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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Polentum und Deutschtum in der Provinz Posen.

wurden durch die herrschende Richtung nicht besonders ermutigt, energisch für
die weitere Entwicklung der evangelischen Schule einzutreten. Überdies entbehrt
crfahrungsmcißig fast jede nebenamtliche Verwaltung frischer und eingehender
Förderung. Will die königliche Staatsregierung deshalb ernstlich damit vor¬
gehen, dem Deutschtum in der Provinz ein festes Rückgrat zu geben, so mag
sie zunächst an die bewährten Traditionen vor dem Jahre 1870 anknüpfen.
Mai, möge kein Opfer scheuen, um evangelische Kirchen- und Schulsysteme zu
bilden, um so das zerstreute Deutschtum zu sammeln. Man gebe den evan¬
gelischen Kirchengemeinden reichlichere Staatsznschüsse, die ihnen eine angemessene
Dotirung der Pfarrstellen ermöglichen. Die jahrelange Vakanz evangelischer
Pfarreien in der Diaspora ist ein empfindlicher Schaden für das Deutschtum,
Das Leben eiues inmitten des Polentums amtirenden Pfarrers ist, uicht uur
entbehrungsreich, sondern durch die erschwerte Beschaffung aller Lebensbedürfnisse,
durch die Schwierigkeiten der Kindererziehung auch kostspielig.

Es stehen schöne, freundliche Pfarrhäuser und Kirchen, errichtet dnrch be¬
deutende Schulden der Gemeinde und die werkthätige Hilfe des Gustav-Advlf-
Ncreins, leer und verwaist, weil kein junger Pfarrer den Mut hat, dort sein
Heim anzuschlagen, und findet sich endlich ein wirklich tüchtiger Mann für eine
derartige abgelegne, entbehrungsvolle Stellung, so ist dies sicher nur eine
vorübergehende Erscheinung; noch ehe er sich recht einleben konnte mit der
Gemeinde, um Einfluß zu gewinne", zieht er fort nach einer andern Pfarre,
wo die Pfründe reicher und das Leben leichter ist. Der evangelisch-deutsche
Pfarrer vermag für das Deutschtum und den Evangelisinus i" seiner Pa-
rochie ganz dieselben Erfolge zu erreichen, welche zahlreiche, als Menschen und
Diener der .Kirche höchst achtungsmerte katholische Geistliche für die Entwicklung
der ihnen anvertrauten Parvchien erringen. Aber zu diesem Zwecke muß der
evangelische Geistliche gegenüber der katholischen Kirche, die stillschweigend, aber
beständig in den Kreisen der bäuerlichen und der Arbeiterbevölkerung Proselyten
macht, vor allem stabil, sorgenfrei und berufsfreudig in der Seelsorge sein. Hier
kann der Staat durch reichlichere Ausstattung mit materiellen Mitteln, und die
kirchliche Aufsichtsbehörde durch Gewinnung tüchtiger, einer idealen Auffassung
fähiger Kräfte eingreifen.

Wie unheilvoll für die deutsche Bevölkerung der Mangel an evangelisch¬
deutschen Schulen wult, und wie der Besuch polnisch-katholischer Schulen der
Pvlonisirnng Vorschub leistet, lehrt die Erfahrung. Es giebt in polnischen
Kreisen polnische Dörfer mit einem starken Bruchteil deutscher bäuerlicher Wirte,
welche aus Maugel an einer evangelischen Schule seit Jahrzehnten der nächsten
polnisch-katholischen Schule zugewiesen sind. Diese deutsch-evangelischen Leute
sprechen fertig polnisch, mangelhaft deutsch, und gehen einer nach dem andern
im Wege polnischer Heiraten zum Polentum über.

In den polnischen Kreisen längs der deutschen Provinzen nimmt die Zahl


Polentum und Deutschtum in der Provinz Posen.

wurden durch die herrschende Richtung nicht besonders ermutigt, energisch für
die weitere Entwicklung der evangelischen Schule einzutreten. Überdies entbehrt
crfahrungsmcißig fast jede nebenamtliche Verwaltung frischer und eingehender
Förderung. Will die königliche Staatsregierung deshalb ernstlich damit vor¬
gehen, dem Deutschtum in der Provinz ein festes Rückgrat zu geben, so mag
sie zunächst an die bewährten Traditionen vor dem Jahre 1870 anknüpfen.
Mai, möge kein Opfer scheuen, um evangelische Kirchen- und Schulsysteme zu
bilden, um so das zerstreute Deutschtum zu sammeln. Man gebe den evan¬
gelischen Kirchengemeinden reichlichere Staatsznschüsse, die ihnen eine angemessene
Dotirung der Pfarrstellen ermöglichen. Die jahrelange Vakanz evangelischer
Pfarreien in der Diaspora ist ein empfindlicher Schaden für das Deutschtum,
Das Leben eiues inmitten des Polentums amtirenden Pfarrers ist, uicht uur
entbehrungsreich, sondern durch die erschwerte Beschaffung aller Lebensbedürfnisse,
durch die Schwierigkeiten der Kindererziehung auch kostspielig.

Es stehen schöne, freundliche Pfarrhäuser und Kirchen, errichtet dnrch be¬
deutende Schulden der Gemeinde und die werkthätige Hilfe des Gustav-Advlf-
Ncreins, leer und verwaist, weil kein junger Pfarrer den Mut hat, dort sein
Heim anzuschlagen, und findet sich endlich ein wirklich tüchtiger Mann für eine
derartige abgelegne, entbehrungsvolle Stellung, so ist dies sicher nur eine
vorübergehende Erscheinung; noch ehe er sich recht einleben konnte mit der
Gemeinde, um Einfluß zu gewinne», zieht er fort nach einer andern Pfarre,
wo die Pfründe reicher und das Leben leichter ist. Der evangelisch-deutsche
Pfarrer vermag für das Deutschtum und den Evangelisinus i» seiner Pa-
rochie ganz dieselben Erfolge zu erreichen, welche zahlreiche, als Menschen und
Diener der .Kirche höchst achtungsmerte katholische Geistliche für die Entwicklung
der ihnen anvertrauten Parvchien erringen. Aber zu diesem Zwecke muß der
evangelische Geistliche gegenüber der katholischen Kirche, die stillschweigend, aber
beständig in den Kreisen der bäuerlichen und der Arbeiterbevölkerung Proselyten
macht, vor allem stabil, sorgenfrei und berufsfreudig in der Seelsorge sein. Hier
kann der Staat durch reichlichere Ausstattung mit materiellen Mitteln, und die
kirchliche Aufsichtsbehörde durch Gewinnung tüchtiger, einer idealen Auffassung
fähiger Kräfte eingreifen.

Wie unheilvoll für die deutsche Bevölkerung der Mangel an evangelisch¬
deutschen Schulen wult, und wie der Besuch polnisch-katholischer Schulen der
Pvlonisirnng Vorschub leistet, lehrt die Erfahrung. Es giebt in polnischen
Kreisen polnische Dörfer mit einem starken Bruchteil deutscher bäuerlicher Wirte,
welche aus Maugel an einer evangelischen Schule seit Jahrzehnten der nächsten
polnisch-katholischen Schule zugewiesen sind. Diese deutsch-evangelischen Leute
sprechen fertig polnisch, mangelhaft deutsch, und gehen einer nach dem andern
im Wege polnischer Heiraten zum Polentum über.

In den polnischen Kreisen längs der deutschen Provinzen nimmt die Zahl


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[0454] Polentum und Deutschtum in der Provinz Posen. wurden durch die herrschende Richtung nicht besonders ermutigt, energisch für die weitere Entwicklung der evangelischen Schule einzutreten. Überdies entbehrt crfahrungsmcißig fast jede nebenamtliche Verwaltung frischer und eingehender Förderung. Will die königliche Staatsregierung deshalb ernstlich damit vor¬ gehen, dem Deutschtum in der Provinz ein festes Rückgrat zu geben, so mag sie zunächst an die bewährten Traditionen vor dem Jahre 1870 anknüpfen. Mai, möge kein Opfer scheuen, um evangelische Kirchen- und Schulsysteme zu bilden, um so das zerstreute Deutschtum zu sammeln. Man gebe den evan¬ gelischen Kirchengemeinden reichlichere Staatsznschüsse, die ihnen eine angemessene Dotirung der Pfarrstellen ermöglichen. Die jahrelange Vakanz evangelischer Pfarreien in der Diaspora ist ein empfindlicher Schaden für das Deutschtum, Das Leben eiues inmitten des Polentums amtirenden Pfarrers ist, uicht uur entbehrungsreich, sondern durch die erschwerte Beschaffung aller Lebensbedürfnisse, durch die Schwierigkeiten der Kindererziehung auch kostspielig. Es stehen schöne, freundliche Pfarrhäuser und Kirchen, errichtet dnrch be¬ deutende Schulden der Gemeinde und die werkthätige Hilfe des Gustav-Advlf- Ncreins, leer und verwaist, weil kein junger Pfarrer den Mut hat, dort sein Heim anzuschlagen, und findet sich endlich ein wirklich tüchtiger Mann für eine derartige abgelegne, entbehrungsvolle Stellung, so ist dies sicher nur eine vorübergehende Erscheinung; noch ehe er sich recht einleben konnte mit der Gemeinde, um Einfluß zu gewinne», zieht er fort nach einer andern Pfarre, wo die Pfründe reicher und das Leben leichter ist. Der evangelisch-deutsche Pfarrer vermag für das Deutschtum und den Evangelisinus i» seiner Pa- rochie ganz dieselben Erfolge zu erreichen, welche zahlreiche, als Menschen und Diener der .Kirche höchst achtungsmerte katholische Geistliche für die Entwicklung der ihnen anvertrauten Parvchien erringen. Aber zu diesem Zwecke muß der evangelische Geistliche gegenüber der katholischen Kirche, die stillschweigend, aber beständig in den Kreisen der bäuerlichen und der Arbeiterbevölkerung Proselyten macht, vor allem stabil, sorgenfrei und berufsfreudig in der Seelsorge sein. Hier kann der Staat durch reichlichere Ausstattung mit materiellen Mitteln, und die kirchliche Aufsichtsbehörde durch Gewinnung tüchtiger, einer idealen Auffassung fähiger Kräfte eingreifen. Wie unheilvoll für die deutsche Bevölkerung der Mangel an evangelisch¬ deutschen Schulen wult, und wie der Besuch polnisch-katholischer Schulen der Pvlonisirnng Vorschub leistet, lehrt die Erfahrung. Es giebt in polnischen Kreisen polnische Dörfer mit einem starken Bruchteil deutscher bäuerlicher Wirte, welche aus Maugel an einer evangelischen Schule seit Jahrzehnten der nächsten polnisch-katholischen Schule zugewiesen sind. Diese deutsch-evangelischen Leute sprechen fertig polnisch, mangelhaft deutsch, und gehen einer nach dem andern im Wege polnischer Heiraten zum Polentum über. In den polnischen Kreisen längs der deutschen Provinzen nimmt die Zahl

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/454>, abgerufen am 28.09.2024.