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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal.

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Die Moineidpest.

des Zeugeneids; sie war denn auch früher nur für den Parteiencid vorge¬
schrieben, ihre Wirkung aber auch hier eine äußerst bescheidene; wenn infolge
der geistlichen Ermahnung in einem Falle nnter hundert der Eid verweigert
worden ist, so wird es viel gewesen sein (denn nicht jede erfolgte Verweigerung
durfte man auf die Rechnung jener Belehrung setzen); und anderseits wäre es
oft fast notwendig gewesen, daß, ehe der Geistliche den Schwurpflichtigen über
die Heiligkeit des Eides (w "bstraoto) belehrte, der Richter den Geistlichen über
Sinn und Bedeutung des (in vouorsw) auferlegten Eides belehrt hätte. Daß
bei der Abnahme eines Eides stets mit dem der Bedeutung des Aktes ent¬
sprechenden Ernst verfahren werde, ist ein berechtigtes Verlangen; aber von
allen jährlich wegen Meineids verurteilten werden nur außerordentlich wenige
sich damit entschuldigen können, daß ihnen wegen der mangelnden Feierlichkeit
die Heiligkeit des Eides nicht zum Bewußtsein gekommen sei.

Nicht in den: Verfahren bei der Abnahme, sondern in den Bestimmungen
über die Auflage des Eides ist nach meiner Überzeugung der Hauptgrund für
die Zunahme der Meineide zu finden; in den Bestimmungen unsrer neueren
und neuesten Gesetzgebung, in der Behandlung des Eides vor allem in den
neuen Prozeßgesctzeu, zum Teil auch im Strafgesetzbuch. Die Gesetze siud oder
sollen sein ein Mittel zur Erziehung des Volkes; wie eine verkehrte, unvernünftige
Erziehung Vonseiten der Eltern regelmäßig die Folge hat, daß die Kinder
nicht unvernünftig, sondern unmoralisch werden, so kann auch eine verkehrte
Gesetzgebung kaum einen andern Erfolg haben als die sittliche Schädigung des
Volkslebens.

Alles gerichtliche Verfahren bezweckt die Herrschaft von Recht und Wahrheit;
die Mittel zur Erreichung dieses Zweckes waren aber zu verschiednen Zeiten
sehr verschiedne, je nach dem, was die verschiednen Zeiten unter "Wahrheit"
verstanden. Im Jugendalter, in der naiven Zeit des Rechtslebens, wie sie sich
M den Quellen des altgermanischen Rechtes spiegelt, herrschte der Begriff der
formellen Wahrheit: gewisse äußerliche, von Gesetz oder Herkommen geheiligte
Vorgänge entschieden darüber, was Recht sei, wer Recht habe; die Beweismittel
dieser Zeit waren Eideshelfer, Gottesurteil, Zweikampf. Die Eideshelfer waren
keine Zeugen in unserm Sinne des Worts; sie schwuren nicht über die Wahrheit
und Unwahrheit von Thatsachen, ans denen der Richter die Entscheidung über
Necht und Unrecht hätte entnehmen müssen, es war garnicht erforderlich, daß
sie die streitigen Thatsachen selbst wahrgenommen hatten, sie schwuren vielmehr
unmittelbar ans das Recht des Klägers oder des Beklagten, genauer: auf ihre
Überzeugung von diesem Recht. Einfach war hierbei die Stellung des Richters:
an seinen Scharfsinn wurden die geringsten Anforderungen gestellt, seiner
Willkür waren die engsten Schranken gezogen; er hatte zu prüfen, ob die Eides¬
helfer in genügender Zahl vorhanden und ob sie unbescholtene, eidesfähigc
Männer waren; er hatte darüber zu wachen, daß beim Gottesurteil kein Betrug


Grenzboten III. 1886. 44
Die Moineidpest.

des Zeugeneids; sie war denn auch früher nur für den Parteiencid vorge¬
schrieben, ihre Wirkung aber auch hier eine äußerst bescheidene; wenn infolge
der geistlichen Ermahnung in einem Falle nnter hundert der Eid verweigert
worden ist, so wird es viel gewesen sein (denn nicht jede erfolgte Verweigerung
durfte man auf die Rechnung jener Belehrung setzen); und anderseits wäre es
oft fast notwendig gewesen, daß, ehe der Geistliche den Schwurpflichtigen über
die Heiligkeit des Eides (w »bstraoto) belehrte, der Richter den Geistlichen über
Sinn und Bedeutung des (in vouorsw) auferlegten Eides belehrt hätte. Daß
bei der Abnahme eines Eides stets mit dem der Bedeutung des Aktes ent¬
sprechenden Ernst verfahren werde, ist ein berechtigtes Verlangen; aber von
allen jährlich wegen Meineids verurteilten werden nur außerordentlich wenige
sich damit entschuldigen können, daß ihnen wegen der mangelnden Feierlichkeit
die Heiligkeit des Eides nicht zum Bewußtsein gekommen sei.

Nicht in den: Verfahren bei der Abnahme, sondern in den Bestimmungen
über die Auflage des Eides ist nach meiner Überzeugung der Hauptgrund für
die Zunahme der Meineide zu finden; in den Bestimmungen unsrer neueren
und neuesten Gesetzgebung, in der Behandlung des Eides vor allem in den
neuen Prozeßgesctzeu, zum Teil auch im Strafgesetzbuch. Die Gesetze siud oder
sollen sein ein Mittel zur Erziehung des Volkes; wie eine verkehrte, unvernünftige
Erziehung Vonseiten der Eltern regelmäßig die Folge hat, daß die Kinder
nicht unvernünftig, sondern unmoralisch werden, so kann auch eine verkehrte
Gesetzgebung kaum einen andern Erfolg haben als die sittliche Schädigung des
Volkslebens.

Alles gerichtliche Verfahren bezweckt die Herrschaft von Recht und Wahrheit;
die Mittel zur Erreichung dieses Zweckes waren aber zu verschiednen Zeiten
sehr verschiedne, je nach dem, was die verschiednen Zeiten unter „Wahrheit"
verstanden. Im Jugendalter, in der naiven Zeit des Rechtslebens, wie sie sich
M den Quellen des altgermanischen Rechtes spiegelt, herrschte der Begriff der
formellen Wahrheit: gewisse äußerliche, von Gesetz oder Herkommen geheiligte
Vorgänge entschieden darüber, was Recht sei, wer Recht habe; die Beweismittel
dieser Zeit waren Eideshelfer, Gottesurteil, Zweikampf. Die Eideshelfer waren
keine Zeugen in unserm Sinne des Worts; sie schwuren nicht über die Wahrheit
und Unwahrheit von Thatsachen, ans denen der Richter die Entscheidung über
Necht und Unrecht hätte entnehmen müssen, es war garnicht erforderlich, daß
sie die streitigen Thatsachen selbst wahrgenommen hatten, sie schwuren vielmehr
unmittelbar ans das Recht des Klägers oder des Beklagten, genauer: auf ihre
Überzeugung von diesem Recht. Einfach war hierbei die Stellung des Richters:
an seinen Scharfsinn wurden die geringsten Anforderungen gestellt, seiner
Willkür waren die engsten Schranken gezogen; er hatte zu prüfen, ob die Eides¬
helfer in genügender Zahl vorhanden und ob sie unbescholtene, eidesfähigc
Männer waren; er hatte darüber zu wachen, daß beim Gottesurteil kein Betrug


Grenzboten III. 1886. 44
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[0353] Die Moineidpest. des Zeugeneids; sie war denn auch früher nur für den Parteiencid vorge¬ schrieben, ihre Wirkung aber auch hier eine äußerst bescheidene; wenn infolge der geistlichen Ermahnung in einem Falle nnter hundert der Eid verweigert worden ist, so wird es viel gewesen sein (denn nicht jede erfolgte Verweigerung durfte man auf die Rechnung jener Belehrung setzen); und anderseits wäre es oft fast notwendig gewesen, daß, ehe der Geistliche den Schwurpflichtigen über die Heiligkeit des Eides (w »bstraoto) belehrte, der Richter den Geistlichen über Sinn und Bedeutung des (in vouorsw) auferlegten Eides belehrt hätte. Daß bei der Abnahme eines Eides stets mit dem der Bedeutung des Aktes ent¬ sprechenden Ernst verfahren werde, ist ein berechtigtes Verlangen; aber von allen jährlich wegen Meineids verurteilten werden nur außerordentlich wenige sich damit entschuldigen können, daß ihnen wegen der mangelnden Feierlichkeit die Heiligkeit des Eides nicht zum Bewußtsein gekommen sei. Nicht in den: Verfahren bei der Abnahme, sondern in den Bestimmungen über die Auflage des Eides ist nach meiner Überzeugung der Hauptgrund für die Zunahme der Meineide zu finden; in den Bestimmungen unsrer neueren und neuesten Gesetzgebung, in der Behandlung des Eides vor allem in den neuen Prozeßgesctzeu, zum Teil auch im Strafgesetzbuch. Die Gesetze siud oder sollen sein ein Mittel zur Erziehung des Volkes; wie eine verkehrte, unvernünftige Erziehung Vonseiten der Eltern regelmäßig die Folge hat, daß die Kinder nicht unvernünftig, sondern unmoralisch werden, so kann auch eine verkehrte Gesetzgebung kaum einen andern Erfolg haben als die sittliche Schädigung des Volkslebens. Alles gerichtliche Verfahren bezweckt die Herrschaft von Recht und Wahrheit; die Mittel zur Erreichung dieses Zweckes waren aber zu verschiednen Zeiten sehr verschiedne, je nach dem, was die verschiednen Zeiten unter „Wahrheit" verstanden. Im Jugendalter, in der naiven Zeit des Rechtslebens, wie sie sich M den Quellen des altgermanischen Rechtes spiegelt, herrschte der Begriff der formellen Wahrheit: gewisse äußerliche, von Gesetz oder Herkommen geheiligte Vorgänge entschieden darüber, was Recht sei, wer Recht habe; die Beweismittel dieser Zeit waren Eideshelfer, Gottesurteil, Zweikampf. Die Eideshelfer waren keine Zeugen in unserm Sinne des Worts; sie schwuren nicht über die Wahrheit und Unwahrheit von Thatsachen, ans denen der Richter die Entscheidung über Necht und Unrecht hätte entnehmen müssen, es war garnicht erforderlich, daß sie die streitigen Thatsachen selbst wahrgenommen hatten, sie schwuren vielmehr unmittelbar ans das Recht des Klägers oder des Beklagten, genauer: auf ihre Überzeugung von diesem Recht. Einfach war hierbei die Stellung des Richters: an seinen Scharfsinn wurden die geringsten Anforderungen gestellt, seiner Willkür waren die engsten Schranken gezogen; er hatte zu prüfen, ob die Eides¬ helfer in genügender Zahl vorhanden und ob sie unbescholtene, eidesfähigc Männer waren; er hatte darüber zu wachen, daß beim Gottesurteil kein Betrug Grenzboten III. 1886. 44

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198719/353>, abgerufen am 24.08.2024.