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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal.

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Die Meineidxest.

den HF 153--156 bezeichneten Handlungen aus Fahrlässigkeit begangen worden
ist, so tritt Gefängnisstrafe bis zu einem Jahr ein/' bestimmt H 163 des Straf¬
gesetzbuches, In den angeführten HZ 153--156 aber wird mit Zuchthaus bis
zu zehn Jahren bedroht, "wer einen ihm zugeschobenen, zurückgeschobenen oder
auferlegten Eid wissentlich falsch schwört," sowie wer "vor einer zur Abnahme
von Eiden zuständigen Behörde wissentlich ein falsches Zeugnis... mit einem
Eid bekräftigt:e." Wörtlich sagt also der 163: "Mit Gefängnisstrafe wird
belegt, wer aus Fahrlässigkeit eiuen zugeschobenen ?c. Eid wissentlich falsch schwört
oder aus Fahrlässigkeit wissentlich ein falsches Zeugnis mit einem Eide bekräftigt."
Ein Glück für den Urheber dieser Bestimmung, das; es keine Strafe für fahr-
und nachlässige Gesetzfabrikation giebt! Der Thatbestand dieser gesetzgeberischen
Mißgeburt des fahrlässigen Mcincids oder des fahrlässigen Falscheids oder des
Falschcids schlechtweg -- zwischen diesen eleganten Bezeichnungen lassen uns die
Gelehrten die Wahl -- soll darin bestehen, daß jemand unwissentlich die Un¬
wahrheit sagt, während er bei gehöriger Achtsamkeit hätte wissen oder entdecken
können, daß er die Unwahrheit sage. In Wirklichkeit ist der Fall ziemlich
schwer zu denken. Wo die Anklage ans dieses Vergehen erhoben wird, da liegt
die Sache gewöhnlich entweder so, daß die Ungeschicklichkeit eines Richters eine
objektiv unwahre Aussage veranlaßt hat oder daß bei vorliegendem (echtem)
Meineid in einem Falle, wo die gesetzliche Strafe außer Verhältnis zum Ver¬
schulden des Angeklagten steht, die (gesetzlich ausgeschlossenen) "mildernden Um¬
stünde" dnrch diese Hinterthür eingeschmuggelt werden; ans eine besondre Art
dieses Falscheids werde ich später noch bei Erörterung der Frage, wie den
Meineiden vorzubeugen sei, zurückkommen. Zunächst aber wende ich mich zurück
zur Untersuchung des ursächlichen Zusammenhanges unsrer Prozeßgcsetzgebung
mit der Zunahme der Meineide, und sage: nicht bloß der Parteieneid, zumal
in seiner gegenwärtigen Gestaltung, sondern auch der obligatorische Zeugen¬
eid steht im Widerspruch mit dem Prinzip der freien Beweiswürdigung und
der Erforschung der materiellen Wahrheit; und darum befördern beide den
Meineid.

Mit den Bestimmungen über den Parteieneid hat der Gesetzgeber bewußt
und absichtlich das Prinzip der freien Beweiswürdigung durchbrochen; der
Richter muß als Richter das Beschworene für wahr halten, mag er als Mensch
eines noch so wenig von der Wahrheit überzeugt sein; eine ungeheuerliche Zu¬
mutung ist es, wenn er infolge eines von einer Partei geschwornen Glaubeuseides
die Wahrheit oder Unwahrheit einer Thatsache annehmen soll. Der Parteieneid,
so wird zur Rechtfertigung jener Bestimmungen angeführt, hat sich zu allen
Zeiten als notwendig dargestellt. Zugegeben! Aber darum sind nicht alle einzelnen
auf seine Ablegung bezüglichen Vorschriften notwendig und nützlich, wohl aber
ist das Schwanken zwischen verschiednen Prinzipien, die Behandlung des Eides
teils als Schiedseid, teils als Beweismittel entschieden schädlich.


Grenzboten III. 1886. 45
Die Meineidxest.

den HF 153—156 bezeichneten Handlungen aus Fahrlässigkeit begangen worden
ist, so tritt Gefängnisstrafe bis zu einem Jahr ein/' bestimmt H 163 des Straf¬
gesetzbuches, In den angeführten HZ 153—156 aber wird mit Zuchthaus bis
zu zehn Jahren bedroht, „wer einen ihm zugeschobenen, zurückgeschobenen oder
auferlegten Eid wissentlich falsch schwört," sowie wer „vor einer zur Abnahme
von Eiden zuständigen Behörde wissentlich ein falsches Zeugnis... mit einem
Eid bekräftigt:e." Wörtlich sagt also der 163: „Mit Gefängnisstrafe wird
belegt, wer aus Fahrlässigkeit eiuen zugeschobenen ?c. Eid wissentlich falsch schwört
oder aus Fahrlässigkeit wissentlich ein falsches Zeugnis mit einem Eide bekräftigt."
Ein Glück für den Urheber dieser Bestimmung, das; es keine Strafe für fahr-
und nachlässige Gesetzfabrikation giebt! Der Thatbestand dieser gesetzgeberischen
Mißgeburt des fahrlässigen Mcincids oder des fahrlässigen Falscheids oder des
Falschcids schlechtweg — zwischen diesen eleganten Bezeichnungen lassen uns die
Gelehrten die Wahl — soll darin bestehen, daß jemand unwissentlich die Un¬
wahrheit sagt, während er bei gehöriger Achtsamkeit hätte wissen oder entdecken
können, daß er die Unwahrheit sage. In Wirklichkeit ist der Fall ziemlich
schwer zu denken. Wo die Anklage ans dieses Vergehen erhoben wird, da liegt
die Sache gewöhnlich entweder so, daß die Ungeschicklichkeit eines Richters eine
objektiv unwahre Aussage veranlaßt hat oder daß bei vorliegendem (echtem)
Meineid in einem Falle, wo die gesetzliche Strafe außer Verhältnis zum Ver¬
schulden des Angeklagten steht, die (gesetzlich ausgeschlossenen) „mildernden Um¬
stünde" dnrch diese Hinterthür eingeschmuggelt werden; ans eine besondre Art
dieses Falscheids werde ich später noch bei Erörterung der Frage, wie den
Meineiden vorzubeugen sei, zurückkommen. Zunächst aber wende ich mich zurück
zur Untersuchung des ursächlichen Zusammenhanges unsrer Prozeßgcsetzgebung
mit der Zunahme der Meineide, und sage: nicht bloß der Parteieneid, zumal
in seiner gegenwärtigen Gestaltung, sondern auch der obligatorische Zeugen¬
eid steht im Widerspruch mit dem Prinzip der freien Beweiswürdigung und
der Erforschung der materiellen Wahrheit; und darum befördern beide den
Meineid.

Mit den Bestimmungen über den Parteieneid hat der Gesetzgeber bewußt
und absichtlich das Prinzip der freien Beweiswürdigung durchbrochen; der
Richter muß als Richter das Beschworene für wahr halten, mag er als Mensch
eines noch so wenig von der Wahrheit überzeugt sein; eine ungeheuerliche Zu¬
mutung ist es, wenn er infolge eines von einer Partei geschwornen Glaubeuseides
die Wahrheit oder Unwahrheit einer Thatsache annehmen soll. Der Parteieneid,
so wird zur Rechtfertigung jener Bestimmungen angeführt, hat sich zu allen
Zeiten als notwendig dargestellt. Zugegeben! Aber darum sind nicht alle einzelnen
auf seine Ablegung bezüglichen Vorschriften notwendig und nützlich, wohl aber
ist das Schwanken zwischen verschiednen Prinzipien, die Behandlung des Eides
teils als Schiedseid, teils als Beweismittel entschieden schädlich.


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[0361] Die Meineidxest. den HF 153—156 bezeichneten Handlungen aus Fahrlässigkeit begangen worden ist, so tritt Gefängnisstrafe bis zu einem Jahr ein/' bestimmt H 163 des Straf¬ gesetzbuches, In den angeführten HZ 153—156 aber wird mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren bedroht, „wer einen ihm zugeschobenen, zurückgeschobenen oder auferlegten Eid wissentlich falsch schwört," sowie wer „vor einer zur Abnahme von Eiden zuständigen Behörde wissentlich ein falsches Zeugnis... mit einem Eid bekräftigt:e." Wörtlich sagt also der 163: „Mit Gefängnisstrafe wird belegt, wer aus Fahrlässigkeit eiuen zugeschobenen ?c. Eid wissentlich falsch schwört oder aus Fahrlässigkeit wissentlich ein falsches Zeugnis mit einem Eide bekräftigt." Ein Glück für den Urheber dieser Bestimmung, das; es keine Strafe für fahr- und nachlässige Gesetzfabrikation giebt! Der Thatbestand dieser gesetzgeberischen Mißgeburt des fahrlässigen Mcincids oder des fahrlässigen Falscheids oder des Falschcids schlechtweg — zwischen diesen eleganten Bezeichnungen lassen uns die Gelehrten die Wahl — soll darin bestehen, daß jemand unwissentlich die Un¬ wahrheit sagt, während er bei gehöriger Achtsamkeit hätte wissen oder entdecken können, daß er die Unwahrheit sage. In Wirklichkeit ist der Fall ziemlich schwer zu denken. Wo die Anklage ans dieses Vergehen erhoben wird, da liegt die Sache gewöhnlich entweder so, daß die Ungeschicklichkeit eines Richters eine objektiv unwahre Aussage veranlaßt hat oder daß bei vorliegendem (echtem) Meineid in einem Falle, wo die gesetzliche Strafe außer Verhältnis zum Ver¬ schulden des Angeklagten steht, die (gesetzlich ausgeschlossenen) „mildernden Um¬ stünde" dnrch diese Hinterthür eingeschmuggelt werden; ans eine besondre Art dieses Falscheids werde ich später noch bei Erörterung der Frage, wie den Meineiden vorzubeugen sei, zurückkommen. Zunächst aber wende ich mich zurück zur Untersuchung des ursächlichen Zusammenhanges unsrer Prozeßgcsetzgebung mit der Zunahme der Meineide, und sage: nicht bloß der Parteieneid, zumal in seiner gegenwärtigen Gestaltung, sondern auch der obligatorische Zeugen¬ eid steht im Widerspruch mit dem Prinzip der freien Beweiswürdigung und der Erforschung der materiellen Wahrheit; und darum befördern beide den Meineid. Mit den Bestimmungen über den Parteieneid hat der Gesetzgeber bewußt und absichtlich das Prinzip der freien Beweiswürdigung durchbrochen; der Richter muß als Richter das Beschworene für wahr halten, mag er als Mensch eines noch so wenig von der Wahrheit überzeugt sein; eine ungeheuerliche Zu¬ mutung ist es, wenn er infolge eines von einer Partei geschwornen Glaubeuseides die Wahrheit oder Unwahrheit einer Thatsache annehmen soll. Der Parteieneid, so wird zur Rechtfertigung jener Bestimmungen angeführt, hat sich zu allen Zeiten als notwendig dargestellt. Zugegeben! Aber darum sind nicht alle einzelnen auf seine Ablegung bezüglichen Vorschriften notwendig und nützlich, wohl aber ist das Schwanken zwischen verschiednen Prinzipien, die Behandlung des Eides teils als Schiedseid, teils als Beweismittel entschieden schädlich. Grenzboten III. 1886. 45

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198719/361>, abgerufen am 22.07.2024.