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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal.

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Die Meineidpost.

"Was ist Wahrheit?" Was der Richter bei der sorgfältigsten Prüfung als
Wahrheit feststellt, ist im Grunde doch immer nur im besten Falle der höchste
Grad von Wahrscheinlichkeit. Begreiflich genug, daß zu manchen Zeiten der
Gesetzgeber Bedenken trug, deu Richter mit der verantwortungsvollen Aufgabe
der vollkommen freien Bewciswürdigung zu belasten oder zu betrauen. Zu dem
Prinzip der formellen Wahrheit, d. i. zu Gottesurteil und Zweikampf, konnte
er aber selbstverständlich nicht zurückkehren, und so begegnen wir in dem aus
römischem, kanonischen und germanischem Rechte gemischten sogenannten gemeinen
Rechte, wie es bis weit in unser Jahrhundert herein in Deutschland teils un¬
mittelbar galt, teils die Grundlage der Partiknlarrcchte bildete, einem gemischten
System: das Verfahren sollte die materielle Wahrheit zu Tage fördern, aber
der Richter war bei deren Erforschung an gewisse formelle Vorschriften ge¬
bunden, die allerdings einerseits seiner Willkür Schranken zogen, anderseits aber
auch vielfach dem Siege des materiellen Rechtes Hindernisse bereiteten. Dem
namentlich für das Strafverfahren bedeutungsvollen Beweise aus Anzeigen
(Indizienbeweis) begegnete dieses System mit Mißtrauen: im Strafverfahren
wurde vielfach gegen den bloß durch Indizienbeweis überführten Verbrecher auf
eine xovim extnwrÄiinu'in, auf eine leichtere Strafe erkannt, als wie sie gegen
die geständigen oder durch Zeugen überführten Verbrecher verhängt wurde; der
Zivilrichter aber griff im Falle eines solchen Beweises regelmäßig zum richter¬
lichen (Ergnnzungs- oder Neinigungs-) Eide. Auch in der Würdigung des
Zeugeneides war der Richter beschränkt: die von Mephistopheles formulirte Regel:
"Durch zweier Zeugen Mund wird nllerwärts die Wahrheit kund" ist all¬
bekannt, aber noch nicht genau genug: die zwei Zeugen mußten, um vollen
Beweis zu schaffen, "klassische," d. h. in jeder Beziehung unverdächtige Zeugen
und mußten vereidigt sein. Die Aufgabe des Richters, zum mindesten des
geistestrügen Richters, wurde durch dieses System wesentlich erleichtert; die
Trägheit ist -- wie die Physik lehrt -- auch eine Gewalt, und sie hat nicht
versäumt, das System für sich auszubeuten; wenn zwei klassische Zeugen vollen
"der ganzen Beweis schufen, was lag da näher als der Satz, daß ein klassischer
Zeuge halbe" Beweis liefere? Einem verdächtigen Zeugen schrieb man die halbe
Beweiskraft gegenüber einem klassischen Zeugen zu, er erbrachte also einen
Viertelbeweis: so verwandelte sich die schwierige Beweiswürdigung in ein ein¬
faches Rechenexempel; ein Bruch bereitete keine Schwierigkeit, je nachdem er
größer oder kleiner als ein "halber Beweis" war, wurde auf einen Erfüllungseid
des Beweisführcrs oder auf eiuen Neinigungseid seines Gegners erkannt.

So ließ auch dieses Beweissystem ziemlich viel zu wünschen übrig. Die
Reichsgesetzgebung ist um im wesentlichen zu der Anschauung des klassische"
rönüschm Rechtes zurückgekehrt, denn es bestimmt die Strafprozeßordmmg
C 260): "Über das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach
seiner freien, aus dem Inbegriffe der Verhandlung geschöpften Überzeugung,"


Die Meineidpost.

„Was ist Wahrheit?" Was der Richter bei der sorgfältigsten Prüfung als
Wahrheit feststellt, ist im Grunde doch immer nur im besten Falle der höchste
Grad von Wahrscheinlichkeit. Begreiflich genug, daß zu manchen Zeiten der
Gesetzgeber Bedenken trug, deu Richter mit der verantwortungsvollen Aufgabe
der vollkommen freien Bewciswürdigung zu belasten oder zu betrauen. Zu dem
Prinzip der formellen Wahrheit, d. i. zu Gottesurteil und Zweikampf, konnte
er aber selbstverständlich nicht zurückkehren, und so begegnen wir in dem aus
römischem, kanonischen und germanischem Rechte gemischten sogenannten gemeinen
Rechte, wie es bis weit in unser Jahrhundert herein in Deutschland teils un¬
mittelbar galt, teils die Grundlage der Partiknlarrcchte bildete, einem gemischten
System: das Verfahren sollte die materielle Wahrheit zu Tage fördern, aber
der Richter war bei deren Erforschung an gewisse formelle Vorschriften ge¬
bunden, die allerdings einerseits seiner Willkür Schranken zogen, anderseits aber
auch vielfach dem Siege des materiellen Rechtes Hindernisse bereiteten. Dem
namentlich für das Strafverfahren bedeutungsvollen Beweise aus Anzeigen
(Indizienbeweis) begegnete dieses System mit Mißtrauen: im Strafverfahren
wurde vielfach gegen den bloß durch Indizienbeweis überführten Verbrecher auf
eine xovim extnwrÄiinu'in, auf eine leichtere Strafe erkannt, als wie sie gegen
die geständigen oder durch Zeugen überführten Verbrecher verhängt wurde; der
Zivilrichter aber griff im Falle eines solchen Beweises regelmäßig zum richter¬
lichen (Ergnnzungs- oder Neinigungs-) Eide. Auch in der Würdigung des
Zeugeneides war der Richter beschränkt: die von Mephistopheles formulirte Regel:
„Durch zweier Zeugen Mund wird nllerwärts die Wahrheit kund" ist all¬
bekannt, aber noch nicht genau genug: die zwei Zeugen mußten, um vollen
Beweis zu schaffen, „klassische," d. h. in jeder Beziehung unverdächtige Zeugen
und mußten vereidigt sein. Die Aufgabe des Richters, zum mindesten des
geistestrügen Richters, wurde durch dieses System wesentlich erleichtert; die
Trägheit ist — wie die Physik lehrt — auch eine Gewalt, und sie hat nicht
versäumt, das System für sich auszubeuten; wenn zwei klassische Zeugen vollen
»der ganzen Beweis schufen, was lag da näher als der Satz, daß ein klassischer
Zeuge halbe» Beweis liefere? Einem verdächtigen Zeugen schrieb man die halbe
Beweiskraft gegenüber einem klassischen Zeugen zu, er erbrachte also einen
Viertelbeweis: so verwandelte sich die schwierige Beweiswürdigung in ein ein¬
faches Rechenexempel; ein Bruch bereitete keine Schwierigkeit, je nachdem er
größer oder kleiner als ein „halber Beweis" war, wurde auf einen Erfüllungseid
des Beweisführcrs oder auf eiuen Neinigungseid seines Gegners erkannt.

So ließ auch dieses Beweissystem ziemlich viel zu wünschen übrig. Die
Reichsgesetzgebung ist um im wesentlichen zu der Anschauung des klassische»
rönüschm Rechtes zurückgekehrt, denn es bestimmt die Strafprozeßordmmg
C 260): „Über das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach
seiner freien, aus dem Inbegriffe der Verhandlung geschöpften Überzeugung,"


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[0355] Die Meineidpost. „Was ist Wahrheit?" Was der Richter bei der sorgfältigsten Prüfung als Wahrheit feststellt, ist im Grunde doch immer nur im besten Falle der höchste Grad von Wahrscheinlichkeit. Begreiflich genug, daß zu manchen Zeiten der Gesetzgeber Bedenken trug, deu Richter mit der verantwortungsvollen Aufgabe der vollkommen freien Bewciswürdigung zu belasten oder zu betrauen. Zu dem Prinzip der formellen Wahrheit, d. i. zu Gottesurteil und Zweikampf, konnte er aber selbstverständlich nicht zurückkehren, und so begegnen wir in dem aus römischem, kanonischen und germanischem Rechte gemischten sogenannten gemeinen Rechte, wie es bis weit in unser Jahrhundert herein in Deutschland teils un¬ mittelbar galt, teils die Grundlage der Partiknlarrcchte bildete, einem gemischten System: das Verfahren sollte die materielle Wahrheit zu Tage fördern, aber der Richter war bei deren Erforschung an gewisse formelle Vorschriften ge¬ bunden, die allerdings einerseits seiner Willkür Schranken zogen, anderseits aber auch vielfach dem Siege des materiellen Rechtes Hindernisse bereiteten. Dem namentlich für das Strafverfahren bedeutungsvollen Beweise aus Anzeigen (Indizienbeweis) begegnete dieses System mit Mißtrauen: im Strafverfahren wurde vielfach gegen den bloß durch Indizienbeweis überführten Verbrecher auf eine xovim extnwrÄiinu'in, auf eine leichtere Strafe erkannt, als wie sie gegen die geständigen oder durch Zeugen überführten Verbrecher verhängt wurde; der Zivilrichter aber griff im Falle eines solchen Beweises regelmäßig zum richter¬ lichen (Ergnnzungs- oder Neinigungs-) Eide. Auch in der Würdigung des Zeugeneides war der Richter beschränkt: die von Mephistopheles formulirte Regel: „Durch zweier Zeugen Mund wird nllerwärts die Wahrheit kund" ist all¬ bekannt, aber noch nicht genau genug: die zwei Zeugen mußten, um vollen Beweis zu schaffen, „klassische," d. h. in jeder Beziehung unverdächtige Zeugen und mußten vereidigt sein. Die Aufgabe des Richters, zum mindesten des geistestrügen Richters, wurde durch dieses System wesentlich erleichtert; die Trägheit ist — wie die Physik lehrt — auch eine Gewalt, und sie hat nicht versäumt, das System für sich auszubeuten; wenn zwei klassische Zeugen vollen »der ganzen Beweis schufen, was lag da näher als der Satz, daß ein klassischer Zeuge halbe» Beweis liefere? Einem verdächtigen Zeugen schrieb man die halbe Beweiskraft gegenüber einem klassischen Zeugen zu, er erbrachte also einen Viertelbeweis: so verwandelte sich die schwierige Beweiswürdigung in ein ein¬ faches Rechenexempel; ein Bruch bereitete keine Schwierigkeit, je nachdem er größer oder kleiner als ein „halber Beweis" war, wurde auf einen Erfüllungseid des Beweisführcrs oder auf eiuen Neinigungseid seines Gegners erkannt. So ließ auch dieses Beweissystem ziemlich viel zu wünschen übrig. Die Reichsgesetzgebung ist um im wesentlichen zu der Anschauung des klassische» rönüschm Rechtes zurückgekehrt, denn es bestimmt die Strafprozeßordmmg C 260): „Über das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Inbegriffe der Verhandlung geschöpften Überzeugung,"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198719/355>, abgerufen am 22.07.2024.