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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Die naturalistische Schule in Deutschland.

werden, und eine große Anzahl von Männern, welche berufen wären, dem Unfug
entgegenzutreten, geht ihm mit der stillen Hoffnung aus dem Wege, daß er über
kurz oder laug im Irrenhaus (Abteilung für Größcnwahnsinn) erlöschen müsse.
Wie viel inzwischen in unsern literarischen Zuständen, die wahrlich schon ver¬
worren und widerwärtig genug sind, noch verschlechtert, wie viel Talente auf
Irrwege gedrängt, wie viel "Empfängliche" im Publikum der Genußfähigkeit
für jede andre Lebensdarstcllnng beraubt werden, kümmert diese Vorsichtigen nicht.
Sie wünschen von niemand "verkannt" zu werden und sind ja ganz gewiß, daß
der groteske Kriegstanz, der mit wilder Bedrohung aller pscudoidealistischeu
"Schurken" aufgeführt wird, bald in lächerlicher Weise enden werde.

Einstweilen aber scheinen die Jünger der "unerschrocknen" und schon darum
"wahrhaft-sittlichen" Kunst ihres Sieges ebenso gewiß. In der Vorrede zu dem
Buche "Schlechte Gesellschaft" orakelt Carl Bleibtreu wie folgt: "Gerade durch
den Gegensatz höchster Sentimentalität zu der völlig ungeschminkt dargestellten
Rohheit des realen Lebens kann jener unheimliche Eindruck künstlerisch erzeugt
werden, den das Wesen des Menschen bei jedem denkenden Beobachter wachruft.
Der Mensch ist keine Maschine, und eine bloße physische Anatomie daher un¬
realistisch. Anderseits soll rücksichtslos die Einwirkung des Physischen betont
werden. Die verlogne Patchoulipoctik, in welcher das Menschentier mit be-
schnittner Krallen in Glacehandschuhen sich spreizt und gleichsam in Zuckerwasser
bcsäuft, muß solange befehdet werdeu, bis der tausendfältige Sündenschmerz der
Menschheit endlich das Gestüte der Aftervvesie mit seinem donnernden Aufschrei
erstickt hat. Es steckt ein dämonisches Element in jeder Rücksicht auf die
Feuerversichernngsanstaltcn der konventionellen Moral. Selbstverständlich sind
die Figuren und Handlungen samt und sonders erfunden; die Modelle dazu
sind leicht zu treffen, daß es sich hier für mich nnr darum handelte, gleichsam
Symbole zu schaffen. Mit solchen Einzelstücken des neudeutschen Daseins muß
begonnen werden, ehe es gelingt, die komplizirte Mechanik der Gesellschafts¬
ordnung analytisch in ihre Teile zu zerlegen."

Da hätten wir denn wieder alle Schlagwörter beisammen, deren es bedarf,
die zahlreichen Tröpfe und Pinsel einzuschüchtern, die an der Spitze der "geistigen
Bewegung" zu bleiben wünschen und nicht im Augenblick zu erkennen vermögen,
welcher armselige Humbug hinter diesem Wvrtgepränge steckt: die verlogne
"Patchoulipoetik" (welche die Poesie von zwei Jahrtausenden umfaßt), die das
"Menscheutier mit seinen Krallen" nicht darzustellen weiß und darum zum
"Geflvte der Aftervvesie" wird, die "konventionelle Moral" (Conrad nennt es
"polizeimäßige Scheinmoral") und endlich das "neudeutsche Dasein." Denn
niemand geringeres wird als der geistige Vater des brutalen Naturalismus
proklamirt als -- Fürst Bismarck. Wie der große Staatsmann dazu kommt,
sich im Sinne der literarischen Naturalisten für den ersten modernen Menschen
erklären zu lassen, dürfte schwer zu erraten sein; die Berufung aber auf ihn,


Die naturalistische Schule in Deutschland.

werden, und eine große Anzahl von Männern, welche berufen wären, dem Unfug
entgegenzutreten, geht ihm mit der stillen Hoffnung aus dem Wege, daß er über
kurz oder laug im Irrenhaus (Abteilung für Größcnwahnsinn) erlöschen müsse.
Wie viel inzwischen in unsern literarischen Zuständen, die wahrlich schon ver¬
worren und widerwärtig genug sind, noch verschlechtert, wie viel Talente auf
Irrwege gedrängt, wie viel „Empfängliche" im Publikum der Genußfähigkeit
für jede andre Lebensdarstcllnng beraubt werden, kümmert diese Vorsichtigen nicht.
Sie wünschen von niemand „verkannt" zu werden und sind ja ganz gewiß, daß
der groteske Kriegstanz, der mit wilder Bedrohung aller pscudoidealistischeu
„Schurken" aufgeführt wird, bald in lächerlicher Weise enden werde.

Einstweilen aber scheinen die Jünger der „unerschrocknen" und schon darum
„wahrhaft-sittlichen" Kunst ihres Sieges ebenso gewiß. In der Vorrede zu dem
Buche „Schlechte Gesellschaft" orakelt Carl Bleibtreu wie folgt: „Gerade durch
den Gegensatz höchster Sentimentalität zu der völlig ungeschminkt dargestellten
Rohheit des realen Lebens kann jener unheimliche Eindruck künstlerisch erzeugt
werden, den das Wesen des Menschen bei jedem denkenden Beobachter wachruft.
Der Mensch ist keine Maschine, und eine bloße physische Anatomie daher un¬
realistisch. Anderseits soll rücksichtslos die Einwirkung des Physischen betont
werden. Die verlogne Patchoulipoctik, in welcher das Menschentier mit be-
schnittner Krallen in Glacehandschuhen sich spreizt und gleichsam in Zuckerwasser
bcsäuft, muß solange befehdet werdeu, bis der tausendfältige Sündenschmerz der
Menschheit endlich das Gestüte der Aftervvesie mit seinem donnernden Aufschrei
erstickt hat. Es steckt ein dämonisches Element in jeder Rücksicht auf die
Feuerversichernngsanstaltcn der konventionellen Moral. Selbstverständlich sind
die Figuren und Handlungen samt und sonders erfunden; die Modelle dazu
sind leicht zu treffen, daß es sich hier für mich nnr darum handelte, gleichsam
Symbole zu schaffen. Mit solchen Einzelstücken des neudeutschen Daseins muß
begonnen werden, ehe es gelingt, die komplizirte Mechanik der Gesellschafts¬
ordnung analytisch in ihre Teile zu zerlegen."

Da hätten wir denn wieder alle Schlagwörter beisammen, deren es bedarf,
die zahlreichen Tröpfe und Pinsel einzuschüchtern, die an der Spitze der „geistigen
Bewegung" zu bleiben wünschen und nicht im Augenblick zu erkennen vermögen,
welcher armselige Humbug hinter diesem Wvrtgepränge steckt: die verlogne
„Patchoulipoetik" (welche die Poesie von zwei Jahrtausenden umfaßt), die das
„Menscheutier mit seinen Krallen" nicht darzustellen weiß und darum zum
„Geflvte der Aftervvesie" wird, die „konventionelle Moral" (Conrad nennt es
„polizeimäßige Scheinmoral") und endlich das „neudeutsche Dasein." Denn
niemand geringeres wird als der geistige Vater des brutalen Naturalismus
proklamirt als — Fürst Bismarck. Wie der große Staatsmann dazu kommt,
sich im Sinne der literarischen Naturalisten für den ersten modernen Menschen
erklären zu lassen, dürfte schwer zu erraten sein; die Berufung aber auf ihn,


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[0322] Die naturalistische Schule in Deutschland. werden, und eine große Anzahl von Männern, welche berufen wären, dem Unfug entgegenzutreten, geht ihm mit der stillen Hoffnung aus dem Wege, daß er über kurz oder laug im Irrenhaus (Abteilung für Größcnwahnsinn) erlöschen müsse. Wie viel inzwischen in unsern literarischen Zuständen, die wahrlich schon ver¬ worren und widerwärtig genug sind, noch verschlechtert, wie viel Talente auf Irrwege gedrängt, wie viel „Empfängliche" im Publikum der Genußfähigkeit für jede andre Lebensdarstcllnng beraubt werden, kümmert diese Vorsichtigen nicht. Sie wünschen von niemand „verkannt" zu werden und sind ja ganz gewiß, daß der groteske Kriegstanz, der mit wilder Bedrohung aller pscudoidealistischeu „Schurken" aufgeführt wird, bald in lächerlicher Weise enden werde. Einstweilen aber scheinen die Jünger der „unerschrocknen" und schon darum „wahrhaft-sittlichen" Kunst ihres Sieges ebenso gewiß. In der Vorrede zu dem Buche „Schlechte Gesellschaft" orakelt Carl Bleibtreu wie folgt: „Gerade durch den Gegensatz höchster Sentimentalität zu der völlig ungeschminkt dargestellten Rohheit des realen Lebens kann jener unheimliche Eindruck künstlerisch erzeugt werden, den das Wesen des Menschen bei jedem denkenden Beobachter wachruft. Der Mensch ist keine Maschine, und eine bloße physische Anatomie daher un¬ realistisch. Anderseits soll rücksichtslos die Einwirkung des Physischen betont werden. Die verlogne Patchoulipoctik, in welcher das Menschentier mit be- schnittner Krallen in Glacehandschuhen sich spreizt und gleichsam in Zuckerwasser bcsäuft, muß solange befehdet werdeu, bis der tausendfältige Sündenschmerz der Menschheit endlich das Gestüte der Aftervvesie mit seinem donnernden Aufschrei erstickt hat. Es steckt ein dämonisches Element in jeder Rücksicht auf die Feuerversichernngsanstaltcn der konventionellen Moral. Selbstverständlich sind die Figuren und Handlungen samt und sonders erfunden; die Modelle dazu sind leicht zu treffen, daß es sich hier für mich nnr darum handelte, gleichsam Symbole zu schaffen. Mit solchen Einzelstücken des neudeutschen Daseins muß begonnen werden, ehe es gelingt, die komplizirte Mechanik der Gesellschafts¬ ordnung analytisch in ihre Teile zu zerlegen." Da hätten wir denn wieder alle Schlagwörter beisammen, deren es bedarf, die zahlreichen Tröpfe und Pinsel einzuschüchtern, die an der Spitze der „geistigen Bewegung" zu bleiben wünschen und nicht im Augenblick zu erkennen vermögen, welcher armselige Humbug hinter diesem Wvrtgepränge steckt: die verlogne „Patchoulipoetik" (welche die Poesie von zwei Jahrtausenden umfaßt), die das „Menscheutier mit seinen Krallen" nicht darzustellen weiß und darum zum „Geflvte der Aftervvesie" wird, die „konventionelle Moral" (Conrad nennt es „polizeimäßige Scheinmoral") und endlich das „neudeutsche Dasein." Denn niemand geringeres wird als der geistige Vater des brutalen Naturalismus proklamirt als — Fürst Bismarck. Wie der große Staatsmann dazu kommt, sich im Sinne der literarischen Naturalisten für den ersten modernen Menschen erklären zu lassen, dürfte schwer zu erraten sein; die Berufung aber auf ihn,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/322>, abgerufen am 30.06.2024.