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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Die Entscheidung und die Zukunft der Parteien in England,

Sie hat wie das Wort von oben gewirkt, das die am Babelturme bauenden
Völker verwirrte und auseinander trieb. Sie ist ein zweischneidiges Werkzeug
gewesen, das die liberale Partei zerschnitten hat, ehe diese bunt zusammen ge¬
würfelte Organisation imstande war, es zur Verstümmelung des Vereinigten
Königreiches zu benutzen.

Von diesem Zerfalle der Liberalen gedenken jetzt die Freihändler Nutzen
zu ziehen. Lord Brmnwell und der Carl of Wemyß stehen an der Spitze einer
Bewegung, welche einen großen Verein gründen will, der alle "Anhänger der
individuellen Freiheit in ihrem Gegensatze zur Staatshilse" umfassen soll. Nach
ihrem Programm beabsichtigt die neue Liga "allmählich die Dienste des Staates
auf die Verteidigung von Land, Person und Eigentum zu beschränken." Wir
glauben, daß die Herren ihre Zeit nicht recht begriffen haben und kein gutes
Geschäft macheu werden. Die Erfahrungen, welche England in den letzten
Jahren mit dem Evangelium Cobdens gemacht hat, sind nicht dazu angethan,
ein Beharren bei demselben oder gar eine Erweiterung und Verschärfung der
Ausführung seiner Grundgedanken zu empfehlen. Es mag etwas Heroisches
haben, wenn Leute trotz dieser Erfahrungen den Individualismus noch als allein¬
seligmachend predigen, aber wie schön er sich auch in der Theorie ausnimmt,
die Praxis hat erwiesen, daß er auch in England nicht die rechte nationale
Politik ist, und die Engländer sind ein praktisches Volk. Sie haben gesehen,
und ihre Presse sagt es ihnen jetzt offen heraus, daß die Industrie der fest¬
ländischen Nachbarn, der Deutschen und der Franzosen, mit ihrer Staatshilfe
die britische zu überflügeln begonnen hat, daß die letztere nur dnrch das Wenige,
was der Staat dnrch Verbesserung des Unterrichts und auf andern Wegen für
sie gethan, in den Stand gesetzt worden ist, sich jenem Wettbewerbe gegenüber
zu behaupten, und daß ein Unternehmen wie das beabsichtigte, das den In¬
dividualismus auf die Spitze treiben und den Staat nur noch als Schutzmann
gegen inländische Diebe und Mörder und gegen fremde Eroberer fvrtexistiren
lassen will, gerade jetzt mindestens sehr unzeitgemäß ist.

Sehr zeitgemäß dagegen und, wie wir glauben, auch aussichtsvoll wäre
eine Organisation, zunächst für die kommenden Parlamentswahlen, welche alle
Freunde der Reichseinheit gegen alle Feinde derselben vereinigte, etwas wie in
den ersten Jahren nach 1866 das Zusammengehen aller Nationalgesinnten
Deutschlands in der Unterstützung der Gedanken und Pläne Bismarcks, soweit
sie den Ausbau der Einheit bezweckten -- eine Unterstützung, bei der sowohl
Liberale als Konservative ihren Parteiwünschen Schweigen auferlegten. An¬
gesichts des großen Kampfes über die Lvstrennung Irlands sinken die Unter¬
schiede zwischen Whigs und Tories, Konservativen, Liberalen und Radikalen zu
geringer Bedeutung herab. Es wird die Zeit kommen, wo der Streit zwischen
denen, die rasch, und denen, die mit Bedacht reformiren wollen, sich allmählich
wieder entwickeln wird. Konservatismus und Radikalismus sind dauernde Ele-


Die Entscheidung und die Zukunft der Parteien in England,

Sie hat wie das Wort von oben gewirkt, das die am Babelturme bauenden
Völker verwirrte und auseinander trieb. Sie ist ein zweischneidiges Werkzeug
gewesen, das die liberale Partei zerschnitten hat, ehe diese bunt zusammen ge¬
würfelte Organisation imstande war, es zur Verstümmelung des Vereinigten
Königreiches zu benutzen.

Von diesem Zerfalle der Liberalen gedenken jetzt die Freihändler Nutzen
zu ziehen. Lord Brmnwell und der Carl of Wemyß stehen an der Spitze einer
Bewegung, welche einen großen Verein gründen will, der alle „Anhänger der
individuellen Freiheit in ihrem Gegensatze zur Staatshilse" umfassen soll. Nach
ihrem Programm beabsichtigt die neue Liga „allmählich die Dienste des Staates
auf die Verteidigung von Land, Person und Eigentum zu beschränken." Wir
glauben, daß die Herren ihre Zeit nicht recht begriffen haben und kein gutes
Geschäft macheu werden. Die Erfahrungen, welche England in den letzten
Jahren mit dem Evangelium Cobdens gemacht hat, sind nicht dazu angethan,
ein Beharren bei demselben oder gar eine Erweiterung und Verschärfung der
Ausführung seiner Grundgedanken zu empfehlen. Es mag etwas Heroisches
haben, wenn Leute trotz dieser Erfahrungen den Individualismus noch als allein¬
seligmachend predigen, aber wie schön er sich auch in der Theorie ausnimmt,
die Praxis hat erwiesen, daß er auch in England nicht die rechte nationale
Politik ist, und die Engländer sind ein praktisches Volk. Sie haben gesehen,
und ihre Presse sagt es ihnen jetzt offen heraus, daß die Industrie der fest¬
ländischen Nachbarn, der Deutschen und der Franzosen, mit ihrer Staatshilfe
die britische zu überflügeln begonnen hat, daß die letztere nur dnrch das Wenige,
was der Staat dnrch Verbesserung des Unterrichts und auf andern Wegen für
sie gethan, in den Stand gesetzt worden ist, sich jenem Wettbewerbe gegenüber
zu behaupten, und daß ein Unternehmen wie das beabsichtigte, das den In¬
dividualismus auf die Spitze treiben und den Staat nur noch als Schutzmann
gegen inländische Diebe und Mörder und gegen fremde Eroberer fvrtexistiren
lassen will, gerade jetzt mindestens sehr unzeitgemäß ist.

Sehr zeitgemäß dagegen und, wie wir glauben, auch aussichtsvoll wäre
eine Organisation, zunächst für die kommenden Parlamentswahlen, welche alle
Freunde der Reichseinheit gegen alle Feinde derselben vereinigte, etwas wie in
den ersten Jahren nach 1866 das Zusammengehen aller Nationalgesinnten
Deutschlands in der Unterstützung der Gedanken und Pläne Bismarcks, soweit
sie den Ausbau der Einheit bezweckten — eine Unterstützung, bei der sowohl
Liberale als Konservative ihren Parteiwünschen Schweigen auferlegten. An¬
gesichts des großen Kampfes über die Lvstrennung Irlands sinken die Unter¬
schiede zwischen Whigs und Tories, Konservativen, Liberalen und Radikalen zu
geringer Bedeutung herab. Es wird die Zeit kommen, wo der Streit zwischen
denen, die rasch, und denen, die mit Bedacht reformiren wollen, sich allmählich
wieder entwickeln wird. Konservatismus und Radikalismus sind dauernde Ele-


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[0588] Die Entscheidung und die Zukunft der Parteien in England, Sie hat wie das Wort von oben gewirkt, das die am Babelturme bauenden Völker verwirrte und auseinander trieb. Sie ist ein zweischneidiges Werkzeug gewesen, das die liberale Partei zerschnitten hat, ehe diese bunt zusammen ge¬ würfelte Organisation imstande war, es zur Verstümmelung des Vereinigten Königreiches zu benutzen. Von diesem Zerfalle der Liberalen gedenken jetzt die Freihändler Nutzen zu ziehen. Lord Brmnwell und der Carl of Wemyß stehen an der Spitze einer Bewegung, welche einen großen Verein gründen will, der alle „Anhänger der individuellen Freiheit in ihrem Gegensatze zur Staatshilse" umfassen soll. Nach ihrem Programm beabsichtigt die neue Liga „allmählich die Dienste des Staates auf die Verteidigung von Land, Person und Eigentum zu beschränken." Wir glauben, daß die Herren ihre Zeit nicht recht begriffen haben und kein gutes Geschäft macheu werden. Die Erfahrungen, welche England in den letzten Jahren mit dem Evangelium Cobdens gemacht hat, sind nicht dazu angethan, ein Beharren bei demselben oder gar eine Erweiterung und Verschärfung der Ausführung seiner Grundgedanken zu empfehlen. Es mag etwas Heroisches haben, wenn Leute trotz dieser Erfahrungen den Individualismus noch als allein¬ seligmachend predigen, aber wie schön er sich auch in der Theorie ausnimmt, die Praxis hat erwiesen, daß er auch in England nicht die rechte nationale Politik ist, und die Engländer sind ein praktisches Volk. Sie haben gesehen, und ihre Presse sagt es ihnen jetzt offen heraus, daß die Industrie der fest¬ ländischen Nachbarn, der Deutschen und der Franzosen, mit ihrer Staatshilfe die britische zu überflügeln begonnen hat, daß die letztere nur dnrch das Wenige, was der Staat dnrch Verbesserung des Unterrichts und auf andern Wegen für sie gethan, in den Stand gesetzt worden ist, sich jenem Wettbewerbe gegenüber zu behaupten, und daß ein Unternehmen wie das beabsichtigte, das den In¬ dividualismus auf die Spitze treiben und den Staat nur noch als Schutzmann gegen inländische Diebe und Mörder und gegen fremde Eroberer fvrtexistiren lassen will, gerade jetzt mindestens sehr unzeitgemäß ist. Sehr zeitgemäß dagegen und, wie wir glauben, auch aussichtsvoll wäre eine Organisation, zunächst für die kommenden Parlamentswahlen, welche alle Freunde der Reichseinheit gegen alle Feinde derselben vereinigte, etwas wie in den ersten Jahren nach 1866 das Zusammengehen aller Nationalgesinnten Deutschlands in der Unterstützung der Gedanken und Pläne Bismarcks, soweit sie den Ausbau der Einheit bezweckten — eine Unterstützung, bei der sowohl Liberale als Konservative ihren Parteiwünschen Schweigen auferlegten. An¬ gesichts des großen Kampfes über die Lvstrennung Irlands sinken die Unter¬ schiede zwischen Whigs und Tories, Konservativen, Liberalen und Radikalen zu geringer Bedeutung herab. Es wird die Zeit kommen, wo der Streit zwischen denen, die rasch, und denen, die mit Bedacht reformiren wollen, sich allmählich wieder entwickeln wird. Konservatismus und Radikalismus sind dauernde Ele-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/588>, abgerufen am 25.07.2024.