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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal.

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und kirchlichen Kreisen sich bewegten, dann aber breitere Schichten des Volkes
ergriffen, den hierarchisch-politische" Charakter fast ganz verloren und zu einer
sozial-politischen, die lvestliche Kultur leidenschaftlich anfeindenden und bedrohenden
Masseuagitativu wurden. Dieses Hinabsteigen des Chauvinismus aus den höhern
klerikalen und Hofkreisen in das Volk fand schon unter dem ersten Alexander
statt und hatte in dem Dekabristeuaufstnnde von 1825, der die Errichtung eines
Bundes slawischer Republiken unter der Hegemonie Rußlands zum Ziele hatte, seinen
Praktischen Ausdruck. Daran schlössen sich in den dreißiger Jahren in Gestalt
theologisch-philosophischer Velleitäten die Bestrebungen der ersten Moskaner
Slawophilen, der Kirejcwskh, Aksakoff und Chomjakow, die ihre Spitze bereits
deutlich gegen die westliche Bildung und Sitte kehrten, und bei denen zugleich
in verschwommener Weise an eine Umgestaltung des russischen Staates im demo¬
kratischen Sinne gedacht war. Zar Nikolaus hatte die Dekabristen rücksichts¬
los niedergeworfen, er maßregelte streng auch die Erzväter des Slawophilen-
tums, aber deren Ideen verbreiteten sich weiter und nahmen dabei eine immer
entschiedenere revolutionäre Farbe an. In einem verwandten Ideenkreise be¬
wegten sich die Mitglieder der Genossenschaft, deren Mittelpunkt Petraschewsky
war, doch beschäftigten sie sich nicht bloß mit liberalen Theorien, sondern auch
mit Vorbereitungen zu einer Revolution, ja Dvstojewslh, der zu thuen gehörte,
bezeichnet sie geradezu als die eigentlichen Väter des Nihilismus. Wenn dieser
hervorragende Slawvvhileuführcr und seine Mitverschwornen harte Bestrafung
erfuhren, so erging es den Moskauern, als sich sich nach Absolviruug ihrer
theologisch-philosophischen Periode mit auswärtiger politischer Prvpcigauda be¬
schäftigten, besser; sie durften während des ungarischen Aufstandes vou 1849
eine offiziöse Thätigkeit entwickeln. Nicht minder geschah dies bei den "wissen¬
schaftlichen" Missionen Pogvdins, die ihn in die österreichischen und türkischen
Slawenländer führten, und vou denen er dem Minister der Volksaufklärung
und dem Thronfolger nur über Erfolge und Aussichten der Propaganda für
die russischen Interessen berichtete. Später geberdete sich der chauvinistische
Slawvphilcukrcis fast wie eine Abteilung des auswärtigen Amtes in Petersburg:
er durfte den diplomatischen Agenten Rußlands in der Levante Verweise er¬
teilen und empfing deren gehorsamste Entschuldigung, Angehörige der Partei
wurden Konsuln und sogar Botschafter (der Philolog Nvvikoff beim Wiener
Hofe). In dieser Vorschule erwarben sich die Moskaner die Fertigkeiten, mit
denen sie später sich an ihre "innere Mission," d. h. an die Anfeindung und
Zerstörung dessen machten, was westliche Kultur innerhalb Rußlands selbst ge¬
schaffen. Vorher mußte die Partei aber erst einige ihrer Glaubenssätze opfern
und andre dafür annehmen. Sie mußte sich Katkoff, der durch Aufstellung
des "russischen Staatsgedankens" eine Macht geworden war, anschließen und
unterordnen und dabei einesteils ihre Vorliebe für den altrussischen "Semsky
Ssvbor" (Vvlksrat), andernteils ihre Hinneigung zur Sache der Polen auf-


und kirchlichen Kreisen sich bewegten, dann aber breitere Schichten des Volkes
ergriffen, den hierarchisch-politische» Charakter fast ganz verloren und zu einer
sozial-politischen, die lvestliche Kultur leidenschaftlich anfeindenden und bedrohenden
Masseuagitativu wurden. Dieses Hinabsteigen des Chauvinismus aus den höhern
klerikalen und Hofkreisen in das Volk fand schon unter dem ersten Alexander
statt und hatte in dem Dekabristeuaufstnnde von 1825, der die Errichtung eines
Bundes slawischer Republiken unter der Hegemonie Rußlands zum Ziele hatte, seinen
Praktischen Ausdruck. Daran schlössen sich in den dreißiger Jahren in Gestalt
theologisch-philosophischer Velleitäten die Bestrebungen der ersten Moskaner
Slawophilen, der Kirejcwskh, Aksakoff und Chomjakow, die ihre Spitze bereits
deutlich gegen die westliche Bildung und Sitte kehrten, und bei denen zugleich
in verschwommener Weise an eine Umgestaltung des russischen Staates im demo¬
kratischen Sinne gedacht war. Zar Nikolaus hatte die Dekabristen rücksichts¬
los niedergeworfen, er maßregelte streng auch die Erzväter des Slawophilen-
tums, aber deren Ideen verbreiteten sich weiter und nahmen dabei eine immer
entschiedenere revolutionäre Farbe an. In einem verwandten Ideenkreise be¬
wegten sich die Mitglieder der Genossenschaft, deren Mittelpunkt Petraschewsky
war, doch beschäftigten sie sich nicht bloß mit liberalen Theorien, sondern auch
mit Vorbereitungen zu einer Revolution, ja Dvstojewslh, der zu thuen gehörte,
bezeichnet sie geradezu als die eigentlichen Väter des Nihilismus. Wenn dieser
hervorragende Slawvvhileuführcr und seine Mitverschwornen harte Bestrafung
erfuhren, so erging es den Moskauern, als sich sich nach Absolviruug ihrer
theologisch-philosophischen Periode mit auswärtiger politischer Prvpcigauda be¬
schäftigten, besser; sie durften während des ungarischen Aufstandes vou 1849
eine offiziöse Thätigkeit entwickeln. Nicht minder geschah dies bei den „wissen¬
schaftlichen" Missionen Pogvdins, die ihn in die österreichischen und türkischen
Slawenländer führten, und vou denen er dem Minister der Volksaufklärung
und dem Thronfolger nur über Erfolge und Aussichten der Propaganda für
die russischen Interessen berichtete. Später geberdete sich der chauvinistische
Slawvphilcukrcis fast wie eine Abteilung des auswärtigen Amtes in Petersburg:
er durfte den diplomatischen Agenten Rußlands in der Levante Verweise er¬
teilen und empfing deren gehorsamste Entschuldigung, Angehörige der Partei
wurden Konsuln und sogar Botschafter (der Philolog Nvvikoff beim Wiener
Hofe). In dieser Vorschule erwarben sich die Moskaner die Fertigkeiten, mit
denen sie später sich an ihre „innere Mission," d. h. an die Anfeindung und
Zerstörung dessen machten, was westliche Kultur innerhalb Rußlands selbst ge¬
schaffen. Vorher mußte die Partei aber erst einige ihrer Glaubenssätze opfern
und andre dafür annehmen. Sie mußte sich Katkoff, der durch Aufstellung
des „russischen Staatsgedankens" eine Macht geworden war, anschließen und
unterordnen und dabei einesteils ihre Vorliebe für den altrussischen „Semsky
Ssvbor" (Vvlksrat), andernteils ihre Hinneigung zur Sache der Polen auf-


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[0299] und kirchlichen Kreisen sich bewegten, dann aber breitere Schichten des Volkes ergriffen, den hierarchisch-politische» Charakter fast ganz verloren und zu einer sozial-politischen, die lvestliche Kultur leidenschaftlich anfeindenden und bedrohenden Masseuagitativu wurden. Dieses Hinabsteigen des Chauvinismus aus den höhern klerikalen und Hofkreisen in das Volk fand schon unter dem ersten Alexander statt und hatte in dem Dekabristeuaufstnnde von 1825, der die Errichtung eines Bundes slawischer Republiken unter der Hegemonie Rußlands zum Ziele hatte, seinen Praktischen Ausdruck. Daran schlössen sich in den dreißiger Jahren in Gestalt theologisch-philosophischer Velleitäten die Bestrebungen der ersten Moskaner Slawophilen, der Kirejcwskh, Aksakoff und Chomjakow, die ihre Spitze bereits deutlich gegen die westliche Bildung und Sitte kehrten, und bei denen zugleich in verschwommener Weise an eine Umgestaltung des russischen Staates im demo¬ kratischen Sinne gedacht war. Zar Nikolaus hatte die Dekabristen rücksichts¬ los niedergeworfen, er maßregelte streng auch die Erzväter des Slawophilen- tums, aber deren Ideen verbreiteten sich weiter und nahmen dabei eine immer entschiedenere revolutionäre Farbe an. In einem verwandten Ideenkreise be¬ wegten sich die Mitglieder der Genossenschaft, deren Mittelpunkt Petraschewsky war, doch beschäftigten sie sich nicht bloß mit liberalen Theorien, sondern auch mit Vorbereitungen zu einer Revolution, ja Dvstojewslh, der zu thuen gehörte, bezeichnet sie geradezu als die eigentlichen Väter des Nihilismus. Wenn dieser hervorragende Slawvvhileuführcr und seine Mitverschwornen harte Bestrafung erfuhren, so erging es den Moskauern, als sich sich nach Absolviruug ihrer theologisch-philosophischen Periode mit auswärtiger politischer Prvpcigauda be¬ schäftigten, besser; sie durften während des ungarischen Aufstandes vou 1849 eine offiziöse Thätigkeit entwickeln. Nicht minder geschah dies bei den „wissen¬ schaftlichen" Missionen Pogvdins, die ihn in die österreichischen und türkischen Slawenländer führten, und vou denen er dem Minister der Volksaufklärung und dem Thronfolger nur über Erfolge und Aussichten der Propaganda für die russischen Interessen berichtete. Später geberdete sich der chauvinistische Slawvphilcukrcis fast wie eine Abteilung des auswärtigen Amtes in Petersburg: er durfte den diplomatischen Agenten Rußlands in der Levante Verweise er¬ teilen und empfing deren gehorsamste Entschuldigung, Angehörige der Partei wurden Konsuln und sogar Botschafter (der Philolog Nvvikoff beim Wiener Hofe). In dieser Vorschule erwarben sich die Moskaner die Fertigkeiten, mit denen sie später sich an ihre „innere Mission," d. h. an die Anfeindung und Zerstörung dessen machten, was westliche Kultur innerhalb Rußlands selbst ge¬ schaffen. Vorher mußte die Partei aber erst einige ihrer Glaubenssätze opfern und andre dafür annehmen. Sie mußte sich Katkoff, der durch Aufstellung des „russischen Staatsgedankens" eine Macht geworden war, anschließen und unterordnen und dabei einesteils ihre Vorliebe für den altrussischen „Semsky Ssvbor" (Vvlksrat), andernteils ihre Hinneigung zur Sache der Polen auf-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198719/299>, abgerufen am 03.07.2024.