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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal.

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Hermann Lotzes kleine Schriften.

nicht verwunderlich. Hartmann besitzt und erstrebt, was Lotze verschmäht haben
würde, wenn er es besessen hätte: die Keckheit "sensationeller" Gedankenbildung,
die Scheinkunst einer stilistisch nachlässigen, aber pikanten und schneidigen, mit
vollklingenden Schlagwörtern prunkenden Darstellung, eine sorglose, von der äl¬
teren Philosophie überkommene Konstrnktionslust, kühn genug, um denen Be¬
wunderung abzuzwingen, die Lotzes behutsam abwägende, bescheiden zurück¬
haltende Untersuchung zu zaghaft finden, schließlich jenes weltgewandte, lärmende
Auftreten, das, voll von Renommisterei und dem Chcirlatanismus nahe, heute
die lesende und kritisirende Menge zwingt. Aber die Wirkungen Hartmanns
sind nun zu Ende, mag auch der schreibselige Philosoph unaufhaltsam in die
Breite gehen; Lotze beginnt erst zu leben, nun er im Grabe ruht. Hartmanns
Modepessimismus traf glücklich gewisse Modestimmungen gewisser müden Kreise,
die mit der Philosophie auch einmal liebäugeln wollten; mit den Ideen und
Lebensbedürfnissen unsrer Zeit aber inniger und tiefer verbunden ist die Lotzische
Philosophie, welche einerseits die Gedanken des allbeherrschender Mechanismus
tiefer durchdenkt und umfassender begründet, anderseits die ewigen Bedürfnisse
des Idealismus und eines im Grunde des Herzens trotz trübster Schatten
optimistischen Ethizismus vollständig befriedigt. Kein kühner Systembauer ist
er, der alle Weisheit der Welt nun endlich gefunden hat und sicher umschlossen
hält, nur langsam, anfangs fast unmerklich, haben seine tiefdringenden Gedanken
ihre Ringe gezogen; aber umso tiefer werden diese späten Wirkungen gehen,
umso länger werden sie nachzittern.

Von den acht nach senden Tode veröffentlichten Diktatheften ans seinen
Philosophischen Hauptvorlesungen, die das gesamte Gebiet der Philosophie um¬
fassen, liegen drei bereits in zweiter, die "Grundzüge der Psychologie" schou
in dritter Auflage vor, sein zweibändiges, leider unvollendetes "System der
Philosophie" hat eine zweite erlebt, und die drei Bände des Mikrokosmus segeln
allgemach durch die vierte Auflage hindurch. Das alles langsam, aber sicher.
Darüber kaun man es verschmerzen, daß Lotze eigentlich keine Schule hinter¬
lassen hat, oder vielmehr, wenn es zu den Kennzeichen der Schule gehört, daß
ihre Anhänger, in gewisse Grnndanschcuiungen häuslich eingewöhnt, gewissen
Methoden blind ergeben, verpflichtet und willig siud, alles zu bestreiten, was
der Schulmeinung zuwiderläuft, so dürfen wir froh sein, daß, mit durch Lotzes
Arbeit, solche Schulen heute unmöglich gemacht siud. Auch das ist zu ver¬
schmerzen, daß von den Schriften und Aufsätzen, die sich seither mit Lotze be¬
schäftigt haben, eigentlich keine durch eindringende Gedankenschärfe seiner ganz
wert ist. Wohlthuendes Gefühlsvcrstäudnis seines Wesens ließen sie nicht ver¬
missen, und schließlich ist es weder nötig noch möglich, daß, so lange die eignen
Gedanken des Meisters lebendig weiterwirken, seine Vorzüge sorgsam abgeschätzt,
seine Mängel kritisch ermessen und seine geschichtliche Bedeutung abschließend
bestimmt werde.


Hermann Lotzes kleine Schriften.

nicht verwunderlich. Hartmann besitzt und erstrebt, was Lotze verschmäht haben
würde, wenn er es besessen hätte: die Keckheit „sensationeller" Gedankenbildung,
die Scheinkunst einer stilistisch nachlässigen, aber pikanten und schneidigen, mit
vollklingenden Schlagwörtern prunkenden Darstellung, eine sorglose, von der äl¬
teren Philosophie überkommene Konstrnktionslust, kühn genug, um denen Be¬
wunderung abzuzwingen, die Lotzes behutsam abwägende, bescheiden zurück¬
haltende Untersuchung zu zaghaft finden, schließlich jenes weltgewandte, lärmende
Auftreten, das, voll von Renommisterei und dem Chcirlatanismus nahe, heute
die lesende und kritisirende Menge zwingt. Aber die Wirkungen Hartmanns
sind nun zu Ende, mag auch der schreibselige Philosoph unaufhaltsam in die
Breite gehen; Lotze beginnt erst zu leben, nun er im Grabe ruht. Hartmanns
Modepessimismus traf glücklich gewisse Modestimmungen gewisser müden Kreise,
die mit der Philosophie auch einmal liebäugeln wollten; mit den Ideen und
Lebensbedürfnissen unsrer Zeit aber inniger und tiefer verbunden ist die Lotzische
Philosophie, welche einerseits die Gedanken des allbeherrschender Mechanismus
tiefer durchdenkt und umfassender begründet, anderseits die ewigen Bedürfnisse
des Idealismus und eines im Grunde des Herzens trotz trübster Schatten
optimistischen Ethizismus vollständig befriedigt. Kein kühner Systembauer ist
er, der alle Weisheit der Welt nun endlich gefunden hat und sicher umschlossen
hält, nur langsam, anfangs fast unmerklich, haben seine tiefdringenden Gedanken
ihre Ringe gezogen; aber umso tiefer werden diese späten Wirkungen gehen,
umso länger werden sie nachzittern.

Von den acht nach senden Tode veröffentlichten Diktatheften ans seinen
Philosophischen Hauptvorlesungen, die das gesamte Gebiet der Philosophie um¬
fassen, liegen drei bereits in zweiter, die „Grundzüge der Psychologie" schou
in dritter Auflage vor, sein zweibändiges, leider unvollendetes „System der
Philosophie" hat eine zweite erlebt, und die drei Bände des Mikrokosmus segeln
allgemach durch die vierte Auflage hindurch. Das alles langsam, aber sicher.
Darüber kaun man es verschmerzen, daß Lotze eigentlich keine Schule hinter¬
lassen hat, oder vielmehr, wenn es zu den Kennzeichen der Schule gehört, daß
ihre Anhänger, in gewisse Grnndanschcuiungen häuslich eingewöhnt, gewissen
Methoden blind ergeben, verpflichtet und willig siud, alles zu bestreiten, was
der Schulmeinung zuwiderläuft, so dürfen wir froh sein, daß, mit durch Lotzes
Arbeit, solche Schulen heute unmöglich gemacht siud. Auch das ist zu ver¬
schmerzen, daß von den Schriften und Aufsätzen, die sich seither mit Lotze be¬
schäftigt haben, eigentlich keine durch eindringende Gedankenschärfe seiner ganz
wert ist. Wohlthuendes Gefühlsvcrstäudnis seines Wesens ließen sie nicht ver¬
missen, und schließlich ist es weder nötig noch möglich, daß, so lange die eignen
Gedanken des Meisters lebendig weiterwirken, seine Vorzüge sorgsam abgeschätzt,
seine Mängel kritisch ermessen und seine geschichtliche Bedeutung abschließend
bestimmt werde.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198719/213>, abgerufen am 24.08.2024.