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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Die Ministerkrisis in London.

Gestalt geben, aber die genauer unterrichteten Freunde desselben teilen diese
Hoffnung nicht und versichern, er werde an ihm festhalten.

Und doch schließt ein Beharren ans solcher Bahn zwiefache Gefahr ein:
nicht bloß Zerreißung des Reiches, sondern, was Gladstone als ehrgeiziger
Parteiführer wahrscheinlich mehr fürchtet, Zerrüttung und Schwächung der groß-
britannischen Liberalen. Gladstone und seiue Partei haben bereits Lord
Hartington und Henry James verloren, sie können sich jetzt auch Trevelyan ent¬
fremden; aber wie hoch man auch diese Staatsmänner stellen mag, die liberale
Partei bleibt ohne sie immer noch stark, wie sie es blieb, als der Herzog von
Argyll, Bright und Forster sich aus der Administration zurückzogen, zu der sie
gehörten. Ganz anders aber verhält es sich mit Chamberlain, der sich durch
seine Grundsätze und Bestrebungen, durch seine Thatkraft, fein Geschick und seine
Rednergabe eine Popularität erworben hat, welche ihm unter dem Einflüsse
des neuen Wahlsystems eine sehr bedeutende Rolle weissagen läßt. Er huldigt
sehr vorgeschrittenen politischen Ansichten, aber dieselben breiteten sich im eng¬
lischen Volke seit Jahren schon mehr und mehr ans und werden ohne Zweifel
in naher Zukunft weiter Boden gewinnen. Er wird unausbleiblich bei zu¬
künftigen Kampagnen der Führer, der Oberfeldherr der Parteigruppen sein, die
bis jetzt der Leitung Gladstones folgten. Darf er unter solchen Umständen,
mit solchen Aussichten jetzt mit Gladstone gehen? Wir glauben nicht. Die
ganze Partei würde sich für jetzt und für Jahre, vielleicht für Generationen,
mit dieser Lösung des irischen Problems einen Mühlstein um den Hals hängen.
Der König der Liberalen und sein Kronprinz würden Seite an Seite zu Felde
ziehend das Schicksal der ganzen Dynastie auf den Ausgang des gewagten
Waffenspieles setzen. Man würde nicht bloß den Liberalismus, der heute noch
obenauf ist, sondern auch den Radikalismus, der morgen vorherrschen wird, auf
einen Vorschlag verpflichten, der bei seiner Ausführung, wenn nicht gleich, doch
in kurzer Zeit den gesamten britischen Patriotismus gegen sich aufflammen
lassen würde, auf eine Lösung, die in Wirklichkeit nichts lösen, auf einen Ab¬
schluß, der im Ernste nichts schließen würde. Fox beging zu Ende des letzten
Jahrhunderts einen ähnlichen Mißgriff: er ergriff, als England über das Pa¬
riser Schreckensregiment schauderte, Partei für die französische Revolution, und
die Strafe war, daß die Whigs von der Gewalt ausgeschlossen wurden und die
Reform für mehr als drei Jahrzehnte zum Stillstände kam. So rächte sich
damals die antinationale Politik der whigistischen Führer an der ganzen Partei.
Wie Fox sich zu den Franzosen stellte, so stellt sich Gladstone jetzt zu den Jr-
ländern. Aber Chamberlain, von den Umständen zu seinem Nachfolger in der
Führerschaft berufe", kann die Partei durch Sezession retten und ihre Zukunft
vor der Verbindung mit einer Politik bewahren, welche über kurz oder lang in
England allgemeines Mißvergnügen erwecken und allgemein verworfen werden
würde. Schließt er sich, was jetzt kaum noch anzunehmen ist, Gladstone in


Grenzboten It. 1886. 6
Die Ministerkrisis in London.

Gestalt geben, aber die genauer unterrichteten Freunde desselben teilen diese
Hoffnung nicht und versichern, er werde an ihm festhalten.

Und doch schließt ein Beharren ans solcher Bahn zwiefache Gefahr ein:
nicht bloß Zerreißung des Reiches, sondern, was Gladstone als ehrgeiziger
Parteiführer wahrscheinlich mehr fürchtet, Zerrüttung und Schwächung der groß-
britannischen Liberalen. Gladstone und seiue Partei haben bereits Lord
Hartington und Henry James verloren, sie können sich jetzt auch Trevelyan ent¬
fremden; aber wie hoch man auch diese Staatsmänner stellen mag, die liberale
Partei bleibt ohne sie immer noch stark, wie sie es blieb, als der Herzog von
Argyll, Bright und Forster sich aus der Administration zurückzogen, zu der sie
gehörten. Ganz anders aber verhält es sich mit Chamberlain, der sich durch
seine Grundsätze und Bestrebungen, durch seine Thatkraft, fein Geschick und seine
Rednergabe eine Popularität erworben hat, welche ihm unter dem Einflüsse
des neuen Wahlsystems eine sehr bedeutende Rolle weissagen läßt. Er huldigt
sehr vorgeschrittenen politischen Ansichten, aber dieselben breiteten sich im eng¬
lischen Volke seit Jahren schon mehr und mehr ans und werden ohne Zweifel
in naher Zukunft weiter Boden gewinnen. Er wird unausbleiblich bei zu¬
künftigen Kampagnen der Führer, der Oberfeldherr der Parteigruppen sein, die
bis jetzt der Leitung Gladstones folgten. Darf er unter solchen Umständen,
mit solchen Aussichten jetzt mit Gladstone gehen? Wir glauben nicht. Die
ganze Partei würde sich für jetzt und für Jahre, vielleicht für Generationen,
mit dieser Lösung des irischen Problems einen Mühlstein um den Hals hängen.
Der König der Liberalen und sein Kronprinz würden Seite an Seite zu Felde
ziehend das Schicksal der ganzen Dynastie auf den Ausgang des gewagten
Waffenspieles setzen. Man würde nicht bloß den Liberalismus, der heute noch
obenauf ist, sondern auch den Radikalismus, der morgen vorherrschen wird, auf
einen Vorschlag verpflichten, der bei seiner Ausführung, wenn nicht gleich, doch
in kurzer Zeit den gesamten britischen Patriotismus gegen sich aufflammen
lassen würde, auf eine Lösung, die in Wirklichkeit nichts lösen, auf einen Ab¬
schluß, der im Ernste nichts schließen würde. Fox beging zu Ende des letzten
Jahrhunderts einen ähnlichen Mißgriff: er ergriff, als England über das Pa¬
riser Schreckensregiment schauderte, Partei für die französische Revolution, und
die Strafe war, daß die Whigs von der Gewalt ausgeschlossen wurden und die
Reform für mehr als drei Jahrzehnte zum Stillstände kam. So rächte sich
damals die antinationale Politik der whigistischen Führer an der ganzen Partei.
Wie Fox sich zu den Franzosen stellte, so stellt sich Gladstone jetzt zu den Jr-
ländern. Aber Chamberlain, von den Umständen zu seinem Nachfolger in der
Führerschaft berufe», kann die Partei durch Sezession retten und ihre Zukunft
vor der Verbindung mit einer Politik bewahren, welche über kurz oder lang in
England allgemeines Mißvergnügen erwecken und allgemein verworfen werden
würde. Schließt er sich, was jetzt kaum noch anzunehmen ist, Gladstone in


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[0041] Die Ministerkrisis in London. Gestalt geben, aber die genauer unterrichteten Freunde desselben teilen diese Hoffnung nicht und versichern, er werde an ihm festhalten. Und doch schließt ein Beharren ans solcher Bahn zwiefache Gefahr ein: nicht bloß Zerreißung des Reiches, sondern, was Gladstone als ehrgeiziger Parteiführer wahrscheinlich mehr fürchtet, Zerrüttung und Schwächung der groß- britannischen Liberalen. Gladstone und seiue Partei haben bereits Lord Hartington und Henry James verloren, sie können sich jetzt auch Trevelyan ent¬ fremden; aber wie hoch man auch diese Staatsmänner stellen mag, die liberale Partei bleibt ohne sie immer noch stark, wie sie es blieb, als der Herzog von Argyll, Bright und Forster sich aus der Administration zurückzogen, zu der sie gehörten. Ganz anders aber verhält es sich mit Chamberlain, der sich durch seine Grundsätze und Bestrebungen, durch seine Thatkraft, fein Geschick und seine Rednergabe eine Popularität erworben hat, welche ihm unter dem Einflüsse des neuen Wahlsystems eine sehr bedeutende Rolle weissagen läßt. Er huldigt sehr vorgeschrittenen politischen Ansichten, aber dieselben breiteten sich im eng¬ lischen Volke seit Jahren schon mehr und mehr ans und werden ohne Zweifel in naher Zukunft weiter Boden gewinnen. Er wird unausbleiblich bei zu¬ künftigen Kampagnen der Führer, der Oberfeldherr der Parteigruppen sein, die bis jetzt der Leitung Gladstones folgten. Darf er unter solchen Umständen, mit solchen Aussichten jetzt mit Gladstone gehen? Wir glauben nicht. Die ganze Partei würde sich für jetzt und für Jahre, vielleicht für Generationen, mit dieser Lösung des irischen Problems einen Mühlstein um den Hals hängen. Der König der Liberalen und sein Kronprinz würden Seite an Seite zu Felde ziehend das Schicksal der ganzen Dynastie auf den Ausgang des gewagten Waffenspieles setzen. Man würde nicht bloß den Liberalismus, der heute noch obenauf ist, sondern auch den Radikalismus, der morgen vorherrschen wird, auf einen Vorschlag verpflichten, der bei seiner Ausführung, wenn nicht gleich, doch in kurzer Zeit den gesamten britischen Patriotismus gegen sich aufflammen lassen würde, auf eine Lösung, die in Wirklichkeit nichts lösen, auf einen Ab¬ schluß, der im Ernste nichts schließen würde. Fox beging zu Ende des letzten Jahrhunderts einen ähnlichen Mißgriff: er ergriff, als England über das Pa¬ riser Schreckensregiment schauderte, Partei für die französische Revolution, und die Strafe war, daß die Whigs von der Gewalt ausgeschlossen wurden und die Reform für mehr als drei Jahrzehnte zum Stillstände kam. So rächte sich damals die antinationale Politik der whigistischen Führer an der ganzen Partei. Wie Fox sich zu den Franzosen stellte, so stellt sich Gladstone jetzt zu den Jr- ländern. Aber Chamberlain, von den Umständen zu seinem Nachfolger in der Führerschaft berufe», kann die Partei durch Sezession retten und ihre Zukunft vor der Verbindung mit einer Politik bewahren, welche über kurz oder lang in England allgemeines Mißvergnügen erwecken und allgemein verworfen werden würde. Schließt er sich, was jetzt kaum noch anzunehmen ist, Gladstone in Grenzboten It. 1886. 6

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/41>, abgerufen am 25.07.2024.