine neben dem andern oder das eine nach dem andern! Nach unsrer Zivilprozeßordnung dagegen soll durch den Eid die Wahrheit von Thatsache,: festgestellt werden, er ist insofern Beweismittel, und zwar ein Beweismittel, das nicht statt andrer, sondern neben und nach andern Beweismitteln benutzt wird. Während aber jeder andre Beweis vor Fällung des Urteils erhoben wird, geht beim Beweis durch Eid das Urteil regelmäßig der Beweiserhebung voraus, es wird ein sogenanntes eidbedingtes Urteil gefällt: „Wenn der Klüger (Be¬ klagte) schwört, so wird der Beklagte verurteilt (der Kläger abgewiesen)"; mir dieses Urteil, nicht das nach Leistung des Eides gefällte gereinigte Urteil unterliegt der Anfechtung durch Rechtsmittel. Insofern ist der Eid Schiedseid: durch seine Leistung oder Verweigerung wird unmittelbar der Streit über das Recht entschiede!?. Daß diese Gestaltung des Verfahrens eine erhebliche Gefahr, einen bedenk¬ lichen Reiz zum Meineid in sich schließt, sollte billigerweise nicht bestritten werden. Der Gegner des Schwurpflichtigen hat gewöhnlich, ehe es zur Eides¬ leistung kommt, seine Beweismittel erschöpft; wenn daher der Schwnrpflichtige schwört, so läuft er keine Gefahr, glaubt wenigstens keine zu laufen, daß er hinterher des Meineides überführt werde. Ferner: die Partei steht, wenn es zum Schwören kommt, dem rechtskräftigen Urteil gegenüber, wonach sie, wenn sie schwört, den Prozeß endgiltig gewinnt, wenn sie nicht schwört, ihn unfehlbar verliert; sie ist von ihrem Recht überzeugt, sie hat vielleicht in Wahrheit Recht, der Prozeß ist sachlich unrichtig entschieden; durch das Ans- oder nachsprechen einiger Worte, da nach ihrer Überzeugung für ihr Recht unerheblich sind, kann sie den ungerechten Spruch korrigiren; wird jeder Schwnrpflichtige einer solchen Lockung widerstehen? Und endlich: jeder praktische Jurist weiß, welche Streitig¬ keiten oft die Formulirung des Eidcsthemas hervorruft; in einen Satz werden gewöhnlich die Thatsachen zusammengedrängt, von deren Beschwörung oder Ab¬ schwörung die Entscheidung des Rechtsstreites abhängen soll; lautet der Satz so, so kann die Partei mit gutem Gewissen schwören, lautet er ein wenig anders, so kann sie nicht mit gutem Gewissen schwören, schwört aber am Ende doch mit schlechtem Gewissen, zumal da ihr so geschworener Eid vielleicht nicht einmal ein Meineid ist; der Richter verlangt von der beweispflichtigcu Partei möglichst

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198719/362>, abgerufen am 22.07.2024.