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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal.

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Die Meineidpest.

und die Zivilprozeßordnung (§ 259): "Das Gericht hat unter Berücksichtigung
des gesamten Inhalts der Verhandlungen und des Ergebnisses einer etwaigen
Beweisaufnahme nach freier Überzeugung zu entscheiden, ob eine thatsächliche
Behauptung für wahr oder für uicht wahr zu erachten sei. In dem Urteile
find die Gründe anzugeben, welche für die richterliche Überzeugung leitend ge¬
wesen sind. An gesetzliche Beweisregeln ist das Gericht nur ip den durch
dieses Gesetz bezeichneten Fällen gebunden." Solche Vcweisrege'in giebt das
Gesetz insbesondre in Bezug auf den Urkundenbeweis und den Beweis durch
Eid. Der erstere interessirt uns hier nicht weiter, es genügt die Bemerkung,
daß das Gesetz hier kaum irgend andre Vorschriften giebt, als welche sich aus
der Natur der Sache rechtfertigen; auf die Bestimmungen über den Eid wird
sofort zurückzukommen sein.

Ich sagte: die Reichsgesetzgebung sei im wesentlichen zu dem Beweissystem
des klassischen römischen Rechtes zurückgekehrt. Ju zwei für unsre Frage be¬
deutungsvollen Punkten weicht sie jedoch von demselben ab. Der eine betrifft
den Zcugenbeweis im Straf- und im Zivilprozesse; in der Würdigung der
Zeugenaussagen ist der Richter an sich nicht beschränkt; aber das Gesetz ent¬
hält -- abweichend vom römischen Rechte -- die Vorschrift, daß jeder eides¬
fähige Zeuge (wofern nicht im Zivilprozesse hierauf verzichtet wird) vereidigt
werden muß; daneben aber ist zu beachten: gewisse Personen dürfen als Zeugen
nicht vereidigt werden (Kinder, Geistesschwache, wegen Meineids verurteilte;
im Strafverfahren: Mitschuldige des Angeklagten); bei andern Personen steht
es im Ermessen des Gerichts, ob es dieselben auf ihre Aussagen vereidigen
will; dahin gehören insbesondre gewisse nahe Verwandte des Angeklagten oder
der Parteien; es besteht aber hier ein Unterschied zwischen Straf- und Zivil¬
verfahren; hier wie dort sind diese Personen zur Verweigerung des Zeugnisses
berechtigt; lassen sie sich zum Zeugnisse herbei, so find sie im Zivilprozesse
zunächst uuvereidigt zu vernehmen, das Gericht kaun aber ihre nachträgliche
Vereidigung beschließen; im Strafprozesse dagegen hat das Gericht die Wahl,
wenn sie zum Zeugnis bereit sind, sie sofort zu vereidigen oder sie zunächst uu¬
vereidigt zu vernehmen und hiernach zu vereidigen oder auch diese nachträgliche
Vereidigung zu unterlassen; die betreffenden Personen selbst aber haben hier
noch das weitere Recht, auch nach der Vernehmung die Vereidigung ihres
Zeugnisses zu verweigern.") Darüber, welche Beweiskraft dem Zeugnisse eides¬
unfähiger Personen und dem uubeschworeuen Zeugnisse der zur Verweigerung
berechtigten Personen zukomme, giebt weder die Zivil-, noch die Strafprozeß-
ordnung Vorschriften: hierüber entscheidet das freie richterliche Ermessen.



Eine übertriebene Milde. Es ist vollkommen genug, wenn dem Verwandten die
Wahl gelassen wird, ob er Zeugnis ablegen will oder nicht; mit der gesetzlichen Bestimmung,
daß er, auch wenn er Zeugnis abzulegen sich entschließt, dessen Vereidigung verweigern kann,
wird ihm geradezu die Wahl gelassen, ob er die Wahrheit oder die Unwahrheit sagen will.
Die Meineidpest.

und die Zivilprozeßordnung (§ 259): „Das Gericht hat unter Berücksichtigung
des gesamten Inhalts der Verhandlungen und des Ergebnisses einer etwaigen
Beweisaufnahme nach freier Überzeugung zu entscheiden, ob eine thatsächliche
Behauptung für wahr oder für uicht wahr zu erachten sei. In dem Urteile
find die Gründe anzugeben, welche für die richterliche Überzeugung leitend ge¬
wesen sind. An gesetzliche Beweisregeln ist das Gericht nur ip den durch
dieses Gesetz bezeichneten Fällen gebunden." Solche Vcweisrege'in giebt das
Gesetz insbesondre in Bezug auf den Urkundenbeweis und den Beweis durch
Eid. Der erstere interessirt uns hier nicht weiter, es genügt die Bemerkung,
daß das Gesetz hier kaum irgend andre Vorschriften giebt, als welche sich aus
der Natur der Sache rechtfertigen; auf die Bestimmungen über den Eid wird
sofort zurückzukommen sein.

Ich sagte: die Reichsgesetzgebung sei im wesentlichen zu dem Beweissystem
des klassischen römischen Rechtes zurückgekehrt. Ju zwei für unsre Frage be¬
deutungsvollen Punkten weicht sie jedoch von demselben ab. Der eine betrifft
den Zcugenbeweis im Straf- und im Zivilprozesse; in der Würdigung der
Zeugenaussagen ist der Richter an sich nicht beschränkt; aber das Gesetz ent¬
hält — abweichend vom römischen Rechte — die Vorschrift, daß jeder eides¬
fähige Zeuge (wofern nicht im Zivilprozesse hierauf verzichtet wird) vereidigt
werden muß; daneben aber ist zu beachten: gewisse Personen dürfen als Zeugen
nicht vereidigt werden (Kinder, Geistesschwache, wegen Meineids verurteilte;
im Strafverfahren: Mitschuldige des Angeklagten); bei andern Personen steht
es im Ermessen des Gerichts, ob es dieselben auf ihre Aussagen vereidigen
will; dahin gehören insbesondre gewisse nahe Verwandte des Angeklagten oder
der Parteien; es besteht aber hier ein Unterschied zwischen Straf- und Zivil¬
verfahren; hier wie dort sind diese Personen zur Verweigerung des Zeugnisses
berechtigt; lassen sie sich zum Zeugnisse herbei, so find sie im Zivilprozesse
zunächst uuvereidigt zu vernehmen, das Gericht kaun aber ihre nachträgliche
Vereidigung beschließen; im Strafprozesse dagegen hat das Gericht die Wahl,
wenn sie zum Zeugnis bereit sind, sie sofort zu vereidigen oder sie zunächst uu¬
vereidigt zu vernehmen und hiernach zu vereidigen oder auch diese nachträgliche
Vereidigung zu unterlassen; die betreffenden Personen selbst aber haben hier
noch das weitere Recht, auch nach der Vernehmung die Vereidigung ihres
Zeugnisses zu verweigern.") Darüber, welche Beweiskraft dem Zeugnisse eides¬
unfähiger Personen und dem uubeschworeuen Zeugnisse der zur Verweigerung
berechtigten Personen zukomme, giebt weder die Zivil-, noch die Strafprozeß-
ordnung Vorschriften: hierüber entscheidet das freie richterliche Ermessen.



Eine übertriebene Milde. Es ist vollkommen genug, wenn dem Verwandten die
Wahl gelassen wird, ob er Zeugnis ablegen will oder nicht; mit der gesetzlichen Bestimmung,
daß er, auch wenn er Zeugnis abzulegen sich entschließt, dessen Vereidigung verweigern kann,
wird ihm geradezu die Wahl gelassen, ob er die Wahrheit oder die Unwahrheit sagen will.
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[0356] Die Meineidpest. und die Zivilprozeßordnung (§ 259): „Das Gericht hat unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlungen und des Ergebnisses einer etwaigen Beweisaufnahme nach freier Überzeugung zu entscheiden, ob eine thatsächliche Behauptung für wahr oder für uicht wahr zu erachten sei. In dem Urteile find die Gründe anzugeben, welche für die richterliche Überzeugung leitend ge¬ wesen sind. An gesetzliche Beweisregeln ist das Gericht nur ip den durch dieses Gesetz bezeichneten Fällen gebunden." Solche Vcweisrege'in giebt das Gesetz insbesondre in Bezug auf den Urkundenbeweis und den Beweis durch Eid. Der erstere interessirt uns hier nicht weiter, es genügt die Bemerkung, daß das Gesetz hier kaum irgend andre Vorschriften giebt, als welche sich aus der Natur der Sache rechtfertigen; auf die Bestimmungen über den Eid wird sofort zurückzukommen sein. Ich sagte: die Reichsgesetzgebung sei im wesentlichen zu dem Beweissystem des klassischen römischen Rechtes zurückgekehrt. Ju zwei für unsre Frage be¬ deutungsvollen Punkten weicht sie jedoch von demselben ab. Der eine betrifft den Zcugenbeweis im Straf- und im Zivilprozesse; in der Würdigung der Zeugenaussagen ist der Richter an sich nicht beschränkt; aber das Gesetz ent¬ hält — abweichend vom römischen Rechte — die Vorschrift, daß jeder eides¬ fähige Zeuge (wofern nicht im Zivilprozesse hierauf verzichtet wird) vereidigt werden muß; daneben aber ist zu beachten: gewisse Personen dürfen als Zeugen nicht vereidigt werden (Kinder, Geistesschwache, wegen Meineids verurteilte; im Strafverfahren: Mitschuldige des Angeklagten); bei andern Personen steht es im Ermessen des Gerichts, ob es dieselben auf ihre Aussagen vereidigen will; dahin gehören insbesondre gewisse nahe Verwandte des Angeklagten oder der Parteien; es besteht aber hier ein Unterschied zwischen Straf- und Zivil¬ verfahren; hier wie dort sind diese Personen zur Verweigerung des Zeugnisses berechtigt; lassen sie sich zum Zeugnisse herbei, so find sie im Zivilprozesse zunächst uuvereidigt zu vernehmen, das Gericht kaun aber ihre nachträgliche Vereidigung beschließen; im Strafprozesse dagegen hat das Gericht die Wahl, wenn sie zum Zeugnis bereit sind, sie sofort zu vereidigen oder sie zunächst uu¬ vereidigt zu vernehmen und hiernach zu vereidigen oder auch diese nachträgliche Vereidigung zu unterlassen; die betreffenden Personen selbst aber haben hier noch das weitere Recht, auch nach der Vernehmung die Vereidigung ihres Zeugnisses zu verweigern.") Darüber, welche Beweiskraft dem Zeugnisse eides¬ unfähiger Personen und dem uubeschworeuen Zeugnisse der zur Verweigerung berechtigten Personen zukomme, giebt weder die Zivil-, noch die Strafprozeß- ordnung Vorschriften: hierüber entscheidet das freie richterliche Ermessen. Eine übertriebene Milde. Es ist vollkommen genug, wenn dem Verwandten die Wahl gelassen wird, ob er Zeugnis ablegen will oder nicht; mit der gesetzlichen Bestimmung, daß er, auch wenn er Zeugnis abzulegen sich entschließt, dessen Vereidigung verweigern kann, wird ihm geradezu die Wahl gelassen, ob er die Wahrheit oder die Unwahrheit sagen will.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198719/356>, abgerufen am 22.07.2024.