Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Straßburger verfassmigsleben.

Die Überzeugung, daß die bestehenden Schwierigkeiten nicht unüberwindlich
seien, gewann man ans der Verhandlung des Laudesausschusses vom 4. März
d, I,, in welcher ein junger Straßburger Abgeordneter beredt für die Freigabe
der Stadtverwaltung eintrat. Bei diesem Anlaß machte sich eine eigentümliche
Erscheinung bemerkbar. Je weniger dem betreffenden Abgeordneten politische
"Deutschfreundlichkeit" nachgesagt werden kann, umsomehr überraschte es, von
dieser Seite bestätigt zu hören, wie kräftig noch die Erinnerung an die alte
Zeit in der alteingesessenen Straßburger Bevölkerung lebt. In einer Volks¬
vertretung, deren geringerer Bruchteil sich heute noch gegen den parlamentarischen
Gebrauch des deutschen Wortes sträubt, wurde an jene Zeit gemahnt, in welcher
das deutsche Wort hier ausschließlich und machtvoll gebot, wurde die Verfassung,
welche Straßburg im alten deutschen Reiche gehabt hat, gegenüber der verfassungs¬
losen Gegenwart als erstrebenswertes Ideal hingestellt; man hörte von alt-
elsässischen Lippen die Namen der alten Behörden, der Dreizehner, Fünfzehner,
Einuudzwanziger, der Ammeister und Stadtmeister nennen. Kurz, alle die
Erinnerungen an die wunderbare Verfassung der freien Reichsstadt, an die alte
Straßburger Zunstherrlichkeit, die merkwürdige Handwerker-Republik wurden
wieder wachgerufen. Sehr gelegen! Um die Mißstimmung der Straßburger
in der wichtigen Gemeindefragc ganz zu verstehen, muß man den Blick rückwärts
lenken auf die stolze Zeit der Straßburger Selbstverwaltung, der Selbstherrlich¬
keit, welche einst die Bewunderung der ganzen abendländischen Christenheit auf
sich zog. Der schneidende Gegensatz zwischen heute und damals, zwischen der
einstigen Selbstherrlichkeit und der jetzigen Bevormundung schärft den Blick für
die Erkenntnis der Notwendigkeit einer baldigen Änderung, und es ist daher
wohl angebracht, sich das alte Straßburger Verfassmigsleben wieder einmal
näher anzusehen.

Die Verfassung, unter deren Segnungen Straßburg vier Jahrhunderte
lang lebte, wurzelt tief in den Anfängen deutscher Geschichte auf hiesigem Boden,
aus denen heraus sie sich organisch entwickelt hat. Sie ist nicht das Werk
einer kurzen, zielbewußter Arbeit, sondern steht da als das Erzeugnis jahr¬
hundertelangen Ringens und Schaffens. Als die alte römische Stadt Argen-
tvrcitum im fünften Jahrhundert von den Alemannen zerstört war, hat die
Stätte wohl lange wüst gelegen, denn die germanischen Eroberer siedelten sich
nicht auf, fondern dicht neben ihr, längs der von der xortii oooiäentaliL nach
Westen führenden Straße, der heutigen "Langenstraße," an. Das war die
Stadt, die Burg an der Straße, die Strazzeburg, welche sich neben der rö¬
mischen Trümmerstadt erhob und welche Ende des achten Jahrhunderts bereits
xoxrckosg. genannt wird, worunter Gustav Schmoller allerdings höchstens eine
Einwohnerzahl von 1500 verstanden wissen will. Daneben wurde später aber
auch die alte Römerstadt wieder belebt, als sich der Bischof dort niedergelassen
hatte, als an Stelle des römischen Heiligtums der erste Münsterbau und an


Straßburger verfassmigsleben.

Die Überzeugung, daß die bestehenden Schwierigkeiten nicht unüberwindlich
seien, gewann man ans der Verhandlung des Laudesausschusses vom 4. März
d, I,, in welcher ein junger Straßburger Abgeordneter beredt für die Freigabe
der Stadtverwaltung eintrat. Bei diesem Anlaß machte sich eine eigentümliche
Erscheinung bemerkbar. Je weniger dem betreffenden Abgeordneten politische
„Deutschfreundlichkeit" nachgesagt werden kann, umsomehr überraschte es, von
dieser Seite bestätigt zu hören, wie kräftig noch die Erinnerung an die alte
Zeit in der alteingesessenen Straßburger Bevölkerung lebt. In einer Volks¬
vertretung, deren geringerer Bruchteil sich heute noch gegen den parlamentarischen
Gebrauch des deutschen Wortes sträubt, wurde an jene Zeit gemahnt, in welcher
das deutsche Wort hier ausschließlich und machtvoll gebot, wurde die Verfassung,
welche Straßburg im alten deutschen Reiche gehabt hat, gegenüber der verfassungs¬
losen Gegenwart als erstrebenswertes Ideal hingestellt; man hörte von alt-
elsässischen Lippen die Namen der alten Behörden, der Dreizehner, Fünfzehner,
Einuudzwanziger, der Ammeister und Stadtmeister nennen. Kurz, alle die
Erinnerungen an die wunderbare Verfassung der freien Reichsstadt, an die alte
Straßburger Zunstherrlichkeit, die merkwürdige Handwerker-Republik wurden
wieder wachgerufen. Sehr gelegen! Um die Mißstimmung der Straßburger
in der wichtigen Gemeindefragc ganz zu verstehen, muß man den Blick rückwärts
lenken auf die stolze Zeit der Straßburger Selbstverwaltung, der Selbstherrlich¬
keit, welche einst die Bewunderung der ganzen abendländischen Christenheit auf
sich zog. Der schneidende Gegensatz zwischen heute und damals, zwischen der
einstigen Selbstherrlichkeit und der jetzigen Bevormundung schärft den Blick für
die Erkenntnis der Notwendigkeit einer baldigen Änderung, und es ist daher
wohl angebracht, sich das alte Straßburger Verfassmigsleben wieder einmal
näher anzusehen.

Die Verfassung, unter deren Segnungen Straßburg vier Jahrhunderte
lang lebte, wurzelt tief in den Anfängen deutscher Geschichte auf hiesigem Boden,
aus denen heraus sie sich organisch entwickelt hat. Sie ist nicht das Werk
einer kurzen, zielbewußter Arbeit, sondern steht da als das Erzeugnis jahr¬
hundertelangen Ringens und Schaffens. Als die alte römische Stadt Argen-
tvrcitum im fünften Jahrhundert von den Alemannen zerstört war, hat die
Stätte wohl lange wüst gelegen, denn die germanischen Eroberer siedelten sich
nicht auf, fondern dicht neben ihr, längs der von der xortii oooiäentaliL nach
Westen führenden Straße, der heutigen „Langenstraße," an. Das war die
Stadt, die Burg an der Straße, die Strazzeburg, welche sich neben der rö¬
mischen Trümmerstadt erhob und welche Ende des achten Jahrhunderts bereits
xoxrckosg. genannt wird, worunter Gustav Schmoller allerdings höchstens eine
Einwohnerzahl von 1500 verstanden wissen will. Daneben wurde später aber
auch die alte Römerstadt wieder belebt, als sich der Bischof dort niedergelassen
hatte, als an Stelle des römischen Heiligtums der erste Münsterbau und an


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0304" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/198370"/>
          <fw type="header" place="top"> Straßburger verfassmigsleben.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_868"> Die Überzeugung, daß die bestehenden Schwierigkeiten nicht unüberwindlich<lb/>
seien, gewann man ans der Verhandlung des Laudesausschusses vom 4. März<lb/>
d, I,, in welcher ein junger Straßburger Abgeordneter beredt für die Freigabe<lb/>
der Stadtverwaltung eintrat. Bei diesem Anlaß machte sich eine eigentümliche<lb/>
Erscheinung bemerkbar. Je weniger dem betreffenden Abgeordneten politische<lb/>
&#x201E;Deutschfreundlichkeit" nachgesagt werden kann, umsomehr überraschte es, von<lb/>
dieser Seite bestätigt zu hören, wie kräftig noch die Erinnerung an die alte<lb/>
Zeit in der alteingesessenen Straßburger Bevölkerung lebt. In einer Volks¬<lb/>
vertretung, deren geringerer Bruchteil sich heute noch gegen den parlamentarischen<lb/>
Gebrauch des deutschen Wortes sträubt, wurde an jene Zeit gemahnt, in welcher<lb/>
das deutsche Wort hier ausschließlich und machtvoll gebot, wurde die Verfassung,<lb/>
welche Straßburg im alten deutschen Reiche gehabt hat, gegenüber der verfassungs¬<lb/>
losen Gegenwart als erstrebenswertes Ideal hingestellt; man hörte von alt-<lb/>
elsässischen Lippen die Namen der alten Behörden, der Dreizehner, Fünfzehner,<lb/>
Einuudzwanziger, der Ammeister und Stadtmeister nennen. Kurz, alle die<lb/>
Erinnerungen an die wunderbare Verfassung der freien Reichsstadt, an die alte<lb/>
Straßburger Zunstherrlichkeit, die merkwürdige Handwerker-Republik wurden<lb/>
wieder wachgerufen. Sehr gelegen! Um die Mißstimmung der Straßburger<lb/>
in der wichtigen Gemeindefragc ganz zu verstehen, muß man den Blick rückwärts<lb/>
lenken auf die stolze Zeit der Straßburger Selbstverwaltung, der Selbstherrlich¬<lb/>
keit, welche einst die Bewunderung der ganzen abendländischen Christenheit auf<lb/>
sich zog. Der schneidende Gegensatz zwischen heute und damals, zwischen der<lb/>
einstigen Selbstherrlichkeit und der jetzigen Bevormundung schärft den Blick für<lb/>
die Erkenntnis der Notwendigkeit einer baldigen Änderung, und es ist daher<lb/>
wohl angebracht, sich das alte Straßburger Verfassmigsleben wieder einmal<lb/>
näher anzusehen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_869" next="#ID_870"> Die Verfassung, unter deren Segnungen Straßburg vier Jahrhunderte<lb/>
lang lebte, wurzelt tief in den Anfängen deutscher Geschichte auf hiesigem Boden,<lb/>
aus denen heraus sie sich organisch entwickelt hat. Sie ist nicht das Werk<lb/>
einer kurzen, zielbewußter Arbeit, sondern steht da als das Erzeugnis jahr¬<lb/>
hundertelangen Ringens und Schaffens. Als die alte römische Stadt Argen-<lb/>
tvrcitum im fünften Jahrhundert von den Alemannen zerstört war, hat die<lb/>
Stätte wohl lange wüst gelegen, denn die germanischen Eroberer siedelten sich<lb/>
nicht auf, fondern dicht neben ihr, längs der von der xortii oooiäentaliL nach<lb/>
Westen führenden Straße, der heutigen &#x201E;Langenstraße," an. Das war die<lb/>
Stadt, die Burg an der Straße, die Strazzeburg, welche sich neben der rö¬<lb/>
mischen Trümmerstadt erhob und welche Ende des achten Jahrhunderts bereits<lb/>
xoxrckosg. genannt wird, worunter Gustav Schmoller allerdings höchstens eine<lb/>
Einwohnerzahl von 1500 verstanden wissen will. Daneben wurde später aber<lb/>
auch die alte Römerstadt wieder belebt, als sich der Bischof dort niedergelassen<lb/>
hatte, als an Stelle des römischen Heiligtums der erste Münsterbau und an</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0304] Straßburger verfassmigsleben. Die Überzeugung, daß die bestehenden Schwierigkeiten nicht unüberwindlich seien, gewann man ans der Verhandlung des Laudesausschusses vom 4. März d, I,, in welcher ein junger Straßburger Abgeordneter beredt für die Freigabe der Stadtverwaltung eintrat. Bei diesem Anlaß machte sich eine eigentümliche Erscheinung bemerkbar. Je weniger dem betreffenden Abgeordneten politische „Deutschfreundlichkeit" nachgesagt werden kann, umsomehr überraschte es, von dieser Seite bestätigt zu hören, wie kräftig noch die Erinnerung an die alte Zeit in der alteingesessenen Straßburger Bevölkerung lebt. In einer Volks¬ vertretung, deren geringerer Bruchteil sich heute noch gegen den parlamentarischen Gebrauch des deutschen Wortes sträubt, wurde an jene Zeit gemahnt, in welcher das deutsche Wort hier ausschließlich und machtvoll gebot, wurde die Verfassung, welche Straßburg im alten deutschen Reiche gehabt hat, gegenüber der verfassungs¬ losen Gegenwart als erstrebenswertes Ideal hingestellt; man hörte von alt- elsässischen Lippen die Namen der alten Behörden, der Dreizehner, Fünfzehner, Einuudzwanziger, der Ammeister und Stadtmeister nennen. Kurz, alle die Erinnerungen an die wunderbare Verfassung der freien Reichsstadt, an die alte Straßburger Zunstherrlichkeit, die merkwürdige Handwerker-Republik wurden wieder wachgerufen. Sehr gelegen! Um die Mißstimmung der Straßburger in der wichtigen Gemeindefragc ganz zu verstehen, muß man den Blick rückwärts lenken auf die stolze Zeit der Straßburger Selbstverwaltung, der Selbstherrlich¬ keit, welche einst die Bewunderung der ganzen abendländischen Christenheit auf sich zog. Der schneidende Gegensatz zwischen heute und damals, zwischen der einstigen Selbstherrlichkeit und der jetzigen Bevormundung schärft den Blick für die Erkenntnis der Notwendigkeit einer baldigen Änderung, und es ist daher wohl angebracht, sich das alte Straßburger Verfassmigsleben wieder einmal näher anzusehen. Die Verfassung, unter deren Segnungen Straßburg vier Jahrhunderte lang lebte, wurzelt tief in den Anfängen deutscher Geschichte auf hiesigem Boden, aus denen heraus sie sich organisch entwickelt hat. Sie ist nicht das Werk einer kurzen, zielbewußter Arbeit, sondern steht da als das Erzeugnis jahr¬ hundertelangen Ringens und Schaffens. Als die alte römische Stadt Argen- tvrcitum im fünften Jahrhundert von den Alemannen zerstört war, hat die Stätte wohl lange wüst gelegen, denn die germanischen Eroberer siedelten sich nicht auf, fondern dicht neben ihr, längs der von der xortii oooiäentaliL nach Westen führenden Straße, der heutigen „Langenstraße," an. Das war die Stadt, die Burg an der Straße, die Strazzeburg, welche sich neben der rö¬ mischen Trümmerstadt erhob und welche Ende des achten Jahrhunderts bereits xoxrckosg. genannt wird, worunter Gustav Schmoller allerdings höchstens eine Einwohnerzahl von 1500 verstanden wissen will. Daneben wurde später aber auch die alte Römerstadt wieder belebt, als sich der Bischof dort niedergelassen hatte, als an Stelle des römischen Heiligtums der erste Münsterbau und an

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/304
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/304>, abgerufen am 30.06.2024.