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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Spiel und Wette.

Kind in seiner Einbildungskraft die Puppe zu einem lebenden Wesen umge¬
staltet und sie, obgleich diese Umgestaltung nicht materiell einende, die Puppe
also nicht wirklich lebendig wird, doch so behandelt, als ob sie es wäre: die
Puppe wird gebadet, angezogen, spazieren geführt, erhält Essen und Trinken,
wird ausgezogen, ins Bett gelegt und schläft ein.

Von dem ästhetischen Spielen ist das natürliche Spiel zu unterscheiden.
Dieses besteht in der Bethätigung irgendwelcher TlMgkcitsanlcige und beruht
auf der allgemein giltigen Thatsache, daß eilte ihrer Natur entsprechende Be¬
thätigung einer Anlage Befriedigung erweckt. Bei dem ästhetischen Spielen
liegt das natürliche Spielen zu Grunde: die Bethätigung der Einbildungskraft
in einer ihrer Anlage entsprechenden Weise ist der Grund für die durch sie ge¬
wonnene Befriedigung nud wird durch das Streben nach dieser veranlaßt; soll
aber das natürliche Spiel zum ästhetischen werden, so kommt gerade diese
Bethätigung der Anlage der Einbildungskraft zur Umgestaltung neu hinzu. Das
natürliche Spielen hat daher ein viel weiteres Gebiet als das ästhetische: dieses
ist Vorrecht des Menschen, jenes kommt außer beim Menschen bei allen selb¬
ständig sich bewegenden und bestimmenden Organismen vor. Zuweilen wird der
Charakter des ästhetischen Spieles fälschlich dem natürlichen Spiele zugeschrieben.
Wenn die Katze mit einem Garnrvllchen, mit einem Knäuel Papier oder Wolle
spielt, so ist dies Bethätigung ihrer natürlichen Anlage, das Bewegte zu haschen.
Wir legen ihr aber leicht die Annahme unter, als dächte sie sich unter dem be¬
wegten Gegenstände eine Maus. Thäte sie das wirklich, so spielte sie ästhetisch.
Wendet sie aber ihre Einbildungskraft nicht in der Weise subjektiv umgestaltend
an, wie es der Mensch in gleichem Falle thun könnte, so spielt sie natürlich.
Und sie spielt sicherlich nur so, weil die willkürliche und daher zur Umgestaltung
befähigende Verwendung der Einbildungskraft, wie sie dem Menschen zu Gebote
steht, dem Tiere versagt ist; das Tier bleibt auf der Stufe stehen, welche der
Mensch von Geburt an so lange ausschließlich ausübt, bis die allmählich ge¬
wonnene Erfahrung ihm die umgestaltende Thätigkeit der Einbildungskraft, ihrer
bei ihm vochandnen Anlage entsprechend, ermöglicht. Sobald sich diese Anlage
zu bethätigen beginnt, gewinnt sie in dem Kinde sehr rasch eine solche Macht,
daß es alles Wirkliche nach seiner Willkür in Wort nud That umgestaltet, sodaß
es oft die Grenze zwischen Spiel und Wirklichkeit verliert und mit aller Energie
zur Unterscheidung beider angehalten werden muß. Als geläuterter Rest dieser
Anlage rettet sich in das reifere Leben die Befähigung, die Kunst als solche
aufzufassen und in selteneren Fällen die Kraft, sie auszuüben; das dieser Aus¬
übung zu Grunde liegende poetische Gestalten und Schaffen hat seine Quelle in
jener subjektiv umgestaltenden Thätigkeit der Einbildungskraft, die uus zuerst
als ästhetisches Spiel begegnet.

Dieser Charakter des ästhetischen Spieles liegt nun auch dem Gesellschafts¬
spiele zu Grnnde, und zwar sowohl dann, wenn der Gegenstand der umgestaltenden


Spiel und Wette.

Kind in seiner Einbildungskraft die Puppe zu einem lebenden Wesen umge¬
staltet und sie, obgleich diese Umgestaltung nicht materiell einende, die Puppe
also nicht wirklich lebendig wird, doch so behandelt, als ob sie es wäre: die
Puppe wird gebadet, angezogen, spazieren geführt, erhält Essen und Trinken,
wird ausgezogen, ins Bett gelegt und schläft ein.

Von dem ästhetischen Spielen ist das natürliche Spiel zu unterscheiden.
Dieses besteht in der Bethätigung irgendwelcher TlMgkcitsanlcige und beruht
auf der allgemein giltigen Thatsache, daß eilte ihrer Natur entsprechende Be¬
thätigung einer Anlage Befriedigung erweckt. Bei dem ästhetischen Spielen
liegt das natürliche Spielen zu Grunde: die Bethätigung der Einbildungskraft
in einer ihrer Anlage entsprechenden Weise ist der Grund für die durch sie ge¬
wonnene Befriedigung nud wird durch das Streben nach dieser veranlaßt; soll
aber das natürliche Spiel zum ästhetischen werden, so kommt gerade diese
Bethätigung der Anlage der Einbildungskraft zur Umgestaltung neu hinzu. Das
natürliche Spielen hat daher ein viel weiteres Gebiet als das ästhetische: dieses
ist Vorrecht des Menschen, jenes kommt außer beim Menschen bei allen selb¬
ständig sich bewegenden und bestimmenden Organismen vor. Zuweilen wird der
Charakter des ästhetischen Spieles fälschlich dem natürlichen Spiele zugeschrieben.
Wenn die Katze mit einem Garnrvllchen, mit einem Knäuel Papier oder Wolle
spielt, so ist dies Bethätigung ihrer natürlichen Anlage, das Bewegte zu haschen.
Wir legen ihr aber leicht die Annahme unter, als dächte sie sich unter dem be¬
wegten Gegenstände eine Maus. Thäte sie das wirklich, so spielte sie ästhetisch.
Wendet sie aber ihre Einbildungskraft nicht in der Weise subjektiv umgestaltend
an, wie es der Mensch in gleichem Falle thun könnte, so spielt sie natürlich.
Und sie spielt sicherlich nur so, weil die willkürliche und daher zur Umgestaltung
befähigende Verwendung der Einbildungskraft, wie sie dem Menschen zu Gebote
steht, dem Tiere versagt ist; das Tier bleibt auf der Stufe stehen, welche der
Mensch von Geburt an so lange ausschließlich ausübt, bis die allmählich ge¬
wonnene Erfahrung ihm die umgestaltende Thätigkeit der Einbildungskraft, ihrer
bei ihm vochandnen Anlage entsprechend, ermöglicht. Sobald sich diese Anlage
zu bethätigen beginnt, gewinnt sie in dem Kinde sehr rasch eine solche Macht,
daß es alles Wirkliche nach seiner Willkür in Wort nud That umgestaltet, sodaß
es oft die Grenze zwischen Spiel und Wirklichkeit verliert und mit aller Energie
zur Unterscheidung beider angehalten werden muß. Als geläuterter Rest dieser
Anlage rettet sich in das reifere Leben die Befähigung, die Kunst als solche
aufzufassen und in selteneren Fällen die Kraft, sie auszuüben; das dieser Aus¬
übung zu Grunde liegende poetische Gestalten und Schaffen hat seine Quelle in
jener subjektiv umgestaltenden Thätigkeit der Einbildungskraft, die uus zuerst
als ästhetisches Spiel begegnet.

Dieser Charakter des ästhetischen Spieles liegt nun auch dem Gesellschafts¬
spiele zu Grnnde, und zwar sowohl dann, wenn der Gegenstand der umgestaltenden


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[0032] Spiel und Wette. Kind in seiner Einbildungskraft die Puppe zu einem lebenden Wesen umge¬ staltet und sie, obgleich diese Umgestaltung nicht materiell einende, die Puppe also nicht wirklich lebendig wird, doch so behandelt, als ob sie es wäre: die Puppe wird gebadet, angezogen, spazieren geführt, erhält Essen und Trinken, wird ausgezogen, ins Bett gelegt und schläft ein. Von dem ästhetischen Spielen ist das natürliche Spiel zu unterscheiden. Dieses besteht in der Bethätigung irgendwelcher TlMgkcitsanlcige und beruht auf der allgemein giltigen Thatsache, daß eilte ihrer Natur entsprechende Be¬ thätigung einer Anlage Befriedigung erweckt. Bei dem ästhetischen Spielen liegt das natürliche Spielen zu Grunde: die Bethätigung der Einbildungskraft in einer ihrer Anlage entsprechenden Weise ist der Grund für die durch sie ge¬ wonnene Befriedigung nud wird durch das Streben nach dieser veranlaßt; soll aber das natürliche Spiel zum ästhetischen werden, so kommt gerade diese Bethätigung der Anlage der Einbildungskraft zur Umgestaltung neu hinzu. Das natürliche Spielen hat daher ein viel weiteres Gebiet als das ästhetische: dieses ist Vorrecht des Menschen, jenes kommt außer beim Menschen bei allen selb¬ ständig sich bewegenden und bestimmenden Organismen vor. Zuweilen wird der Charakter des ästhetischen Spieles fälschlich dem natürlichen Spiele zugeschrieben. Wenn die Katze mit einem Garnrvllchen, mit einem Knäuel Papier oder Wolle spielt, so ist dies Bethätigung ihrer natürlichen Anlage, das Bewegte zu haschen. Wir legen ihr aber leicht die Annahme unter, als dächte sie sich unter dem be¬ wegten Gegenstände eine Maus. Thäte sie das wirklich, so spielte sie ästhetisch. Wendet sie aber ihre Einbildungskraft nicht in der Weise subjektiv umgestaltend an, wie es der Mensch in gleichem Falle thun könnte, so spielt sie natürlich. Und sie spielt sicherlich nur so, weil die willkürliche und daher zur Umgestaltung befähigende Verwendung der Einbildungskraft, wie sie dem Menschen zu Gebote steht, dem Tiere versagt ist; das Tier bleibt auf der Stufe stehen, welche der Mensch von Geburt an so lange ausschließlich ausübt, bis die allmählich ge¬ wonnene Erfahrung ihm die umgestaltende Thätigkeit der Einbildungskraft, ihrer bei ihm vochandnen Anlage entsprechend, ermöglicht. Sobald sich diese Anlage zu bethätigen beginnt, gewinnt sie in dem Kinde sehr rasch eine solche Macht, daß es alles Wirkliche nach seiner Willkür in Wort nud That umgestaltet, sodaß es oft die Grenze zwischen Spiel und Wirklichkeit verliert und mit aller Energie zur Unterscheidung beider angehalten werden muß. Als geläuterter Rest dieser Anlage rettet sich in das reifere Leben die Befähigung, die Kunst als solche aufzufassen und in selteneren Fällen die Kraft, sie auszuüben; das dieser Aus¬ übung zu Grunde liegende poetische Gestalten und Schaffen hat seine Quelle in jener subjektiv umgestaltenden Thätigkeit der Einbildungskraft, die uus zuerst als ästhetisches Spiel begegnet. Dieser Charakter des ästhetischen Spieles liegt nun auch dem Gesellschafts¬ spiele zu Grnnde, und zwar sowohl dann, wenn der Gegenstand der umgestaltenden

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/32>, abgerufen am 02.07.2024.