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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Die deutschen Schulen in Ungarn.

eine Untersuchung eingeleitet hat, den Sprachenzwang, der mit dem Gesetz und
gegen dasselbe in Verwaltung und Gericht platzgegriffen hat u. s, w. Insbe¬
sondre ist jene Erinnerung an 300 unbescholtene deutsche Kleinbauern durchaus
unpassend. Denn sie ruft aller Welt sofort ins Gedächtnis, daß im vorigen
Jahre die Banaler Schwaben einen landwirtschaftlichen Verein gründen wollten,
und das; ihnen dies ganz ohne Grund nicht gestattet wurde. Und als mehr
als 300 derselbe" eine Deputation ans Ministerium nach Pest schickten, ließ
man sie garnicht vor!

Die Zeit ist vorüber, wo die Welt sich durch magyarische Freihcitsphrasen
blenden ließ. Hier soll im Augenblicke nicht die ganze Unwahrheit des unga¬
rischen "Staates" aufgedeckt werden; wir begnügen uns, ohne viel Worte darüber
zu machen, eine ungeschminkte Darstellung der deutschen Schulverhältnisse in
Ungarn zu geben. Das Ergebnis wird auch hier deutlich zeigen, inwieweit
der Reichskanzler recht hatte zu sagen: die Deutschen geben ihren Besitzstand auf,
d. h. sie werden darin durch die ungarische Staatsgewalt immer mehr geschädigt,
sei es durch offnen Angriff, sei es durch bewußte Vernachlässigung ihrer natio¬
nalen Interessen.

Es ist stets ein Fest für den ungarischen Reichstag und die Regierung,
wenn der jährlich erscheinende Bericht über das Unterrichtswesen wieder einen
Rückgang der deutschen Schulen in Ungarn feststellt; anch der "Pester Lloyd"
hat nie die jährlich sich bietende Gelegenheit ergriffen, gegen diesen Rückgang,
den er selbst stets freudig begrüßte, irgend ein verurteilendes Wort zu sprechen.

Im Jahre 1869 gab es in Ungarn und Siebenbürgen 1232 deutsche Schulen,
im Jahre 1880 867. Es hat sich also in elf Jahren die Zahl der deutschen
Schulen um 365 vermindert. Seitdem hat die Abnahme nicht stillgestanden.
Im Jahre 1883 zählte der Minister in seinem Bericht nur noch 690 deutsche
Schulen, und Ende 1884 nur noch 676! Also fast die Hälfte der deutschen
Schulen ist in fünfzehn Jahren "ungarischer Freiheit" zu Grunde gegangen!

Dieser Verlust wird aber noch bedeutender, wenn wir erwägen, daß dazu
noch die Aufhebung der deutschen Gymnasien kommt, deren es heute im engern
Ungarn kein einziges mehr giebt, wie auch seit 1883 der deutsche Parallelkursus
an der Aug.-Altenburger landwirtschaftlichen Akademie aufgehoben ist. Auch
das vermehrt die Verluste, daß die eingegangenen deutschen Schulen sich bloß
im engerm Ungarn befinden, da Siebenbürgen an denselben -- es soll später
berührt weiden, warum -- keinen Anteil hat. Zieht man also die in Sieben¬
bürgen bestehenden deutscheu Schulen ab von den uugarländischen, so bleiben
sür die im engern Ungarn wohnenden etwa anderthalb Millionen Deutschen etwas
mehr als 400 Schulen, in denen deutsch unterrichtet wird. Das ist verzweifelt
wenig. Noch viel bedenklicher wird das im einzelnen. Im Jahre 1832 war
die Unterrichtssprache in allen Schulen Ofen-Pesth die deutsche; im Jahre 1843
gab es unter neun Volksschulen bloß zwei magyarische; im Jahre 1882 aber


Die deutschen Schulen in Ungarn.

eine Untersuchung eingeleitet hat, den Sprachenzwang, der mit dem Gesetz und
gegen dasselbe in Verwaltung und Gericht platzgegriffen hat u. s, w. Insbe¬
sondre ist jene Erinnerung an 300 unbescholtene deutsche Kleinbauern durchaus
unpassend. Denn sie ruft aller Welt sofort ins Gedächtnis, daß im vorigen
Jahre die Banaler Schwaben einen landwirtschaftlichen Verein gründen wollten,
und das; ihnen dies ganz ohne Grund nicht gestattet wurde. Und als mehr
als 300 derselbe» eine Deputation ans Ministerium nach Pest schickten, ließ
man sie garnicht vor!

Die Zeit ist vorüber, wo die Welt sich durch magyarische Freihcitsphrasen
blenden ließ. Hier soll im Augenblicke nicht die ganze Unwahrheit des unga¬
rischen „Staates" aufgedeckt werden; wir begnügen uns, ohne viel Worte darüber
zu machen, eine ungeschminkte Darstellung der deutschen Schulverhältnisse in
Ungarn zu geben. Das Ergebnis wird auch hier deutlich zeigen, inwieweit
der Reichskanzler recht hatte zu sagen: die Deutschen geben ihren Besitzstand auf,
d. h. sie werden darin durch die ungarische Staatsgewalt immer mehr geschädigt,
sei es durch offnen Angriff, sei es durch bewußte Vernachlässigung ihrer natio¬
nalen Interessen.

Es ist stets ein Fest für den ungarischen Reichstag und die Regierung,
wenn der jährlich erscheinende Bericht über das Unterrichtswesen wieder einen
Rückgang der deutschen Schulen in Ungarn feststellt; anch der „Pester Lloyd"
hat nie die jährlich sich bietende Gelegenheit ergriffen, gegen diesen Rückgang,
den er selbst stets freudig begrüßte, irgend ein verurteilendes Wort zu sprechen.

Im Jahre 1869 gab es in Ungarn und Siebenbürgen 1232 deutsche Schulen,
im Jahre 1880 867. Es hat sich also in elf Jahren die Zahl der deutschen
Schulen um 365 vermindert. Seitdem hat die Abnahme nicht stillgestanden.
Im Jahre 1883 zählte der Minister in seinem Bericht nur noch 690 deutsche
Schulen, und Ende 1884 nur noch 676! Also fast die Hälfte der deutschen
Schulen ist in fünfzehn Jahren „ungarischer Freiheit" zu Grunde gegangen!

Dieser Verlust wird aber noch bedeutender, wenn wir erwägen, daß dazu
noch die Aufhebung der deutschen Gymnasien kommt, deren es heute im engern
Ungarn kein einziges mehr giebt, wie auch seit 1883 der deutsche Parallelkursus
an der Aug.-Altenburger landwirtschaftlichen Akademie aufgehoben ist. Auch
das vermehrt die Verluste, daß die eingegangenen deutschen Schulen sich bloß
im engerm Ungarn befinden, da Siebenbürgen an denselben — es soll später
berührt weiden, warum — keinen Anteil hat. Zieht man also die in Sieben¬
bürgen bestehenden deutscheu Schulen ab von den uugarländischen, so bleiben
sür die im engern Ungarn wohnenden etwa anderthalb Millionen Deutschen etwas
mehr als 400 Schulen, in denen deutsch unterrichtet wird. Das ist verzweifelt
wenig. Noch viel bedenklicher wird das im einzelnen. Im Jahre 1832 war
die Unterrichtssprache in allen Schulen Ofen-Pesth die deutsche; im Jahre 1843
gab es unter neun Volksschulen bloß zwei magyarische; im Jahre 1882 aber


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[0058] Die deutschen Schulen in Ungarn. eine Untersuchung eingeleitet hat, den Sprachenzwang, der mit dem Gesetz und gegen dasselbe in Verwaltung und Gericht platzgegriffen hat u. s, w. Insbe¬ sondre ist jene Erinnerung an 300 unbescholtene deutsche Kleinbauern durchaus unpassend. Denn sie ruft aller Welt sofort ins Gedächtnis, daß im vorigen Jahre die Banaler Schwaben einen landwirtschaftlichen Verein gründen wollten, und das; ihnen dies ganz ohne Grund nicht gestattet wurde. Und als mehr als 300 derselbe» eine Deputation ans Ministerium nach Pest schickten, ließ man sie garnicht vor! Die Zeit ist vorüber, wo die Welt sich durch magyarische Freihcitsphrasen blenden ließ. Hier soll im Augenblicke nicht die ganze Unwahrheit des unga¬ rischen „Staates" aufgedeckt werden; wir begnügen uns, ohne viel Worte darüber zu machen, eine ungeschminkte Darstellung der deutschen Schulverhältnisse in Ungarn zu geben. Das Ergebnis wird auch hier deutlich zeigen, inwieweit der Reichskanzler recht hatte zu sagen: die Deutschen geben ihren Besitzstand auf, d. h. sie werden darin durch die ungarische Staatsgewalt immer mehr geschädigt, sei es durch offnen Angriff, sei es durch bewußte Vernachlässigung ihrer natio¬ nalen Interessen. Es ist stets ein Fest für den ungarischen Reichstag und die Regierung, wenn der jährlich erscheinende Bericht über das Unterrichtswesen wieder einen Rückgang der deutschen Schulen in Ungarn feststellt; anch der „Pester Lloyd" hat nie die jährlich sich bietende Gelegenheit ergriffen, gegen diesen Rückgang, den er selbst stets freudig begrüßte, irgend ein verurteilendes Wort zu sprechen. Im Jahre 1869 gab es in Ungarn und Siebenbürgen 1232 deutsche Schulen, im Jahre 1880 867. Es hat sich also in elf Jahren die Zahl der deutschen Schulen um 365 vermindert. Seitdem hat die Abnahme nicht stillgestanden. Im Jahre 1883 zählte der Minister in seinem Bericht nur noch 690 deutsche Schulen, und Ende 1884 nur noch 676! Also fast die Hälfte der deutschen Schulen ist in fünfzehn Jahren „ungarischer Freiheit" zu Grunde gegangen! Dieser Verlust wird aber noch bedeutender, wenn wir erwägen, daß dazu noch die Aufhebung der deutschen Gymnasien kommt, deren es heute im engern Ungarn kein einziges mehr giebt, wie auch seit 1883 der deutsche Parallelkursus an der Aug.-Altenburger landwirtschaftlichen Akademie aufgehoben ist. Auch das vermehrt die Verluste, daß die eingegangenen deutschen Schulen sich bloß im engerm Ungarn befinden, da Siebenbürgen an denselben — es soll später berührt weiden, warum — keinen Anteil hat. Zieht man also die in Sieben¬ bürgen bestehenden deutscheu Schulen ab von den uugarländischen, so bleiben sür die im engern Ungarn wohnenden etwa anderthalb Millionen Deutschen etwas mehr als 400 Schulen, in denen deutsch unterrichtet wird. Das ist verzweifelt wenig. Noch viel bedenklicher wird das im einzelnen. Im Jahre 1832 war die Unterrichtssprache in allen Schulen Ofen-Pesth die deutsche; im Jahre 1843 gab es unter neun Volksschulen bloß zwei magyarische; im Jahre 1882 aber

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/58>, abgerufen am 30.06.2024.