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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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bei der große" Unbestimmtheit des von ihm aufgestellten WucherbcgriffeS von
vornherein nicht unbedenklich; und über seinen Wert ist wohl das letzte Wort
noch nicht gesprochen worden. Aber bei diesem Gesetze bilden doch noch Kapital
und Zins in ihrer mathematischen Bestimmtheit feste Anhaltspunkte der Ver-
gleichung von Leistung und Gegenleistung. Wer aber vermöchte den Wert
einer Wohnung mit allen ihren Annehmlichkeiten und Unannehmlichkeiten der¬
gestalt sicher abzuschätzen, daß er einen dafür bedungenen Mietzins als "Wucher"
bezeichnen könnte? Wir halten das ohne die Gefahr höchster Willkür für un¬
möglich.

Noch weit tiefer greifend ist der von Miqncl angeregte Gedanke, daß man
direkt durch die Gesetzgebung dem Wohnen in ungesunden Wohnungen entgegen¬
treten könne. Seine in dieser Richtung gemachten Vorschlüge knüpfen sich an
diejenigen Einrichtungen und Maßnahmen, welche auf diesem Gebiete bereits in
praktischer Übung sind.

In den meisten größer,? Städten bestehen Bauordnungen, welche für die
Herstellung von Neubauten Vorschriften auch vom gesundheitspolizeilichen Stand-
Punkte geben. Bestehenden Haufen gegenüber hat dagegen die Polizei bisher
nur in gewissen äußersten Notfällen zu Eingriffen sich für berechtigt gehalten.
Sie ordnet also z. V. an, daß Hänser, die unmittelbar den Einsturz drohen,
von deu Bewohnern verlassen werde" müssen und niedergerissen werden. Sie
befiehlt die Beseitigung verpestender Einrichtungen, zumal bei drohenden Seuchen.
Nun wird die Frage angeregt, ob man nicht noch weiter gehen und überhaupt
die Verwendung gesundheitsschädlicher Gebäude zu Wohnungszwccken polizeilich
verbieten solle? Miquel hält ein solches Vcrbictnugsshstem, wenn durch ein
wohlgeordnetes Verfahre" seine richtige Anwendung gesichert werde, für durch¬
führbar, und zwar ohne Etttschädigung der Eigentümer. Aus scheint die Sache
doch sehr bedenklich. Was kann nicht alles für gesundheitsschädlich gelten!
Und wie vielfach wechseln die Ansichten darüber! Vielleicht hat die Einrichtung
eines Hauses, als es gebant wurde, niemand für gesundheitsschädlich gehalten.
Soll nun jetzt das Haus dem Eigentümer gleichsam unter deu Händen weg¬
genommen werden, weil eine "Snnitätskonnnissivn" die Gesnndheitsschädlichkeit
ausspricht? Wir habe" die Überzeiiguug, daß dieses ganze Verfahren, wen"
es wirklich angeordnet werden sollte, entweder tot bleiben oder den Vorwurf
der größten Willkür und Ungerechtigkeit sich zuziehen würde. Eher ließe sich
schon hören, was Miguel weiter vorschlägt, daß den Gemeinden ein Enteig-
nungsrecht zur Wegrnnmung ungesund gebauter Wohnhäuser zustehen solle.
Es fragt sich nur, ob die Gemeinde die Mittel hätte, um solche Euteigunngen
zu bezahlen. Am leichtesten würde el" solches Enteign"ngsrecht noch zu üben
sein, wenn in engen, ungesunden Straßen, so oft ein Haus wegen Baufälligkeit?c.
niedergerissen würde, die Gemeinde ein Stück des freigelegte" Baugrundes er¬
würbe, um so nach und nach Licht und Luft für die Straße zu gewinnen.


Grenzboten II. 1886. 6S

bei der große» Unbestimmtheit des von ihm aufgestellten WucherbcgriffeS von
vornherein nicht unbedenklich; und über seinen Wert ist wohl das letzte Wort
noch nicht gesprochen worden. Aber bei diesem Gesetze bilden doch noch Kapital
und Zins in ihrer mathematischen Bestimmtheit feste Anhaltspunkte der Ver-
gleichung von Leistung und Gegenleistung. Wer aber vermöchte den Wert
einer Wohnung mit allen ihren Annehmlichkeiten und Unannehmlichkeiten der¬
gestalt sicher abzuschätzen, daß er einen dafür bedungenen Mietzins als „Wucher"
bezeichnen könnte? Wir halten das ohne die Gefahr höchster Willkür für un¬
möglich.

Noch weit tiefer greifend ist der von Miqncl angeregte Gedanke, daß man
direkt durch die Gesetzgebung dem Wohnen in ungesunden Wohnungen entgegen¬
treten könne. Seine in dieser Richtung gemachten Vorschlüge knüpfen sich an
diejenigen Einrichtungen und Maßnahmen, welche auf diesem Gebiete bereits in
praktischer Übung sind.

In den meisten größer,? Städten bestehen Bauordnungen, welche für die
Herstellung von Neubauten Vorschriften auch vom gesundheitspolizeilichen Stand-
Punkte geben. Bestehenden Haufen gegenüber hat dagegen die Polizei bisher
nur in gewissen äußersten Notfällen zu Eingriffen sich für berechtigt gehalten.
Sie ordnet also z. V. an, daß Hänser, die unmittelbar den Einsturz drohen,
von deu Bewohnern verlassen werde» müssen und niedergerissen werden. Sie
befiehlt die Beseitigung verpestender Einrichtungen, zumal bei drohenden Seuchen.
Nun wird die Frage angeregt, ob man nicht noch weiter gehen und überhaupt
die Verwendung gesundheitsschädlicher Gebäude zu Wohnungszwccken polizeilich
verbieten solle? Miquel hält ein solches Vcrbictnugsshstem, wenn durch ein
wohlgeordnetes Verfahre» seine richtige Anwendung gesichert werde, für durch¬
führbar, und zwar ohne Etttschädigung der Eigentümer. Aus scheint die Sache
doch sehr bedenklich. Was kann nicht alles für gesundheitsschädlich gelten!
Und wie vielfach wechseln die Ansichten darüber! Vielleicht hat die Einrichtung
eines Hauses, als es gebant wurde, niemand für gesundheitsschädlich gehalten.
Soll nun jetzt das Haus dem Eigentümer gleichsam unter deu Händen weg¬
genommen werden, weil eine „Snnitätskonnnissivn" die Gesnndheitsschädlichkeit
ausspricht? Wir habe» die Überzeiiguug, daß dieses ganze Verfahren, wen»
es wirklich angeordnet werden sollte, entweder tot bleiben oder den Vorwurf
der größten Willkür und Ungerechtigkeit sich zuziehen würde. Eher ließe sich
schon hören, was Miguel weiter vorschlägt, daß den Gemeinden ein Enteig-
nungsrecht zur Wegrnnmung ungesund gebauter Wohnhäuser zustehen solle.
Es fragt sich nur, ob die Gemeinde die Mittel hätte, um solche Euteigunngen
zu bezahlen. Am leichtesten würde el» solches Enteign»ngsrecht noch zu üben
sein, wenn in engen, ungesunden Straßen, so oft ein Haus wegen Baufälligkeit?c.
niedergerissen würde, die Gemeinde ein Stück des freigelegte» Baugrundes er¬
würbe, um so nach und nach Licht und Luft für die Straße zu gewinnen.


Grenzboten II. 1886. 6S
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[0521] bei der große» Unbestimmtheit des von ihm aufgestellten WucherbcgriffeS von vornherein nicht unbedenklich; und über seinen Wert ist wohl das letzte Wort noch nicht gesprochen worden. Aber bei diesem Gesetze bilden doch noch Kapital und Zins in ihrer mathematischen Bestimmtheit feste Anhaltspunkte der Ver- gleichung von Leistung und Gegenleistung. Wer aber vermöchte den Wert einer Wohnung mit allen ihren Annehmlichkeiten und Unannehmlichkeiten der¬ gestalt sicher abzuschätzen, daß er einen dafür bedungenen Mietzins als „Wucher" bezeichnen könnte? Wir halten das ohne die Gefahr höchster Willkür für un¬ möglich. Noch weit tiefer greifend ist der von Miqncl angeregte Gedanke, daß man direkt durch die Gesetzgebung dem Wohnen in ungesunden Wohnungen entgegen¬ treten könne. Seine in dieser Richtung gemachten Vorschlüge knüpfen sich an diejenigen Einrichtungen und Maßnahmen, welche auf diesem Gebiete bereits in praktischer Übung sind. In den meisten größer,? Städten bestehen Bauordnungen, welche für die Herstellung von Neubauten Vorschriften auch vom gesundheitspolizeilichen Stand- Punkte geben. Bestehenden Haufen gegenüber hat dagegen die Polizei bisher nur in gewissen äußersten Notfällen zu Eingriffen sich für berechtigt gehalten. Sie ordnet also z. V. an, daß Hänser, die unmittelbar den Einsturz drohen, von deu Bewohnern verlassen werde» müssen und niedergerissen werden. Sie befiehlt die Beseitigung verpestender Einrichtungen, zumal bei drohenden Seuchen. Nun wird die Frage angeregt, ob man nicht noch weiter gehen und überhaupt die Verwendung gesundheitsschädlicher Gebäude zu Wohnungszwccken polizeilich verbieten solle? Miquel hält ein solches Vcrbictnugsshstem, wenn durch ein wohlgeordnetes Verfahre» seine richtige Anwendung gesichert werde, für durch¬ führbar, und zwar ohne Etttschädigung der Eigentümer. Aus scheint die Sache doch sehr bedenklich. Was kann nicht alles für gesundheitsschädlich gelten! Und wie vielfach wechseln die Ansichten darüber! Vielleicht hat die Einrichtung eines Hauses, als es gebant wurde, niemand für gesundheitsschädlich gehalten. Soll nun jetzt das Haus dem Eigentümer gleichsam unter deu Händen weg¬ genommen werden, weil eine „Snnitätskonnnissivn" die Gesnndheitsschädlichkeit ausspricht? Wir habe» die Überzeiiguug, daß dieses ganze Verfahren, wen» es wirklich angeordnet werden sollte, entweder tot bleiben oder den Vorwurf der größten Willkür und Ungerechtigkeit sich zuziehen würde. Eher ließe sich schon hören, was Miguel weiter vorschlägt, daß den Gemeinden ein Enteig- nungsrecht zur Wegrnnmung ungesund gebauter Wohnhäuser zustehen solle. Es fragt sich nur, ob die Gemeinde die Mittel hätte, um solche Euteigunngen zu bezahlen. Am leichtesten würde el» solches Enteign»ngsrecht noch zu üben sein, wenn in engen, ungesunden Straßen, so oft ein Haus wegen Baufälligkeit?c. niedergerissen würde, die Gemeinde ein Stück des freigelegte» Baugrundes er¬ würbe, um so nach und nach Licht und Luft für die Straße zu gewinnen. Grenzboten II. 1886. 6S

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/521>, abgerufen am 24.07.2024.