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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Die religiöse Malerei der Gegenwart.

bedeutsam, als das gewaltige, welches vor dreihnndertundsiebzig Jahren die
europäische Gesellschaft erschütterte und in zwei Heerlager schied. Auch diese
neue Richtung der religiösen Malerei hat einen vorwiegend kritischen Zug, der
auf der einen Seite mit tiefer Glaubensinnigkeit, auf der andern Seite mit dem
Streben nach historischer Wahrheit gepaart ist. Wir haben gesehen, daß Eduard
von Gebhardt mit seinem "Abendmahl" den neuen Weg eröffnet hat, ohne jedoch
mehr als einige Schritte darauf zu machen. Ihm wird stets das Verdienst
des Pfadfinders bleiben. Eine Schule moderner religiöser Malerei hat aber
nicht er, sondern der Ungar Michael Munkaesy gebildet, welcher mit seiner
großen Komposition "Christus vor Pilatus" das erste Beispiel echt historischer
Behandlung biblischer Stoffe gegeben hat. Ohne sich in archäologische Kleinig¬
keitskrämereien zu verlieren, hat er mit Benutzung aller Äußerlichkeiten, welche
die geschichtliche Forschung als sicher oder wahrscheinlich festgestellt hat, die
Gefangennahme eines politisch-religiösen Agitators und seine Vorführung vor
den weltlichen Richter so geschildert, wie sich die von den Evangelien über¬
lieferten Vorgänge wirklich ereignet haben können. Der unerschrockene Schwärmer
und Prediger von Nazareth unterscheidet sich von dem Volte, aus welchem er
erwachsen ist, äußerlich nur insoweit, als geistige Überlegenheit, heilige Be¬
geisterung und unerschütterliche Überzeugungstreue die Züge eines Menschen
adeln können. Der Mann der geistigen Arbeit, der von innerm Feuer erleuchtete
Träger einer hohen Idee tritt der selbstsüchtigen Beschränktheit und Indolenz
der Hohenpriester und Ältesten gegenüber. Kein äußerer Nimbus umgiebt die
Gestalt, kein Zug von Idealisirung erhebt sie über ihresgleichen; mir allein
das geistige Element soll wirken, der Mut des Märtyrers, welcher einem wütenden
Volkshaufen Trotz bietet und für dasjenige, was ihm als Wahrheit gilt, zu
sterben bereit ist.

Diese geistigen Eigenschaften würden aber trotz ihrer überzeugenden Kraft nicht
allein den tiefen Eindruck erreicht haben, welchen Munkacsys Schöpfung überall
gemacht hat. Die Malerei kann niemals allein durch Verkörperung von Ge¬
danken wirken, sondern sie muß es zugleich durch die Mittel der sinnlichen Dar¬
stellung thun. So hat denn auch die malerische Darstellung sehr erheblich dazu
beigetragen, für Munkaesys historische Auffassungsweise Freunde, Schüler und
Nachahmer zu gewinnen. Hatte Munlnesy in der evangelischen Geschichte die
Wahrheit zu ergründen gesucht, so strebte er noch mehr darnach in der Charak¬
teristik und Kostümirnng seiner Figuren, in der Gestaltung des Schauplatzes
der Szene. Seine ganze künstlerische Tendenz ist eine naturalistische im guten
Sinne des Wortes, d. h. er sucht jedes belebte und unbelebte Naturgebilde so
wiederzugeben, wie es ihm in der Wirklichkeit vor Augen tritt. Von solchen
Naturstudien abstrahirt er dann die Figuren, welche er für seiue geschichtlichen
Kompositionen braucht. Aus diesem Verfahren erklärt sich die erstaunliche
Lebendigkeit, die unanfechtbare Wahrheit von Gestalten, die nach tausendjährigem


Die religiöse Malerei der Gegenwart.

bedeutsam, als das gewaltige, welches vor dreihnndertundsiebzig Jahren die
europäische Gesellschaft erschütterte und in zwei Heerlager schied. Auch diese
neue Richtung der religiösen Malerei hat einen vorwiegend kritischen Zug, der
auf der einen Seite mit tiefer Glaubensinnigkeit, auf der andern Seite mit dem
Streben nach historischer Wahrheit gepaart ist. Wir haben gesehen, daß Eduard
von Gebhardt mit seinem „Abendmahl" den neuen Weg eröffnet hat, ohne jedoch
mehr als einige Schritte darauf zu machen. Ihm wird stets das Verdienst
des Pfadfinders bleiben. Eine Schule moderner religiöser Malerei hat aber
nicht er, sondern der Ungar Michael Munkaesy gebildet, welcher mit seiner
großen Komposition „Christus vor Pilatus" das erste Beispiel echt historischer
Behandlung biblischer Stoffe gegeben hat. Ohne sich in archäologische Kleinig¬
keitskrämereien zu verlieren, hat er mit Benutzung aller Äußerlichkeiten, welche
die geschichtliche Forschung als sicher oder wahrscheinlich festgestellt hat, die
Gefangennahme eines politisch-religiösen Agitators und seine Vorführung vor
den weltlichen Richter so geschildert, wie sich die von den Evangelien über¬
lieferten Vorgänge wirklich ereignet haben können. Der unerschrockene Schwärmer
und Prediger von Nazareth unterscheidet sich von dem Volte, aus welchem er
erwachsen ist, äußerlich nur insoweit, als geistige Überlegenheit, heilige Be¬
geisterung und unerschütterliche Überzeugungstreue die Züge eines Menschen
adeln können. Der Mann der geistigen Arbeit, der von innerm Feuer erleuchtete
Träger einer hohen Idee tritt der selbstsüchtigen Beschränktheit und Indolenz
der Hohenpriester und Ältesten gegenüber. Kein äußerer Nimbus umgiebt die
Gestalt, kein Zug von Idealisirung erhebt sie über ihresgleichen; mir allein
das geistige Element soll wirken, der Mut des Märtyrers, welcher einem wütenden
Volkshaufen Trotz bietet und für dasjenige, was ihm als Wahrheit gilt, zu
sterben bereit ist.

Diese geistigen Eigenschaften würden aber trotz ihrer überzeugenden Kraft nicht
allein den tiefen Eindruck erreicht haben, welchen Munkacsys Schöpfung überall
gemacht hat. Die Malerei kann niemals allein durch Verkörperung von Ge¬
danken wirken, sondern sie muß es zugleich durch die Mittel der sinnlichen Dar¬
stellung thun. So hat denn auch die malerische Darstellung sehr erheblich dazu
beigetragen, für Munkaesys historische Auffassungsweise Freunde, Schüler und
Nachahmer zu gewinnen. Hatte Munlnesy in der evangelischen Geschichte die
Wahrheit zu ergründen gesucht, so strebte er noch mehr darnach in der Charak¬
teristik und Kostümirnng seiner Figuren, in der Gestaltung des Schauplatzes
der Szene. Seine ganze künstlerische Tendenz ist eine naturalistische im guten
Sinne des Wortes, d. h. er sucht jedes belebte und unbelebte Naturgebilde so
wiederzugeben, wie es ihm in der Wirklichkeit vor Augen tritt. Von solchen
Naturstudien abstrahirt er dann die Figuren, welche er für seiue geschichtlichen
Kompositionen braucht. Aus diesem Verfahren erklärt sich die erstaunliche
Lebendigkeit, die unanfechtbare Wahrheit von Gestalten, die nach tausendjährigem


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/568>, abgerufen am 27.12.2024.