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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Die naturalistische Schule in Deutschland.

die Bekämpfung der Lüge (und wer leugnet ihm dem", daß recht gemeine, höchst
verächtliche und niedrige Lüge tausendfach unser gesellschaftliches Leben, dem¬
gemäß auch einen Teil unsrer Literatur durchsetzt?), aber indem er jede Ehre
und Treue, jede reine Zärtlichkeit und innige Hingebung, jede Vornehmheit und
Tiefe der Empfindung, jeden Idealismus der Bildung, jede Opferfähigkeit un¬
moderner oder den obern Klasse" der Gesellschaft angehöriger Menschen ohne
weiteres als Lüge und Heuchelei brandmarkt und ihrer angeblichen Unwirklichst
ein- für allemal die Darstellung gemeiner und häßlicher Lebensverhältnisse,
Handlungsmotive, gemeiner Leidenschaften und Gesinnungen als allem wirkliche
entgegensetzt, verdächtigt er seine angeblich ethischen Gesichtspunkte und (woran
ihm mehr liegen wird) die Sicherheit und Unbefangenheit seiner Naturbeobachtung
aufs ärgste.

Ohne uus sonach irgendwie dagegen zu verblenden, daß die deutsche Poesie
ber Gegenwart zu einem guten Teile akademisch und konventionell geworden
ist, können wir den Naturalisten nicht einräumen, daß alles, was sie akademisch
und konventionell zu schelten und unter die alten, wirkungslos gewordnen Fabeln
Shakespeares und Goethes und Scotts zu rechnen belieben, darum schon aka¬
demisch und traditionell sei. Ju dem Augenblicke, wo wir erfahren, daß Dichter
wie Gottfried Keller oder Theodor Storm, die den reinsten lind tiefsten Blick
für verborgne Erscheinungen des Lebens besitzen, des Mangels an echtem Natur-
studium bezichtigt werden, wo wir die Losung erklingen hören, daß die einzige
greifbare und unverfälschte Wahrheit für den Schriftsteller der Gegenwart im
Leben der Großstädte zu finden sei, wird ein gewisses Mißtrauen gegen die kritische
Charakteristik, welche die Naturalisten von charakteristischen, realistischen, aber
poetischen Lebensdarstellern entwerfen, entschieden zur Pflicht. Einer Schule
gegenüber, welche die Bedeutung eines Darstellers nicht sowohl in die Wärme,
Macht und charakteristische Mannichfaltigkeit des von ihm geschaffenen Lebens,
als vielmehr in die dumpfe Wiederholung möglichst widerwärtiger Erscheinungen
setzt, aus welcher sich angeblich ein Gesetz des Lebens abstrahiren läßt, muß
das gute Recht der Dichtung ans Reichtum der Erfindungen und Gestalten,
auf phantasievollen Wechsel der Stoffe und der Formen gewahrt werden. Es
ist wohlfeil, allzuwohlfeil, ganze Gebietsteile der Poesie für "abgebaut" zu er¬
klären, und zahlreiche Schöpfungen, die ans dem Innersten der betreffenden
Dichter kommen, ohne weiteres als akademische Machwerke und konventionelle
Wiederholungen zu brandmarken. Wenn die weit über das Ziel hinaus fliegenden
Behauptungen der naturalistischen Reformer deu Erfolg hätten, in Zukunft
unsre Kritik zur schärferen und schärfsten Prüfung des wahrhaften Lebens¬
gehaltes, der subjektiven Eigenart jedes poetischen Werkes zu veranlassen, so
wollten wir für die Anregung dazu herzlich dankbar sein. Wir fürchten indes,
daß das Resultat des naturalistische" Ansturmcs gegen unsre angeblich aka¬
demische Poesie ein ganz andres sein wird. Mit gewohnter Schnellfertigkeit


Die naturalistische Schule in Deutschland.

die Bekämpfung der Lüge (und wer leugnet ihm dem«, daß recht gemeine, höchst
verächtliche und niedrige Lüge tausendfach unser gesellschaftliches Leben, dem¬
gemäß auch einen Teil unsrer Literatur durchsetzt?), aber indem er jede Ehre
und Treue, jede reine Zärtlichkeit und innige Hingebung, jede Vornehmheit und
Tiefe der Empfindung, jeden Idealismus der Bildung, jede Opferfähigkeit un¬
moderner oder den obern Klasse» der Gesellschaft angehöriger Menschen ohne
weiteres als Lüge und Heuchelei brandmarkt und ihrer angeblichen Unwirklichst
ein- für allemal die Darstellung gemeiner und häßlicher Lebensverhältnisse,
Handlungsmotive, gemeiner Leidenschaften und Gesinnungen als allem wirkliche
entgegensetzt, verdächtigt er seine angeblich ethischen Gesichtspunkte und (woran
ihm mehr liegen wird) die Sicherheit und Unbefangenheit seiner Naturbeobachtung
aufs ärgste.

Ohne uus sonach irgendwie dagegen zu verblenden, daß die deutsche Poesie
ber Gegenwart zu einem guten Teile akademisch und konventionell geworden
ist, können wir den Naturalisten nicht einräumen, daß alles, was sie akademisch
und konventionell zu schelten und unter die alten, wirkungslos gewordnen Fabeln
Shakespeares und Goethes und Scotts zu rechnen belieben, darum schon aka¬
demisch und traditionell sei. Ju dem Augenblicke, wo wir erfahren, daß Dichter
wie Gottfried Keller oder Theodor Storm, die den reinsten lind tiefsten Blick
für verborgne Erscheinungen des Lebens besitzen, des Mangels an echtem Natur-
studium bezichtigt werden, wo wir die Losung erklingen hören, daß die einzige
greifbare und unverfälschte Wahrheit für den Schriftsteller der Gegenwart im
Leben der Großstädte zu finden sei, wird ein gewisses Mißtrauen gegen die kritische
Charakteristik, welche die Naturalisten von charakteristischen, realistischen, aber
poetischen Lebensdarstellern entwerfen, entschieden zur Pflicht. Einer Schule
gegenüber, welche die Bedeutung eines Darstellers nicht sowohl in die Wärme,
Macht und charakteristische Mannichfaltigkeit des von ihm geschaffenen Lebens,
als vielmehr in die dumpfe Wiederholung möglichst widerwärtiger Erscheinungen
setzt, aus welcher sich angeblich ein Gesetz des Lebens abstrahiren läßt, muß
das gute Recht der Dichtung ans Reichtum der Erfindungen und Gestalten,
auf phantasievollen Wechsel der Stoffe und der Formen gewahrt werden. Es
ist wohlfeil, allzuwohlfeil, ganze Gebietsteile der Poesie für „abgebaut" zu er¬
klären, und zahlreiche Schöpfungen, die ans dem Innersten der betreffenden
Dichter kommen, ohne weiteres als akademische Machwerke und konventionelle
Wiederholungen zu brandmarken. Wenn die weit über das Ziel hinaus fliegenden
Behauptungen der naturalistischen Reformer deu Erfolg hätten, in Zukunft
unsre Kritik zur schärferen und schärfsten Prüfung des wahrhaften Lebens¬
gehaltes, der subjektiven Eigenart jedes poetischen Werkes zu veranlassen, so
wollten wir für die Anregung dazu herzlich dankbar sein. Wir fürchten indes,
daß das Resultat des naturalistische» Ansturmcs gegen unsre angeblich aka¬
demische Poesie ein ganz andres sein wird. Mit gewohnter Schnellfertigkeit


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[0082] Die naturalistische Schule in Deutschland. die Bekämpfung der Lüge (und wer leugnet ihm dem«, daß recht gemeine, höchst verächtliche und niedrige Lüge tausendfach unser gesellschaftliches Leben, dem¬ gemäß auch einen Teil unsrer Literatur durchsetzt?), aber indem er jede Ehre und Treue, jede reine Zärtlichkeit und innige Hingebung, jede Vornehmheit und Tiefe der Empfindung, jeden Idealismus der Bildung, jede Opferfähigkeit un¬ moderner oder den obern Klasse» der Gesellschaft angehöriger Menschen ohne weiteres als Lüge und Heuchelei brandmarkt und ihrer angeblichen Unwirklichst ein- für allemal die Darstellung gemeiner und häßlicher Lebensverhältnisse, Handlungsmotive, gemeiner Leidenschaften und Gesinnungen als allem wirkliche entgegensetzt, verdächtigt er seine angeblich ethischen Gesichtspunkte und (woran ihm mehr liegen wird) die Sicherheit und Unbefangenheit seiner Naturbeobachtung aufs ärgste. Ohne uus sonach irgendwie dagegen zu verblenden, daß die deutsche Poesie ber Gegenwart zu einem guten Teile akademisch und konventionell geworden ist, können wir den Naturalisten nicht einräumen, daß alles, was sie akademisch und konventionell zu schelten und unter die alten, wirkungslos gewordnen Fabeln Shakespeares und Goethes und Scotts zu rechnen belieben, darum schon aka¬ demisch und traditionell sei. Ju dem Augenblicke, wo wir erfahren, daß Dichter wie Gottfried Keller oder Theodor Storm, die den reinsten lind tiefsten Blick für verborgne Erscheinungen des Lebens besitzen, des Mangels an echtem Natur- studium bezichtigt werden, wo wir die Losung erklingen hören, daß die einzige greifbare und unverfälschte Wahrheit für den Schriftsteller der Gegenwart im Leben der Großstädte zu finden sei, wird ein gewisses Mißtrauen gegen die kritische Charakteristik, welche die Naturalisten von charakteristischen, realistischen, aber poetischen Lebensdarstellern entwerfen, entschieden zur Pflicht. Einer Schule gegenüber, welche die Bedeutung eines Darstellers nicht sowohl in die Wärme, Macht und charakteristische Mannichfaltigkeit des von ihm geschaffenen Lebens, als vielmehr in die dumpfe Wiederholung möglichst widerwärtiger Erscheinungen setzt, aus welcher sich angeblich ein Gesetz des Lebens abstrahiren läßt, muß das gute Recht der Dichtung ans Reichtum der Erfindungen und Gestalten, auf phantasievollen Wechsel der Stoffe und der Formen gewahrt werden. Es ist wohlfeil, allzuwohlfeil, ganze Gebietsteile der Poesie für „abgebaut" zu er¬ klären, und zahlreiche Schöpfungen, die ans dem Innersten der betreffenden Dichter kommen, ohne weiteres als akademische Machwerke und konventionelle Wiederholungen zu brandmarken. Wenn die weit über das Ziel hinaus fliegenden Behauptungen der naturalistischen Reformer deu Erfolg hätten, in Zukunft unsre Kritik zur schärferen und schärfsten Prüfung des wahrhaften Lebens¬ gehaltes, der subjektiven Eigenart jedes poetischen Werkes zu veranlassen, so wollten wir für die Anregung dazu herzlich dankbar sein. Wir fürchten indes, daß das Resultat des naturalistische» Ansturmcs gegen unsre angeblich aka¬ demische Poesie ein ganz andres sein wird. Mit gewohnter Schnellfertigkeit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/82>, abgerufen am 28.12.2024.