Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal.selbständige Entfaltung desselben nicht fehlen. Anders mis mangelhaft kann selbständige Entfaltung desselben nicht fehlen. Anders mis mangelhaft kann <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0119" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/198839"/> <fw type="header" place="top"/><lb/> <p xml:id="ID_326" prev="#ID_325" next="#ID_327"> selbständige Entfaltung desselben nicht fehlen. Anders mis mangelhaft kann<lb/> es selbst hier damit nicht bestellt sein; immerhin muß man die Wohnung nehmen,<lb/> wie man sie findet, und kann sie mir in sehr beschränktem Maße den beson-<lb/> dern Wünschen und Bedürfnissen der Familie anpassen. Familien in bescheid¬<lb/> nerer Lage sind natürlich sehr viel schlimmer daran; was bei günstiger situirteu<lb/> Mietern eine mannichfache Unbequemlichkeiten und Schwierigkeiten mit sich bringende<lb/> Sache ist — nämlich die Anpassung der Räume an die Besonderheiten der<lb/> Familie —, das wird bei ihnen zum förmlichen Prokrustesbette, in welches<lb/> mit einer die peinlichsten Erwägungen rücksichtslos beiseite schiebenden Ge¬<lb/> waltsamkeit die Familie samt ihren Anhängseln und ihren Erfordernissen hincin-<lb/> gequctscht werden muß, es gehe, wie es eben gehe. Der Mann oder die Frau,<lb/> oder eiues oder mehrere der Kinder, oder eine andre in der Familie sich auf¬<lb/> haltende verwandte oder aus andern Gründen aufgenommene Person bedarf<lb/> eines Arbeitsraumes, oder es sind gar kom^urrirende Verhältnisse dieser Art<lb/> vorhanden; ein Glied der Familie ist kran oder doch kränklich, vielleicht auch<lb/> bleibend siech, und bedarf besondrer Veranstaltungen; Knaben und Mädchen<lb/> sind halb oder ganz herangewachsen; für alte Eltern und sonstige Verwandte<lb/> muß ein besondrer Schlafraum beschafft werden; irgend welche Repräsentation<lb/> ist erforderlich oder wird doch für erforderlich gehalten. Mit alledem muß mau<lb/> sehen, wie man in der fast fabrikmäßig ki-stbestimmten Zahl von Räumen sich<lb/> einrichtet — mag es noch so ..nnniöalich" sei», es „muß" gehn;. Man muß<lb/> die Unerträglichkciten mit am, en ^ ^u0en, die aus der Disposition über orei,<lb/> höchstens vier kleine Zimmer 'call da hervorgehen, wo einigermaßen kom-<lb/> plizirte Familienverhältnisse vmhanden sind, um das Maß von Elend zu wür¬<lb/> digen, welches die Mietwohnung für unsern Mittelstand im Gefolge hat. Und<lb/> doch sind dies wiederum nur die äußern Folgen. Nun kommen die inneren.<lb/> Man kann es wirklich dem Familicnhaupte einer solch n „Mietvartei" nicht<lb/> verdenken, wenn es ihm im Wirtshause oder in seiner'. Be eil-c .oohler ist als<lb/> zu Hause, und wenn sein ganzes Wesen, seine Beurteilung einschlägiger öffent¬<lb/> licher Fragen, ja sein Moralitätsbewnßtsein sich hiernach aus- und umprägt.<lb/> Man kann sich nicht Wundern, wenn die Leute, die selbst eine erfreuliche „Hei¬<lb/> mat" in dem sie am nächsten angehenden Sinne nicht besitzen, auch kein son¬<lb/> derlich starkes Heimatsgefühl in höherem und edleren Sinne haben, sondern<lb/> geneigt sind, auf alles derartige mit einer gewissen spöttischen Verachtung, ja<lb/> mit einer Art Gehässigkeit herabzusehen. Man muß es erklärlich finden, wenn<lb/> Leute, denen die Möglichkeit schlechterdings benommen ist, bei sich zu Hause<lb/> deu Forderungen der Ordnung, der Wohlanständigkeit, des guten Geschmacks,<lb/> der strengen Sauberkeit oder ,-^,r des Triebes zu Schmuck und freundlicher<lb/> Ausgestaltung zu entsprechen, n ihrem Geistes- und Gemtttsleben, ihrem Urteil<lb/> über öffentliche Erscheinungen und Vorgänge, überhaupt ihrer Urteilsfähigkeit<lb/> gegenüber allen einschlägigen Fragen, die Spuren hiervon ausweisen. Man darf</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0119]
selbständige Entfaltung desselben nicht fehlen. Anders mis mangelhaft kann
es selbst hier damit nicht bestellt sein; immerhin muß man die Wohnung nehmen,
wie man sie findet, und kann sie mir in sehr beschränktem Maße den beson-
dern Wünschen und Bedürfnissen der Familie anpassen. Familien in bescheid¬
nerer Lage sind natürlich sehr viel schlimmer daran; was bei günstiger situirteu
Mietern eine mannichfache Unbequemlichkeiten und Schwierigkeiten mit sich bringende
Sache ist — nämlich die Anpassung der Räume an die Besonderheiten der
Familie —, das wird bei ihnen zum förmlichen Prokrustesbette, in welches
mit einer die peinlichsten Erwägungen rücksichtslos beiseite schiebenden Ge¬
waltsamkeit die Familie samt ihren Anhängseln und ihren Erfordernissen hincin-
gequctscht werden muß, es gehe, wie es eben gehe. Der Mann oder die Frau,
oder eiues oder mehrere der Kinder, oder eine andre in der Familie sich auf¬
haltende verwandte oder aus andern Gründen aufgenommene Person bedarf
eines Arbeitsraumes, oder es sind gar kom^urrirende Verhältnisse dieser Art
vorhanden; ein Glied der Familie ist kran oder doch kränklich, vielleicht auch
bleibend siech, und bedarf besondrer Veranstaltungen; Knaben und Mädchen
sind halb oder ganz herangewachsen; für alte Eltern und sonstige Verwandte
muß ein besondrer Schlafraum beschafft werden; irgend welche Repräsentation
ist erforderlich oder wird doch für erforderlich gehalten. Mit alledem muß mau
sehen, wie man in der fast fabrikmäßig ki-stbestimmten Zahl von Räumen sich
einrichtet — mag es noch so ..nnniöalich" sei», es „muß" gehn;. Man muß
die Unerträglichkciten mit am, en ^ ^u0en, die aus der Disposition über orei,
höchstens vier kleine Zimmer 'call da hervorgehen, wo einigermaßen kom-
plizirte Familienverhältnisse vmhanden sind, um das Maß von Elend zu wür¬
digen, welches die Mietwohnung für unsern Mittelstand im Gefolge hat. Und
doch sind dies wiederum nur die äußern Folgen. Nun kommen die inneren.
Man kann es wirklich dem Familicnhaupte einer solch n „Mietvartei" nicht
verdenken, wenn es ihm im Wirtshause oder in seiner'. Be eil-c .oohler ist als
zu Hause, und wenn sein ganzes Wesen, seine Beurteilung einschlägiger öffent¬
licher Fragen, ja sein Moralitätsbewnßtsein sich hiernach aus- und umprägt.
Man kann sich nicht Wundern, wenn die Leute, die selbst eine erfreuliche „Hei¬
mat" in dem sie am nächsten angehenden Sinne nicht besitzen, auch kein son¬
derlich starkes Heimatsgefühl in höherem und edleren Sinne haben, sondern
geneigt sind, auf alles derartige mit einer gewissen spöttischen Verachtung, ja
mit einer Art Gehässigkeit herabzusehen. Man muß es erklärlich finden, wenn
Leute, denen die Möglichkeit schlechterdings benommen ist, bei sich zu Hause
deu Forderungen der Ordnung, der Wohlanständigkeit, des guten Geschmacks,
der strengen Sauberkeit oder ,-^,r des Triebes zu Schmuck und freundlicher
Ausgestaltung zu entsprechen, n ihrem Geistes- und Gemtttsleben, ihrem Urteil
über öffentliche Erscheinungen und Vorgänge, überhaupt ihrer Urteilsfähigkeit
gegenüber allen einschlägigen Fragen, die Spuren hiervon ausweisen. Man darf
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