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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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trafen sich in Ausdrücken der Bewunderung; Lamennais ward direkt neben den
großen Pascal gestellt; das Buch fand alsbald neue Auflagen, Übersetzungen
in spanischer und deutscher Sprache, und doch enthielt es uicht einen originellen
Gedanken, sondern war eine glückliche Kompilation aus Pascal, de Maistre,
Bonald, Chateaubriand u. a. nannten ihn manche Gegner einen "Lügenfabri¬
kanten" und "Skandalmacher," so verbreitete die ultramontane Partei sein Buch
und seinen Ruf weit über die Grenzen Frankreichs, Ohne Liebe und Freund¬
schaft in der Welt, suchte der hochbegabte Priester Ersatz in der Kirche; er
wollte herrschen, die unterdrückte Kirche zu neuer Allmacht erhöhen und in ihr
eine gebietende Rolle spielen. Mit der absoluten Sicherheit eines scheinbar un¬
erschütterlichen Glaubens trat er auf; seine rhetorische Gewalt war zumal im
Zorne, tu Donner und Blitz berückend, und mit echt populärer Feder riß er
die Indifferenten ans ihrem bequemen Schlummer; er sprach so verachtungsvoll
von den gesellschaftlichen Zuständen Europas, wie wenn er ihnen absolut fremd
wäre, stritt gegen die Philosophie des siebzehnten und den Unglauben des acht¬
zehnten Jahrhunderts und bezeichnete als einzige Regel der Gewißheit das
Grundprinzip der römischen Kirche, ihre Autorität in Glaubenssachen; was von
der Lehre der Kirche abwich, galt ihm als schnöder Abfall; wer dem Papste
nicht blind gehorchte, war ihm Rebell gegen Gott selbst; jeder Staat, der die
Ketzerei duldete, verließ seine kirchliche Grundlage und gab selbst seine Legiti¬
mität preis -- kurz, die gesunkene europäische Gesellschaft konnte aus der all¬
gemeinen Anarchie nur gerettet werden, wenn sie zur Unfehlbarkeit der Päpst¬
lichen Autorität zurückkehrte. Jahrelang wurde das Buch in schärfster Weise
angegriffen und widerlegt, Lamennais selbst schrieb 1821 eine Dutenss. Als be¬
geisterter Streiter der Loolesia militM" wurde er Mitarbeiter am Lor8si'vat>cur,
trug nach Kräften zum Sturze des Ministerpräsidenten Decazes bei und be¬
kämpfte den ihm folgenden Villele in den Journalen 1,6 vraxeg-n vlluiv und
Ils Neinorial o-itllolicinv. Ohne eigentlicher Royalist zu sein und in beständiger
Anfeindung aller Ministerien der Restauration, arbeitete er für die Konser¬
vativen; ihm ging Rom über alle Könige. Der Katholizismus erschien ihm
die höchste Bildung der göttlich-menschlichen Vernunft; in der Autorität des
Papsttums glaubte er die ersehnte Garantie für die ewige Wahrheit zu finde",
welche der individuelle Verstand anzweifle; alle obrigkeitliche Autorität schien
ihm vom Papste abgeleitet, und er wollte darum den Staat völlig der Kirche
unterordnen; fast heftiger uoch als den Protestantismus bekämpfte er den Galli-
kanismus, den Abscheu der Jesuiten. Er pries de Maistres merkwürdiges Buch
"Vom Papste," fand bei ihm neuen Stoff und war gewillt, ihn mit allen
Waffen des Geistes und der Sophistik zu unterstützen. Nicht minderes Auf¬
sehen als der erste erregten die drei letzten Bände des IZssÄi, die bis 1823
erschienen und wiederholt aufgelegt wurden. Lamennais sah in der Unfehl¬
barkeit des Papstes die gegebene Basis seiner Erkenntnistheorie, im Papste lag


trafen sich in Ausdrücken der Bewunderung; Lamennais ward direkt neben den
großen Pascal gestellt; das Buch fand alsbald neue Auflagen, Übersetzungen
in spanischer und deutscher Sprache, und doch enthielt es uicht einen originellen
Gedanken, sondern war eine glückliche Kompilation aus Pascal, de Maistre,
Bonald, Chateaubriand u. a. nannten ihn manche Gegner einen „Lügenfabri¬
kanten" und „Skandalmacher," so verbreitete die ultramontane Partei sein Buch
und seinen Ruf weit über die Grenzen Frankreichs, Ohne Liebe und Freund¬
schaft in der Welt, suchte der hochbegabte Priester Ersatz in der Kirche; er
wollte herrschen, die unterdrückte Kirche zu neuer Allmacht erhöhen und in ihr
eine gebietende Rolle spielen. Mit der absoluten Sicherheit eines scheinbar un¬
erschütterlichen Glaubens trat er auf; seine rhetorische Gewalt war zumal im
Zorne, tu Donner und Blitz berückend, und mit echt populärer Feder riß er
die Indifferenten ans ihrem bequemen Schlummer; er sprach so verachtungsvoll
von den gesellschaftlichen Zuständen Europas, wie wenn er ihnen absolut fremd
wäre, stritt gegen die Philosophie des siebzehnten und den Unglauben des acht¬
zehnten Jahrhunderts und bezeichnete als einzige Regel der Gewißheit das
Grundprinzip der römischen Kirche, ihre Autorität in Glaubenssachen; was von
der Lehre der Kirche abwich, galt ihm als schnöder Abfall; wer dem Papste
nicht blind gehorchte, war ihm Rebell gegen Gott selbst; jeder Staat, der die
Ketzerei duldete, verließ seine kirchliche Grundlage und gab selbst seine Legiti¬
mität preis — kurz, die gesunkene europäische Gesellschaft konnte aus der all¬
gemeinen Anarchie nur gerettet werden, wenn sie zur Unfehlbarkeit der Päpst¬
lichen Autorität zurückkehrte. Jahrelang wurde das Buch in schärfster Weise
angegriffen und widerlegt, Lamennais selbst schrieb 1821 eine Dutenss. Als be¬
geisterter Streiter der Loolesia militM« wurde er Mitarbeiter am Lor8si'vat>cur,
trug nach Kräften zum Sturze des Ministerpräsidenten Decazes bei und be¬
kämpfte den ihm folgenden Villele in den Journalen 1,6 vraxeg-n vlluiv und
Ils Neinorial o-itllolicinv. Ohne eigentlicher Royalist zu sein und in beständiger
Anfeindung aller Ministerien der Restauration, arbeitete er für die Konser¬
vativen; ihm ging Rom über alle Könige. Der Katholizismus erschien ihm
die höchste Bildung der göttlich-menschlichen Vernunft; in der Autorität des
Papsttums glaubte er die ersehnte Garantie für die ewige Wahrheit zu finde»,
welche der individuelle Verstand anzweifle; alle obrigkeitliche Autorität schien
ihm vom Papste abgeleitet, und er wollte darum den Staat völlig der Kirche
unterordnen; fast heftiger uoch als den Protestantismus bekämpfte er den Galli-
kanismus, den Abscheu der Jesuiten. Er pries de Maistres merkwürdiges Buch
„Vom Papste," fand bei ihm neuen Stoff und war gewillt, ihn mit allen
Waffen des Geistes und der Sophistik zu unterstützen. Nicht minderes Auf¬
sehen als der erste erregten die drei letzten Bände des IZssÄi, die bis 1823
erschienen und wiederholt aufgelegt wurden. Lamennais sah in der Unfehl¬
barkeit des Papstes die gegebene Basis seiner Erkenntnistheorie, im Papste lag


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/314>, abgerufen am 24.07.2024.