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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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führlichcrn Aufsatze werden ferner die Zustände in England, namentlich in
London, uns vorgeführt. Mehrere gutachtliche und statistisches Material gebende
Aufsätze schließen sich an. Eingeleitet ist das Buch durch einen Aufsatz des
Oberbürgermeisters Dr. Miqncl in Frankfurt, worin dieser Vorschläge für die
Abhilfe macht. Er verlangt ein Ncichsgesctz, welches einerseits die rechtlichen
Verhältnisse des Mietsvertrages anders regete, anderseits dein Wohnen in un¬
gesunden Wohnungen direkt entgegentrete. Die Vorschläge Miquels schließen
sich am nächsten einer Erörterung des Dr. Flesch über die Frankfurter Verhältnisse
an. Letzterer gründet die "Wohnungsnot," deren Vorhandensein er bejaht, teils
auf die ungesunde Beschaffenheit vieler Wohnungen, teils auf die zu geringe
Zahl und den zu hohen Preis der für die geringern Stände vorhandnen
Wohnungen. Ans Grund der Eindrücke, die wir aus diesen Darstellungen ge¬
wonnen und die ja auch durch manche aus andern Städten vorliegende Er¬
fahrungen sich ergänzen, wollen wir innerhalb des in diesen Blättern gebotenen
Raumes die Frage der Wohuuugsnot zu bespreche!! suchen.

Diese Frage gehört erst dem letzten Menschenalter an. Seit dem Jahre
1861 hat sich die Bevölkerung unsrer Großstädte fast durchweg verdoppelt,
mitunter mehr als verdoppelt. Die Nächstliegende Frage dürste nun die sein:
Sind denu im Verlauf der letzten Zeiten die für die geringern Stände zu Gebote
stehenden Wohnungen an sich schlechter geworden? Das ist sicherlich nicht der
Fall. Zur Aufnahme der sich vermehrenden Bevölkerung sind in den Großstädten
zahlreiche Neubauten entstanden. Ganze Stadtviertel sind aus der Erde gewachsen.
Die neuen Häuser haben freilich fast durchweg nur bessere Wohnungen gebracht
und sind daher in erster Linie nur den bessern Ständen zu Gute gekommen.
Dadurch siud aber die bessern Wohnungen in den ältern Stadtteilen frei geworden,
und in diese haben sich die geringern Stände hineingeschoben. Wer auf einen
längern Zeitraum zurückblickt, kann ganz deutlich erkennen, daß die Wohnungen,
welche früher von den besten Ständen eingenommen wurden, jetzt nur noch von
mittlern Ständen bewohnt werden; und so geht es fort bis unten hin. Denken
wir uns (natürlich ganz willkürlich) die Bewohner einer Stadt nach ihren sich
abstufenden Wohnungsvcrhältnissen in sechs Gruppen geteilt, die wir mit g.,
I), o, ä, v, l' bezeichnen wollen, so würde in unsern modern erweiterten Städten
die Sache sich etwa so stellen. Die Gruppen s,, o, v haben die Wohnungen in
den neuen Stadtteilen bezogen. Die Gruppe ä wohnt jetzt in den Wohnungen
der alten Stadtteile, welche früher die Gruppen s, und b inne hatten; die Gruppe o
in den frühern Wohnungen der Gruppen o und ä. Nur Gruppe 1 ist noch in
den alten schlechten Wohnungen sitzen geblieben, die früher von den Gruppen v
und 1 zusammen benutzt wurden. Unter diesen schlechtesten Wohnungen mögen
ja manche durch Baufälligkeit der Häuser :e. noch schlechter geworden sein. Es
sind aber auch manche der allerschlechtesten aus früherer Zeit seitdem von der
Erde verschwunden; ganz abgesehen davon, daß in manchen Städten durch Anlegung


führlichcrn Aufsatze werden ferner die Zustände in England, namentlich in
London, uns vorgeführt. Mehrere gutachtliche und statistisches Material gebende
Aufsätze schließen sich an. Eingeleitet ist das Buch durch einen Aufsatz des
Oberbürgermeisters Dr. Miqncl in Frankfurt, worin dieser Vorschläge für die
Abhilfe macht. Er verlangt ein Ncichsgesctz, welches einerseits die rechtlichen
Verhältnisse des Mietsvertrages anders regete, anderseits dein Wohnen in un¬
gesunden Wohnungen direkt entgegentrete. Die Vorschläge Miquels schließen
sich am nächsten einer Erörterung des Dr. Flesch über die Frankfurter Verhältnisse
an. Letzterer gründet die „Wohnungsnot," deren Vorhandensein er bejaht, teils
auf die ungesunde Beschaffenheit vieler Wohnungen, teils auf die zu geringe
Zahl und den zu hohen Preis der für die geringern Stände vorhandnen
Wohnungen. Ans Grund der Eindrücke, die wir aus diesen Darstellungen ge¬
wonnen und die ja auch durch manche aus andern Städten vorliegende Er¬
fahrungen sich ergänzen, wollen wir innerhalb des in diesen Blättern gebotenen
Raumes die Frage der Wohuuugsnot zu bespreche!! suchen.

Diese Frage gehört erst dem letzten Menschenalter an. Seit dem Jahre
1861 hat sich die Bevölkerung unsrer Großstädte fast durchweg verdoppelt,
mitunter mehr als verdoppelt. Die Nächstliegende Frage dürste nun die sein:
Sind denu im Verlauf der letzten Zeiten die für die geringern Stände zu Gebote
stehenden Wohnungen an sich schlechter geworden? Das ist sicherlich nicht der
Fall. Zur Aufnahme der sich vermehrenden Bevölkerung sind in den Großstädten
zahlreiche Neubauten entstanden. Ganze Stadtviertel sind aus der Erde gewachsen.
Die neuen Häuser haben freilich fast durchweg nur bessere Wohnungen gebracht
und sind daher in erster Linie nur den bessern Ständen zu Gute gekommen.
Dadurch siud aber die bessern Wohnungen in den ältern Stadtteilen frei geworden,
und in diese haben sich die geringern Stände hineingeschoben. Wer auf einen
längern Zeitraum zurückblickt, kann ganz deutlich erkennen, daß die Wohnungen,
welche früher von den besten Ständen eingenommen wurden, jetzt nur noch von
mittlern Ständen bewohnt werden; und so geht es fort bis unten hin. Denken
wir uns (natürlich ganz willkürlich) die Bewohner einer Stadt nach ihren sich
abstufenden Wohnungsvcrhältnissen in sechs Gruppen geteilt, die wir mit g.,
I), o, ä, v, l' bezeichnen wollen, so würde in unsern modern erweiterten Städten
die Sache sich etwa so stellen. Die Gruppen s,, o, v haben die Wohnungen in
den neuen Stadtteilen bezogen. Die Gruppe ä wohnt jetzt in den Wohnungen
der alten Stadtteile, welche früher die Gruppen s, und b inne hatten; die Gruppe o
in den frühern Wohnungen der Gruppen o und ä. Nur Gruppe 1 ist noch in
den alten schlechten Wohnungen sitzen geblieben, die früher von den Gruppen v
und 1 zusammen benutzt wurden. Unter diesen schlechtesten Wohnungen mögen
ja manche durch Baufälligkeit der Häuser :e. noch schlechter geworden sein. Es
sind aber auch manche der allerschlechtesten aus früherer Zeit seitdem von der
Erde verschwunden; ganz abgesehen davon, daß in manchen Städten durch Anlegung


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[0518] führlichcrn Aufsatze werden ferner die Zustände in England, namentlich in London, uns vorgeführt. Mehrere gutachtliche und statistisches Material gebende Aufsätze schließen sich an. Eingeleitet ist das Buch durch einen Aufsatz des Oberbürgermeisters Dr. Miqncl in Frankfurt, worin dieser Vorschläge für die Abhilfe macht. Er verlangt ein Ncichsgesctz, welches einerseits die rechtlichen Verhältnisse des Mietsvertrages anders regete, anderseits dein Wohnen in un¬ gesunden Wohnungen direkt entgegentrete. Die Vorschläge Miquels schließen sich am nächsten einer Erörterung des Dr. Flesch über die Frankfurter Verhältnisse an. Letzterer gründet die „Wohnungsnot," deren Vorhandensein er bejaht, teils auf die ungesunde Beschaffenheit vieler Wohnungen, teils auf die zu geringe Zahl und den zu hohen Preis der für die geringern Stände vorhandnen Wohnungen. Ans Grund der Eindrücke, die wir aus diesen Darstellungen ge¬ wonnen und die ja auch durch manche aus andern Städten vorliegende Er¬ fahrungen sich ergänzen, wollen wir innerhalb des in diesen Blättern gebotenen Raumes die Frage der Wohuuugsnot zu bespreche!! suchen. Diese Frage gehört erst dem letzten Menschenalter an. Seit dem Jahre 1861 hat sich die Bevölkerung unsrer Großstädte fast durchweg verdoppelt, mitunter mehr als verdoppelt. Die Nächstliegende Frage dürste nun die sein: Sind denu im Verlauf der letzten Zeiten die für die geringern Stände zu Gebote stehenden Wohnungen an sich schlechter geworden? Das ist sicherlich nicht der Fall. Zur Aufnahme der sich vermehrenden Bevölkerung sind in den Großstädten zahlreiche Neubauten entstanden. Ganze Stadtviertel sind aus der Erde gewachsen. Die neuen Häuser haben freilich fast durchweg nur bessere Wohnungen gebracht und sind daher in erster Linie nur den bessern Ständen zu Gute gekommen. Dadurch siud aber die bessern Wohnungen in den ältern Stadtteilen frei geworden, und in diese haben sich die geringern Stände hineingeschoben. Wer auf einen längern Zeitraum zurückblickt, kann ganz deutlich erkennen, daß die Wohnungen, welche früher von den besten Ständen eingenommen wurden, jetzt nur noch von mittlern Ständen bewohnt werden; und so geht es fort bis unten hin. Denken wir uns (natürlich ganz willkürlich) die Bewohner einer Stadt nach ihren sich abstufenden Wohnungsvcrhältnissen in sechs Gruppen geteilt, die wir mit g., I), o, ä, v, l' bezeichnen wollen, so würde in unsern modern erweiterten Städten die Sache sich etwa so stellen. Die Gruppen s,, o, v haben die Wohnungen in den neuen Stadtteilen bezogen. Die Gruppe ä wohnt jetzt in den Wohnungen der alten Stadtteile, welche früher die Gruppen s, und b inne hatten; die Gruppe o in den frühern Wohnungen der Gruppen o und ä. Nur Gruppe 1 ist noch in den alten schlechten Wohnungen sitzen geblieben, die früher von den Gruppen v und 1 zusammen benutzt wurden. Unter diesen schlechtesten Wohnungen mögen ja manche durch Baufälligkeit der Häuser :e. noch schlechter geworden sein. Es sind aber auch manche der allerschlechtesten aus früherer Zeit seitdem von der Erde verschwunden; ganz abgesehen davon, daß in manchen Städten durch Anlegung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/518>, abgerufen am 04.07.2024.