Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Der Kampf der deutschen Nationalität mit fremden Nationen.

sich an allen großen und kleinen Höfen ein, und am Ende mußten sie auch an
den Stadtgerichten zugelassen werden. Die schrecklichsten Verwüstungen richtete
im deutschen Volksleben die Tortur an. Sie wurde ein beliebtes und gewöhn¬
liches Rechtsverfahren gegen Bürger und Bauern, und mit einer unedeln Hast
bedienten sich die geistlichen Gerichte desselben, um die Ketzer zu überführen.
Die alten Kapitularien der fränkischen Könige und Kaiser, sowie das durchaus
römische kanonische Recht boten hierzu die Handhabe. So übertrug sich die
schlechteste Seite der antiken Rechtsauffassung, die alle Menschenwürde mit
Füßen tretende Sklavenwirtschaft, ans die christlich-abendländischen Staaten als
etwas Allgemeingiltiges und Selbstverständliches. Man mag daraus ersehen, wie
gefährlich es überhaupt ist, frenide, abgestorbene Kulturen auf die heimischen
und gegenwärtigen Verhältnisse zu übertragen.

Auch nach einer andern Richtung hin zog das spätere Mittelalter aus
der römisch-griechischen Kultur einen sehr zweifelhaften Gewinn. Während der
Kreuzzüge entstand durch den Verkehr mit dem oströmischen Reiche und den
Arabern im Abendlande die Scholastik; von England, Frankreich und Italien
aus verbreitete sie sich auch über Deutschland. In der Vorliebe der Hohen-
staufen für Italien fand sie eine wesentliche Unterstützung. Trotz Minnegesang
und Rittertum verknöcherte das sonst so frische germanische Denken in den ge¬
lehrten Kreisen zu der lateinisch-byzantinischen Wortklauberei, und diese Mi߬
geburt der Philosophie wucherte fort bis zur Reformationszeit. Was ist der
Streit der Nominalisten und Realisten andres als ein verunglückter Versuch,
das subtile Begriffswescn der römisch-griechischen Philosophie auf das Christen-
tum zu übertragen? Plato und Aristoteles, mit arabischen Grübeleien verbrämt,
wurden, aber nicht zu ihrer Ehre, die Lehrmeister der latinisirten abendländischen
Buchgelehrten. Wie wohlthätig berühren dagegen die freimütiger, vom gesunden
Menschenverstande erzeugten Ausfülle Walthers von der Vogelweide und Freidanks
gegen die Mißbräuche in Kirche und Staat! Mau berufe sich nicht darauf,
daß die Nachwehen des Nömertums, römisches Recht und lateinische Scholastik,
auch in den übrigen abendländischen Kulturstaaten angetroffen wurden, daß sie
überhaupt ein Kennzeichen des Mittelalters und ein notwendiger Durchgangs¬
zustand zwischen der beschränkteren antiken und der universellen modernen
Bildung seien. Wenn Franzosen, Spanier und Italiener an diesen Übeln litten,
so konnten sie sich damit trösten, daß die römische Kultur bei ihnen eine not¬
wendige Folge ihrer Abstammung war, aber was zwang die Germanen dazu,
sich diese Last aufzubürden? Nichts andres als ihre Unselbständigkeit.

(Schluß folgt.)




Grenzboten II. 188(i,5:!
Der Kampf der deutschen Nationalität mit fremden Nationen.

sich an allen großen und kleinen Höfen ein, und am Ende mußten sie auch an
den Stadtgerichten zugelassen werden. Die schrecklichsten Verwüstungen richtete
im deutschen Volksleben die Tortur an. Sie wurde ein beliebtes und gewöhn¬
liches Rechtsverfahren gegen Bürger und Bauern, und mit einer unedeln Hast
bedienten sich die geistlichen Gerichte desselben, um die Ketzer zu überführen.
Die alten Kapitularien der fränkischen Könige und Kaiser, sowie das durchaus
römische kanonische Recht boten hierzu die Handhabe. So übertrug sich die
schlechteste Seite der antiken Rechtsauffassung, die alle Menschenwürde mit
Füßen tretende Sklavenwirtschaft, ans die christlich-abendländischen Staaten als
etwas Allgemeingiltiges und Selbstverständliches. Man mag daraus ersehen, wie
gefährlich es überhaupt ist, frenide, abgestorbene Kulturen auf die heimischen
und gegenwärtigen Verhältnisse zu übertragen.

Auch nach einer andern Richtung hin zog das spätere Mittelalter aus
der römisch-griechischen Kultur einen sehr zweifelhaften Gewinn. Während der
Kreuzzüge entstand durch den Verkehr mit dem oströmischen Reiche und den
Arabern im Abendlande die Scholastik; von England, Frankreich und Italien
aus verbreitete sie sich auch über Deutschland. In der Vorliebe der Hohen-
staufen für Italien fand sie eine wesentliche Unterstützung. Trotz Minnegesang
und Rittertum verknöcherte das sonst so frische germanische Denken in den ge¬
lehrten Kreisen zu der lateinisch-byzantinischen Wortklauberei, und diese Mi߬
geburt der Philosophie wucherte fort bis zur Reformationszeit. Was ist der
Streit der Nominalisten und Realisten andres als ein verunglückter Versuch,
das subtile Begriffswescn der römisch-griechischen Philosophie auf das Christen-
tum zu übertragen? Plato und Aristoteles, mit arabischen Grübeleien verbrämt,
wurden, aber nicht zu ihrer Ehre, die Lehrmeister der latinisirten abendländischen
Buchgelehrten. Wie wohlthätig berühren dagegen die freimütiger, vom gesunden
Menschenverstande erzeugten Ausfülle Walthers von der Vogelweide und Freidanks
gegen die Mißbräuche in Kirche und Staat! Mau berufe sich nicht darauf,
daß die Nachwehen des Nömertums, römisches Recht und lateinische Scholastik,
auch in den übrigen abendländischen Kulturstaaten angetroffen wurden, daß sie
überhaupt ein Kennzeichen des Mittelalters und ein notwendiger Durchgangs¬
zustand zwischen der beschränkteren antiken und der universellen modernen
Bildung seien. Wenn Franzosen, Spanier und Italiener an diesen Übeln litten,
so konnten sie sich damit trösten, daß die römische Kultur bei ihnen eine not¬
wendige Folge ihrer Abstammung war, aber was zwang die Germanen dazu,
sich diese Last aufzubürden? Nichts andres als ihre Unselbständigkeit.

(Schluß folgt.)




Grenzboten II. 188(i,5:!
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0425" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/198491"/>
          <fw type="header" place="top"> Der Kampf der deutschen Nationalität mit fremden Nationen.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1242" prev="#ID_1241"> sich an allen großen und kleinen Höfen ein, und am Ende mußten sie auch an<lb/>
den Stadtgerichten zugelassen werden. Die schrecklichsten Verwüstungen richtete<lb/>
im deutschen Volksleben die Tortur an. Sie wurde ein beliebtes und gewöhn¬<lb/>
liches Rechtsverfahren gegen Bürger und Bauern, und mit einer unedeln Hast<lb/>
bedienten sich die geistlichen Gerichte desselben, um die Ketzer zu überführen.<lb/>
Die alten Kapitularien der fränkischen Könige und Kaiser, sowie das durchaus<lb/>
römische kanonische Recht boten hierzu die Handhabe. So übertrug sich die<lb/>
schlechteste Seite der antiken Rechtsauffassung, die alle Menschenwürde mit<lb/>
Füßen tretende Sklavenwirtschaft, ans die christlich-abendländischen Staaten als<lb/>
etwas Allgemeingiltiges und Selbstverständliches. Man mag daraus ersehen, wie<lb/>
gefährlich es überhaupt ist, frenide, abgestorbene Kulturen auf die heimischen<lb/>
und gegenwärtigen Verhältnisse zu übertragen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1243"> Auch nach einer andern Richtung hin zog das spätere Mittelalter aus<lb/>
der römisch-griechischen Kultur einen sehr zweifelhaften Gewinn. Während der<lb/>
Kreuzzüge entstand durch den Verkehr mit dem oströmischen Reiche und den<lb/>
Arabern im Abendlande die Scholastik; von England, Frankreich und Italien<lb/>
aus verbreitete sie sich auch über Deutschland. In der Vorliebe der Hohen-<lb/>
staufen für Italien fand sie eine wesentliche Unterstützung. Trotz Minnegesang<lb/>
und Rittertum verknöcherte das sonst so frische germanische Denken in den ge¬<lb/>
lehrten Kreisen zu der lateinisch-byzantinischen Wortklauberei, und diese Mi߬<lb/>
geburt der Philosophie wucherte fort bis zur Reformationszeit. Was ist der<lb/>
Streit der Nominalisten und Realisten andres als ein verunglückter Versuch,<lb/>
das subtile Begriffswescn der römisch-griechischen Philosophie auf das Christen-<lb/>
tum zu übertragen? Plato und Aristoteles, mit arabischen Grübeleien verbrämt,<lb/>
wurden, aber nicht zu ihrer Ehre, die Lehrmeister der latinisirten abendländischen<lb/>
Buchgelehrten. Wie wohlthätig berühren dagegen die freimütiger, vom gesunden<lb/>
Menschenverstande erzeugten Ausfülle Walthers von der Vogelweide und Freidanks<lb/>
gegen die Mißbräuche in Kirche und Staat! Mau berufe sich nicht darauf,<lb/>
daß die Nachwehen des Nömertums, römisches Recht und lateinische Scholastik,<lb/>
auch in den übrigen abendländischen Kulturstaaten angetroffen wurden, daß sie<lb/>
überhaupt ein Kennzeichen des Mittelalters und ein notwendiger Durchgangs¬<lb/>
zustand zwischen der beschränkteren antiken und der universellen modernen<lb/>
Bildung seien. Wenn Franzosen, Spanier und Italiener an diesen Übeln litten,<lb/>
so konnten sie sich damit trösten, daß die römische Kultur bei ihnen eine not¬<lb/>
wendige Folge ihrer Abstammung war, aber was zwang die Germanen dazu,<lb/>
sich diese Last aufzubürden? Nichts andres als ihre Unselbständigkeit.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1244"> (Schluß folgt.)</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten II. 188(i,5:!</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0425] Der Kampf der deutschen Nationalität mit fremden Nationen. sich an allen großen und kleinen Höfen ein, und am Ende mußten sie auch an den Stadtgerichten zugelassen werden. Die schrecklichsten Verwüstungen richtete im deutschen Volksleben die Tortur an. Sie wurde ein beliebtes und gewöhn¬ liches Rechtsverfahren gegen Bürger und Bauern, und mit einer unedeln Hast bedienten sich die geistlichen Gerichte desselben, um die Ketzer zu überführen. Die alten Kapitularien der fränkischen Könige und Kaiser, sowie das durchaus römische kanonische Recht boten hierzu die Handhabe. So übertrug sich die schlechteste Seite der antiken Rechtsauffassung, die alle Menschenwürde mit Füßen tretende Sklavenwirtschaft, ans die christlich-abendländischen Staaten als etwas Allgemeingiltiges und Selbstverständliches. Man mag daraus ersehen, wie gefährlich es überhaupt ist, frenide, abgestorbene Kulturen auf die heimischen und gegenwärtigen Verhältnisse zu übertragen. Auch nach einer andern Richtung hin zog das spätere Mittelalter aus der römisch-griechischen Kultur einen sehr zweifelhaften Gewinn. Während der Kreuzzüge entstand durch den Verkehr mit dem oströmischen Reiche und den Arabern im Abendlande die Scholastik; von England, Frankreich und Italien aus verbreitete sie sich auch über Deutschland. In der Vorliebe der Hohen- staufen für Italien fand sie eine wesentliche Unterstützung. Trotz Minnegesang und Rittertum verknöcherte das sonst so frische germanische Denken in den ge¬ lehrten Kreisen zu der lateinisch-byzantinischen Wortklauberei, und diese Mi߬ geburt der Philosophie wucherte fort bis zur Reformationszeit. Was ist der Streit der Nominalisten und Realisten andres als ein verunglückter Versuch, das subtile Begriffswescn der römisch-griechischen Philosophie auf das Christen- tum zu übertragen? Plato und Aristoteles, mit arabischen Grübeleien verbrämt, wurden, aber nicht zu ihrer Ehre, die Lehrmeister der latinisirten abendländischen Buchgelehrten. Wie wohlthätig berühren dagegen die freimütiger, vom gesunden Menschenverstande erzeugten Ausfülle Walthers von der Vogelweide und Freidanks gegen die Mißbräuche in Kirche und Staat! Mau berufe sich nicht darauf, daß die Nachwehen des Nömertums, römisches Recht und lateinische Scholastik, auch in den übrigen abendländischen Kulturstaaten angetroffen wurden, daß sie überhaupt ein Kennzeichen des Mittelalters und ein notwendiger Durchgangs¬ zustand zwischen der beschränkteren antiken und der universellen modernen Bildung seien. Wenn Franzosen, Spanier und Italiener an diesen Übeln litten, so konnten sie sich damit trösten, daß die römische Kultur bei ihnen eine not¬ wendige Folge ihrer Abstammung war, aber was zwang die Germanen dazu, sich diese Last aufzubürden? Nichts andres als ihre Unselbständigkeit. (Schluß folgt.) Grenzboten II. 188(i,5:!

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/425
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/425>, abgerufen am 30.06.2024.