Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.Die naturalistische Schule in Deutschland. den Arbeiter, wie sie das heutige Leben aufweist, und bringt ihr Leben und Grcnzbciten 1l. 1886, 10
Die naturalistische Schule in Deutschland. den Arbeiter, wie sie das heutige Leben aufweist, und bringt ihr Leben und Grcnzbciten 1l. 1886, 10
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Die naturalistische Schule in Deutschland.
den Arbeiter, wie sie das heutige Leben aufweist, und bringt ihr Leben und
ihre Schicksale uns nahe. Statt Logik der Worte giebt er uns Logik der That¬
sachen, statt mit abgedienten Begriffen ein schönrcdnerisches Redcgewebe zu
spinnen, hält er sich an den neuen Inhalt, den die Begriffe im veränderten
Laufe der Zeiten erhalten haben, statt ein phantastisches Weltbild mit Trug¬
schlüssen ans dem Papiergelde vou Namen und Worten hinzuzaubern und damit
die Gemüter zu verirren, hält er sich an die Thatsachen und die fordernde
Wirklichkeit, giebt er baare, blanke, harte Münze, Er hat es nicht zu thun mit
Menschen, die sich mir immer sehnen, die durch Handlung die Reinheit ihres
Herzens zu beflecken fürchten, mit den unglückliche» schonen Seelen, die in sich
verglimmen und als gestaltloser Dunst verschwinden," der echte Naturalist giebt
uns nicht „Ausgeburten einer sehnsüchtigen Phantasie," nicht „Menschen, die
von einer übertriebenen Liebe leben," sondern „Leute, vom Weibe ans diesem
schmutzigen Planeten geboren, die im Sturme des Lebens mit Not, Laster
Elend ringen, die Hunger haben, die der Versuchung unterliegen, ihr jämmer¬
liches Lebensgefühl durch Branntwein zu erhöhen, die nnr den siebenten Tag
Feiertag haben." Bei ihm ist „uicht bloß das Leben vor der Ehe," sondern siud
„die Resultate geschildert, die sich aus dem leidenschaftlichen Drange nach Ver¬
einigung ergeben, hier wird scharf gewogen, ob auch die geschlechtliche Liebe und
jene Gefühle, die auf die menschliche Seele so gewaltigen Einfluß haben, nicht
zum Teil Illusion sind, ob sie wirklich wert sind, den Mittelpunkt alles mensch¬
lichen Strebens und Ringens zu bilden und die Menschheit vorwärts zu bringen
auf der Bahn des Sieges." Der echte Naturalist schildert die rastlose Arbeit,
vor allem aber schildert er, wie sie „umlagert ist von den Schatten der Krank¬
heit," wie „der Glanz verdunkelt wird vou den Flecken," „der gerade Wuchs
verunstaltet von den Schmarotzern am Baume des Lebens Nervenkrankheit,
erbliches Elend aller Art, Wahnsinn, Verbrechen." In diesem Tenor erklingen
alle mehr oder minder kritischen Auseinandersetzungen der Naturalisten. Ihr
Verhältnis zur „Wirklichkeit" läßt sich kurz damit ausdrucken, daß sie Staub,
Schmutz, Schlamm und Kot als Realitäten ansehen, wie wir wohl oder übel
auch thun, das Wasser aber, das helle, leuchtende, frische, staublöschende,
schmutzhinwegspüleude, das für uus nicht minder „wirklich" ist, am liebsten für
eine „phantastische Schönmalerei" und einen „abgedienten Begriff" erklären. Und
wenn sie im physischen Sinne, trotz der Verachtung, mit der sie von Wald und
Berg, von Morgen- und Abendröten sprechen, die Geschenke der Natur uicht
geradezu als Ausgeburten sehnsüchtiger Phantasie bezeichne» können, so be¬
sinnen sie sich im moralischen Sinne keinen Augenblick, alle seelischen Erhebungen,
welche die Individuen und damit wenigstens einen Teil der Gesellschaft über das
Platte Bedürfnis und den nackten, frechen Egoismus emportragen, als Trugschlüsse,
Illusionen und mindestens als verblaßte Ideale, die niemand mehr begeistern, z»
bezeichnen. Der Naturalismus entwickelt scheinbar viel ethisches Pathos für
Grcnzbciten 1l. 1886, 10
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