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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Die Wohnungsnot der ärmern Alassen in deutschen Großstädten.

von Bahnhöfen, neuen Straßen ?c. stark unter dieser Art von Wohnungen auf¬
geräumt ist. Im allgemeinen sind also unsre Wohnungen, auch die von geringern
Ständen inne gehabten, nicht schlechter, sondern besser geworden. Und wenn
uns bei Beschreibung der trostlosen Zustände vieler alten Häuser in unsern
Städten leicht ein Grauen erfaßt, so liegt der Grund vor allem darin, daß
wir überhaupt empfindlicher auf diesem Gebiete geworden sind und daß wir
unwillkürlich diese Zustände vergleichen mit dem übertriebenen Luxus, mit welchem
heutzutage die Häuser der Reichen vielfach eingerichtet find. Einen relativen
Trost für die schlechte Beschaffenheit vieler Häuser in unsern ältern Stadt¬
vierteln können wir anch darin finden, daß in den weit reichern Ländern
England und Frankreich die Zustände nicht besser sind. Die uns vorliegenden
Schilderungen aus London geben ein recht trauriges Bild, und die Beschreibung
der alten Häuser in Straßbnrg (die doch noch aus französischer Zeit herrühren)
lautet wahrhaft grauenhaft.

Sind nun auch für die ärmern Klassen viele bessere Wohnungen frei ge¬
worden, so kommen diese ihnen freilich doch nicht vollständig zu Gute. Der
Mietzins für solche Wohnungen ist nirgends geringer geworden. Und da
das Einkommen der ärmern Klassen nicht entsprechend gestiegen ist, so müssen
sie sich, um diese bessern Wohnungen zu benutzen, vielfach mit umso engern
Räumen behelfen. Dazu kommt, daß im Verhältnis zu dem enormen Zudrang
die Neubauten doch keinen genügenden Wohnraum für die zuziehenden geringer"
Leute geöffnet haben. Die nächste Folge davon ist, daß wegen des übermäßigen
Begehrs nach geringern Wohnungen diese überaus teuer werden. Und dies
hat dann die weitere Folge, daß diese Art Wohnungen meist überfüllt sind.
Wohnungen, die früher von einer Familie bewohnt wurden, werden jetzt für
mehrere Familien geteilt. Eine Arbeiterfamilie, die früher zwei oder drei
Zimmer inne hatte, muß sich jetzt mit einem oder zwei Zimmern begnügen. Und
endlich führt die Not vielfach das fiir Wohlbehagen, Sittlichkeit und Gesundheit
so verderbliche Verhältnis herbei, daß die Mieter einer Wohnung die von ihnen
selbst benutzten Räume, vielleicht das einzige Zimmer, das sie inne haben, noch
mit Fremden, die sie bei sich aufnehmen oder denen sie wenigstens für die
Nacht eine Schlafstelle vermieten, teilen. Neben dem allen kann es vorkommen,
daß bessere Wohnungen uoch immer leer stehen, was aber den armen Leuten
nichts hilft, da sie solche nicht bezahlen können.

In diesem Sinne läßt sich also in der That von einer in den Großstädten
herrschenden Wohnungsnot reden. Es ist unleugbar, daß dort in den ärmlichsten
Wohnungen eine große Summe Elends aufgespeichert liegt.

Fragen wir nun, woraus diese Zustände hervorgegangen sind, so ist die
Antwort sehr einfach. Sie sind die Folge der Freizügigkeit in Verbindung mit
dem beschränkten Maße von Wohlhabenheit, welches unserm Volke eigen ist.
Daß im allgemeinen das Maß der Wohlhabenheit eines Volkes auch in den


Die Wohnungsnot der ärmern Alassen in deutschen Großstädten.

von Bahnhöfen, neuen Straßen ?c. stark unter dieser Art von Wohnungen auf¬
geräumt ist. Im allgemeinen sind also unsre Wohnungen, auch die von geringern
Ständen inne gehabten, nicht schlechter, sondern besser geworden. Und wenn
uns bei Beschreibung der trostlosen Zustände vieler alten Häuser in unsern
Städten leicht ein Grauen erfaßt, so liegt der Grund vor allem darin, daß
wir überhaupt empfindlicher auf diesem Gebiete geworden sind und daß wir
unwillkürlich diese Zustände vergleichen mit dem übertriebenen Luxus, mit welchem
heutzutage die Häuser der Reichen vielfach eingerichtet find. Einen relativen
Trost für die schlechte Beschaffenheit vieler Häuser in unsern ältern Stadt¬
vierteln können wir anch darin finden, daß in den weit reichern Ländern
England und Frankreich die Zustände nicht besser sind. Die uns vorliegenden
Schilderungen aus London geben ein recht trauriges Bild, und die Beschreibung
der alten Häuser in Straßbnrg (die doch noch aus französischer Zeit herrühren)
lautet wahrhaft grauenhaft.

Sind nun auch für die ärmern Klassen viele bessere Wohnungen frei ge¬
worden, so kommen diese ihnen freilich doch nicht vollständig zu Gute. Der
Mietzins für solche Wohnungen ist nirgends geringer geworden. Und da
das Einkommen der ärmern Klassen nicht entsprechend gestiegen ist, so müssen
sie sich, um diese bessern Wohnungen zu benutzen, vielfach mit umso engern
Räumen behelfen. Dazu kommt, daß im Verhältnis zu dem enormen Zudrang
die Neubauten doch keinen genügenden Wohnraum für die zuziehenden geringer«
Leute geöffnet haben. Die nächste Folge davon ist, daß wegen des übermäßigen
Begehrs nach geringern Wohnungen diese überaus teuer werden. Und dies
hat dann die weitere Folge, daß diese Art Wohnungen meist überfüllt sind.
Wohnungen, die früher von einer Familie bewohnt wurden, werden jetzt für
mehrere Familien geteilt. Eine Arbeiterfamilie, die früher zwei oder drei
Zimmer inne hatte, muß sich jetzt mit einem oder zwei Zimmern begnügen. Und
endlich führt die Not vielfach das fiir Wohlbehagen, Sittlichkeit und Gesundheit
so verderbliche Verhältnis herbei, daß die Mieter einer Wohnung die von ihnen
selbst benutzten Räume, vielleicht das einzige Zimmer, das sie inne haben, noch
mit Fremden, die sie bei sich aufnehmen oder denen sie wenigstens für die
Nacht eine Schlafstelle vermieten, teilen. Neben dem allen kann es vorkommen,
daß bessere Wohnungen uoch immer leer stehen, was aber den armen Leuten
nichts hilft, da sie solche nicht bezahlen können.

In diesem Sinne läßt sich also in der That von einer in den Großstädten
herrschenden Wohnungsnot reden. Es ist unleugbar, daß dort in den ärmlichsten
Wohnungen eine große Summe Elends aufgespeichert liegt.

Fragen wir nun, woraus diese Zustände hervorgegangen sind, so ist die
Antwort sehr einfach. Sie sind die Folge der Freizügigkeit in Verbindung mit
dem beschränkten Maße von Wohlhabenheit, welches unserm Volke eigen ist.
Daß im allgemeinen das Maß der Wohlhabenheit eines Volkes auch in den


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[0519] Die Wohnungsnot der ärmern Alassen in deutschen Großstädten. von Bahnhöfen, neuen Straßen ?c. stark unter dieser Art von Wohnungen auf¬ geräumt ist. Im allgemeinen sind also unsre Wohnungen, auch die von geringern Ständen inne gehabten, nicht schlechter, sondern besser geworden. Und wenn uns bei Beschreibung der trostlosen Zustände vieler alten Häuser in unsern Städten leicht ein Grauen erfaßt, so liegt der Grund vor allem darin, daß wir überhaupt empfindlicher auf diesem Gebiete geworden sind und daß wir unwillkürlich diese Zustände vergleichen mit dem übertriebenen Luxus, mit welchem heutzutage die Häuser der Reichen vielfach eingerichtet find. Einen relativen Trost für die schlechte Beschaffenheit vieler Häuser in unsern ältern Stadt¬ vierteln können wir anch darin finden, daß in den weit reichern Ländern England und Frankreich die Zustände nicht besser sind. Die uns vorliegenden Schilderungen aus London geben ein recht trauriges Bild, und die Beschreibung der alten Häuser in Straßbnrg (die doch noch aus französischer Zeit herrühren) lautet wahrhaft grauenhaft. Sind nun auch für die ärmern Klassen viele bessere Wohnungen frei ge¬ worden, so kommen diese ihnen freilich doch nicht vollständig zu Gute. Der Mietzins für solche Wohnungen ist nirgends geringer geworden. Und da das Einkommen der ärmern Klassen nicht entsprechend gestiegen ist, so müssen sie sich, um diese bessern Wohnungen zu benutzen, vielfach mit umso engern Räumen behelfen. Dazu kommt, daß im Verhältnis zu dem enormen Zudrang die Neubauten doch keinen genügenden Wohnraum für die zuziehenden geringer« Leute geöffnet haben. Die nächste Folge davon ist, daß wegen des übermäßigen Begehrs nach geringern Wohnungen diese überaus teuer werden. Und dies hat dann die weitere Folge, daß diese Art Wohnungen meist überfüllt sind. Wohnungen, die früher von einer Familie bewohnt wurden, werden jetzt für mehrere Familien geteilt. Eine Arbeiterfamilie, die früher zwei oder drei Zimmer inne hatte, muß sich jetzt mit einem oder zwei Zimmern begnügen. Und endlich führt die Not vielfach das fiir Wohlbehagen, Sittlichkeit und Gesundheit so verderbliche Verhältnis herbei, daß die Mieter einer Wohnung die von ihnen selbst benutzten Räume, vielleicht das einzige Zimmer, das sie inne haben, noch mit Fremden, die sie bei sich aufnehmen oder denen sie wenigstens für die Nacht eine Schlafstelle vermieten, teilen. Neben dem allen kann es vorkommen, daß bessere Wohnungen uoch immer leer stehen, was aber den armen Leuten nichts hilft, da sie solche nicht bezahlen können. In diesem Sinne läßt sich also in der That von einer in den Großstädten herrschenden Wohnungsnot reden. Es ist unleugbar, daß dort in den ärmlichsten Wohnungen eine große Summe Elends aufgespeichert liegt. Fragen wir nun, woraus diese Zustände hervorgegangen sind, so ist die Antwort sehr einfach. Sie sind die Folge der Freizügigkeit in Verbindung mit dem beschränkten Maße von Wohlhabenheit, welches unserm Volke eigen ist. Daß im allgemeinen das Maß der Wohlhabenheit eines Volkes auch in den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/519>, abgerufen am 28.12.2024.