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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal.

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Die Meineidpest.

Das ist des Deutschen Vaterland,
Wo Eide schwört ein Druck der! Hand!

o hat einst E. M, Arndt gesungen, und Tausende haben es ihm
nachgesungen. Würde Arndt auch heute so singen? Dürfen wir
heute so singen angesichts der durch ganz Deutschland hallenden
Klage über die erschreckende Zunahme der Meineide?

Die Klage ist wohl begründet, darüber kann kein Zweifel
bestehen; auf der Versammlung des deutschen Juristeutages im Jahre 1884
machte der Landgerichtspräsident Bardeleben von Berlin die Mitteilung, daß in
drei Jahren vor dem Berliner Schwurgericht 255 Personen wegen Meineids
angeklagt, 150 freigesprochen, 105 verurteilt worden sind; das ergiebt auf ein
Jahr 35 Verurteilungen, allein in Berlin; da Berlins Bevölkerung etwa den
vierzigsten Teil der Bevölkerung Deutschlands bildet, so darf man auf ganz
Deutschland jährlich etwa 1400 Verurteilungen wegen Meineids rechnen.

Auch ohne Eid darf mau dem Worte des Deutschen vertrauen, an die
Wahrheit seines Zeugnisses glaube", auf sein Versprechen bauen, sagt Arndts
Lied; trotz eines geleisteten Eides kann man in taufenden von Fällen dem Worte
des Deutschen nicht vertrauen, darf man an die Wahrheit seines Zeugnisses nicht
glauben, muß man auf den Bruch seines Versprechens gefaßt sein, sagen die
unerbittlichen Zahlen; denn den 1000 oder 1400 Verurteilungen wegen Meineids
steht -- dies bringt die Natur des Verbrechens mit sich -- ein unbestimmbares
Vielfaches von Fällen unbestraften Meineids zur Seite.

Woher das Übel? Und wie ihm steuern? Antworten auf die erste, Rat¬
schläge in Bezug auf die zweite Frage sind schon vielfach gegeben worden. Die
Antworten führen das Übel meist auf zunehmende Verwilderung und Irreligio¬
sität des Volkes zurück, und dementsprechend lauten auch die meisten Vorschläge
zur Abhilfe; so ist z. B. erst kürzlich in der würtembergischen Lcmdessyuode
der Wunsch geäußert worden, es möge die pfarramtliche Belehrung der Schwur¬
pflichtigen wieder eingeführt werden. Ob wirklich Verwilderung der Sitten und
Irreligiosität im Laufe der letzten zehn, zwanzig oder dreißig Jahre in demselben
Verhältnis gewachsen sind wie die Zahl der Meineide, möchte ich bezweifeln;
daß Kirche und Schule berufen sind, den Sinn für Wahrheit und fiir die Heiligkeit
des Eides zu bilden und zu pflegen, wird niemand bestreiten; aber daß die Be¬
teiligung der Kirche an den Eidesabnahmcn die Zahl der Meineide auch nur
um ein Prozent vermindern würde, glaube ich uicht; in der ungeheuern Mehrzahl
der Fälle wäre diese Eidesbelehrung kaum ausführbar, nämlich in allen Fällen


Die Meineidpest.

Das ist des Deutschen Vaterland,
Wo Eide schwört ein Druck der! Hand!

o hat einst E. M, Arndt gesungen, und Tausende haben es ihm
nachgesungen. Würde Arndt auch heute so singen? Dürfen wir
heute so singen angesichts der durch ganz Deutschland hallenden
Klage über die erschreckende Zunahme der Meineide?

Die Klage ist wohl begründet, darüber kann kein Zweifel
bestehen; auf der Versammlung des deutschen Juristeutages im Jahre 1884
machte der Landgerichtspräsident Bardeleben von Berlin die Mitteilung, daß in
drei Jahren vor dem Berliner Schwurgericht 255 Personen wegen Meineids
angeklagt, 150 freigesprochen, 105 verurteilt worden sind; das ergiebt auf ein
Jahr 35 Verurteilungen, allein in Berlin; da Berlins Bevölkerung etwa den
vierzigsten Teil der Bevölkerung Deutschlands bildet, so darf man auf ganz
Deutschland jährlich etwa 1400 Verurteilungen wegen Meineids rechnen.

Auch ohne Eid darf mau dem Worte des Deutschen vertrauen, an die
Wahrheit seines Zeugnisses glaube», auf sein Versprechen bauen, sagt Arndts
Lied; trotz eines geleisteten Eides kann man in taufenden von Fällen dem Worte
des Deutschen nicht vertrauen, darf man an die Wahrheit seines Zeugnisses nicht
glauben, muß man auf den Bruch seines Versprechens gefaßt sein, sagen die
unerbittlichen Zahlen; denn den 1000 oder 1400 Verurteilungen wegen Meineids
steht — dies bringt die Natur des Verbrechens mit sich — ein unbestimmbares
Vielfaches von Fällen unbestraften Meineids zur Seite.

Woher das Übel? Und wie ihm steuern? Antworten auf die erste, Rat¬
schläge in Bezug auf die zweite Frage sind schon vielfach gegeben worden. Die
Antworten führen das Übel meist auf zunehmende Verwilderung und Irreligio¬
sität des Volkes zurück, und dementsprechend lauten auch die meisten Vorschläge
zur Abhilfe; so ist z. B. erst kürzlich in der würtembergischen Lcmdessyuode
der Wunsch geäußert worden, es möge die pfarramtliche Belehrung der Schwur¬
pflichtigen wieder eingeführt werden. Ob wirklich Verwilderung der Sitten und
Irreligiosität im Laufe der letzten zehn, zwanzig oder dreißig Jahre in demselben
Verhältnis gewachsen sind wie die Zahl der Meineide, möchte ich bezweifeln;
daß Kirche und Schule berufen sind, den Sinn für Wahrheit und fiir die Heiligkeit
des Eides zu bilden und zu pflegen, wird niemand bestreiten; aber daß die Be¬
teiligung der Kirche an den Eidesabnahmcn die Zahl der Meineide auch nur
um ein Prozent vermindern würde, glaube ich uicht; in der ungeheuern Mehrzahl
der Fälle wäre diese Eidesbelehrung kaum ausführbar, nämlich in allen Fällen


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[0352] Die Meineidpest. Das ist des Deutschen Vaterland, Wo Eide schwört ein Druck der! Hand! o hat einst E. M, Arndt gesungen, und Tausende haben es ihm nachgesungen. Würde Arndt auch heute so singen? Dürfen wir heute so singen angesichts der durch ganz Deutschland hallenden Klage über die erschreckende Zunahme der Meineide? Die Klage ist wohl begründet, darüber kann kein Zweifel bestehen; auf der Versammlung des deutschen Juristeutages im Jahre 1884 machte der Landgerichtspräsident Bardeleben von Berlin die Mitteilung, daß in drei Jahren vor dem Berliner Schwurgericht 255 Personen wegen Meineids angeklagt, 150 freigesprochen, 105 verurteilt worden sind; das ergiebt auf ein Jahr 35 Verurteilungen, allein in Berlin; da Berlins Bevölkerung etwa den vierzigsten Teil der Bevölkerung Deutschlands bildet, so darf man auf ganz Deutschland jährlich etwa 1400 Verurteilungen wegen Meineids rechnen. Auch ohne Eid darf mau dem Worte des Deutschen vertrauen, an die Wahrheit seines Zeugnisses glaube», auf sein Versprechen bauen, sagt Arndts Lied; trotz eines geleisteten Eides kann man in taufenden von Fällen dem Worte des Deutschen nicht vertrauen, darf man an die Wahrheit seines Zeugnisses nicht glauben, muß man auf den Bruch seines Versprechens gefaßt sein, sagen die unerbittlichen Zahlen; denn den 1000 oder 1400 Verurteilungen wegen Meineids steht — dies bringt die Natur des Verbrechens mit sich — ein unbestimmbares Vielfaches von Fällen unbestraften Meineids zur Seite. Woher das Übel? Und wie ihm steuern? Antworten auf die erste, Rat¬ schläge in Bezug auf die zweite Frage sind schon vielfach gegeben worden. Die Antworten führen das Übel meist auf zunehmende Verwilderung und Irreligio¬ sität des Volkes zurück, und dementsprechend lauten auch die meisten Vorschläge zur Abhilfe; so ist z. B. erst kürzlich in der würtembergischen Lcmdessyuode der Wunsch geäußert worden, es möge die pfarramtliche Belehrung der Schwur¬ pflichtigen wieder eingeführt werden. Ob wirklich Verwilderung der Sitten und Irreligiosität im Laufe der letzten zehn, zwanzig oder dreißig Jahre in demselben Verhältnis gewachsen sind wie die Zahl der Meineide, möchte ich bezweifeln; daß Kirche und Schule berufen sind, den Sinn für Wahrheit und fiir die Heiligkeit des Eides zu bilden und zu pflegen, wird niemand bestreiten; aber daß die Be¬ teiligung der Kirche an den Eidesabnahmcn die Zahl der Meineide auch nur um ein Prozent vermindern würde, glaube ich uicht; in der ungeheuern Mehrzahl der Fälle wäre diese Eidesbelehrung kaum ausführbar, nämlich in allen Fällen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198719/352>, abgerufen am 22.07.2024.