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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal.

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Schiller der Demokrat.

der Freiheit vorangehen," er urteilte, "daß man, um jenes politische Problem
in der Erfahrung zu lösen, durch das ästhetische den Weg nehmen muß, weil
es die Schönheit ist, durch welche man zur Freiheit wandert." Damals schrieb
er die Briefe "Über die ästhetische Erziehung des Menschen," sein ästhetisches
und wohl auch sein politisches Glaubensbekenntnis. Bei ihrer Konzeption waren
seine Blicke als Philosoph und Weltmann noch erwartungsvoll auf den poli¬
tischen Schauplatz geheftet, "wo jetzt, wie man glaubt, das große Schicksal der
Menschheit verhandelt wird." Damals schien es ihm noch, daß "eine Frage,
welche sonst nur durch das blinde Recht des Stärkern beantwortet wurde, nun
vor dem Richterstuhl reiner Vernunft anhängig gemacht sei," er "rechtfertigt
den Versuch eines mündig gewordenen Volkes, seinen Naturftaat in einen sitt¬
lichen umzuformen," vor dem sittlichen Menschen ist dieser gewordene Naturstaat
nur "das Werk blinder Kräfte" ohne eine Autorität, "vor welcher die Freiheit
sich zu beugen brauchte," deun schließlich "muß alles sich dem höchsten Endzwecke
fügen, den die Vernunft in seiner Persönlichkeit aufstellt." Allein schon im
weitern Verlaufe dieser Untersuchung erkennt er, daß "der physische Mensch
wirklich, der sittliche dagegen nur problematisch ist," er erkennt, daß seine "den
Naturstaat aufhebende Vernunft" den wirklichen Menschen an den problematischen
wagt, daß sie "die Existenz der Gesellschaft wagt an ein bloß mögliches Ideal
von Gesellschaft." Jedoch dies Ideal ist "moralisch notwendig," es muß in der
Idee vorhanden sein, wenn die Würde des Menschen gewahrt bleiben und zu
möglichster Verwirklichung gelangen soll. "Das große Bedenken ist, daß die
physische Gesellschaft in der Zeit keinen Augenblick aufhören darf, indem die mo¬
ralische in der Idee sich bildet, daß um der Würde des Menschen willen seine
Existenz nicht in Gefahr geraten darf." Es gilt also ein Mittel zu finden,
welches unbeschadet dem Bestehen der Gesellschaft den einzelnen Menschen und
somit letzten Endes die Gesamtheit jenem Ziele näher bringt, ein Mittel, welches
die Gesellschaft "von dem Naturstaate, den man auflösen will, unabhängig
macht" und trotzdem "eine Stütze für ihre Fortdauer" bildet. "Diese Stütze
findet sich nicht in dem natürlichen Charakter des Menschen, der, selbstsüchtig
und gewaltthätig, viel mehr auf Zerstörung als auf Erhaltung der Gesellschaft
zielt; sie findet sich ebenso wenig in seinem sittlichen Charakter, der, nach der
Voraussetzung, erst gebildet werden soll, und auf den, weil er frei ist und weil
er nie erscheint, von dem Gesetzgeber nie gewirkt und nie mit Sicherheit ge¬
rechnet werden könnte." Das Ergebnis ist also wiederum ein ideales: "Es
käme darauf an, von dem physischen Charakter die Willkür und von dem mo¬
ralischen die Freiheit abzusondern -- es käme darauf an, den erstem mit Ge¬
setzen übereinstimmend, den letztern von Eindrücken abhängig zu machen -- es
käme darauf an, jenen von der Materie etwas weiter zu entfernen, diesen ihr um
etwas näher zu bringen -- um einen dritten Charakter zu erzeugen, der, mit
jenen beiden verwandt, von der Herrschaft bloßer Kräfte zu der Herrschaft der


Schiller der Demokrat.

der Freiheit vorangehen," er urteilte, „daß man, um jenes politische Problem
in der Erfahrung zu lösen, durch das ästhetische den Weg nehmen muß, weil
es die Schönheit ist, durch welche man zur Freiheit wandert." Damals schrieb
er die Briefe „Über die ästhetische Erziehung des Menschen," sein ästhetisches
und wohl auch sein politisches Glaubensbekenntnis. Bei ihrer Konzeption waren
seine Blicke als Philosoph und Weltmann noch erwartungsvoll auf den poli¬
tischen Schauplatz geheftet, „wo jetzt, wie man glaubt, das große Schicksal der
Menschheit verhandelt wird." Damals schien es ihm noch, daß „eine Frage,
welche sonst nur durch das blinde Recht des Stärkern beantwortet wurde, nun
vor dem Richterstuhl reiner Vernunft anhängig gemacht sei," er „rechtfertigt
den Versuch eines mündig gewordenen Volkes, seinen Naturftaat in einen sitt¬
lichen umzuformen," vor dem sittlichen Menschen ist dieser gewordene Naturstaat
nur „das Werk blinder Kräfte" ohne eine Autorität, „vor welcher die Freiheit
sich zu beugen brauchte," deun schließlich „muß alles sich dem höchsten Endzwecke
fügen, den die Vernunft in seiner Persönlichkeit aufstellt." Allein schon im
weitern Verlaufe dieser Untersuchung erkennt er, daß „der physische Mensch
wirklich, der sittliche dagegen nur problematisch ist," er erkennt, daß seine „den
Naturstaat aufhebende Vernunft" den wirklichen Menschen an den problematischen
wagt, daß sie „die Existenz der Gesellschaft wagt an ein bloß mögliches Ideal
von Gesellschaft." Jedoch dies Ideal ist „moralisch notwendig," es muß in der
Idee vorhanden sein, wenn die Würde des Menschen gewahrt bleiben und zu
möglichster Verwirklichung gelangen soll. „Das große Bedenken ist, daß die
physische Gesellschaft in der Zeit keinen Augenblick aufhören darf, indem die mo¬
ralische in der Idee sich bildet, daß um der Würde des Menschen willen seine
Existenz nicht in Gefahr geraten darf." Es gilt also ein Mittel zu finden,
welches unbeschadet dem Bestehen der Gesellschaft den einzelnen Menschen und
somit letzten Endes die Gesamtheit jenem Ziele näher bringt, ein Mittel, welches
die Gesellschaft „von dem Naturstaate, den man auflösen will, unabhängig
macht" und trotzdem „eine Stütze für ihre Fortdauer" bildet. „Diese Stütze
findet sich nicht in dem natürlichen Charakter des Menschen, der, selbstsüchtig
und gewaltthätig, viel mehr auf Zerstörung als auf Erhaltung der Gesellschaft
zielt; sie findet sich ebenso wenig in seinem sittlichen Charakter, der, nach der
Voraussetzung, erst gebildet werden soll, und auf den, weil er frei ist und weil
er nie erscheint, von dem Gesetzgeber nie gewirkt und nie mit Sicherheit ge¬
rechnet werden könnte." Das Ergebnis ist also wiederum ein ideales: „Es
käme darauf an, von dem physischen Charakter die Willkür und von dem mo¬
ralischen die Freiheit abzusondern — es käme darauf an, den erstem mit Ge¬
setzen übereinstimmend, den letztern von Eindrücken abhängig zu machen — es
käme darauf an, jenen von der Materie etwas weiter zu entfernen, diesen ihr um
etwas näher zu bringen — um einen dritten Charakter zu erzeugen, der, mit
jenen beiden verwandt, von der Herrschaft bloßer Kräfte zu der Herrschaft der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198719/159>, abgerufen am 22.07.2024.