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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Das neue Manifest Gladstones,

anzurufen, an die sich ein Staatsmann von klarem Verstände und hohem Sinne
immer nur ungern wenden wird, wenn er um Beistand oder Auskunft verlegen
ist. Er hat, nicht gerade offen und unmittelbar, aber verständlich genug auch
für das Auge der Massen, an den Neid und die Eifersucht des niedern Volkes
gegen die höher" Klassen appellirt und von einem Konflikte der Stände ge¬
sprochen, indem er behauptet hat, das Vorgehen der Unionisten beruhe nicht
auf allgemeinen Rücksichten auf die nationale Wohlfahrt, sondern auf eng¬
herzigen Standesvornrteilen und persönlichen Bedürfnissen. "Reichtum, so ruft
er aus, gesellschaftlicher Einfluß, Stellung, Titel, gelehrter Beruf oder die große
Mehrheit derselben, mit einem Worte der Geist und die Macht der Klasse bilden
die Hauptstürke der gegnerischen Heeresmacht." Über die Beweiskraft dieser rein
willkürlichen Behauptung ist umsoweniger ein Wort zu verlieren, als Gladstone
jeden etwaigen Mangel seiner Klassifikation durch einen charakteristischen Zusatz
beseitigt. "Das große Heer der Klassen -- er hat natürlich immer die obern
Klassen, den Adel, die Reichen, die Gebildeten im Sinne -- hat, wie die alten
Ritter, einen Troß von Knappen als Dienstleute hinter sich, der aus den von
der Klasse abhängigen Leuten besteht." Mit dieser Darstellung, die dem Wähler
niederer Klasse einleuchten wird, während wir bisher immer meinten, je höher
jemand stehe, je wohlhabender er sei, desto weniger bedürfe er für sich, und desto
mehr könne er das Bedürfnis des Ganzen würdigen und handelnd wahrnehmen,
hat der Verfasser des Mcmifefts sich recht eigentlich als demagogischen Politiker
charakerisirt. Wer gegen sein irisches Projekt stimmt, thut es ans Selbstsucht.
Jeder Unionist, der sich reichen Besitzes, gesellschaftlichen Einflusses, eines hohen
Ranges, einer bedeutenden Stellung erfreut oder zu einer gelehrten Berufsart
gehört, wird so zu einem "Ritter des Klassenordens," und jeder Freund der
Neichseinhcit, dem diese Vorzüge nicht zuteil geworden sind, wird im Handum¬
drehen zu einem von seinen Knappen oder Troßknechten. Das läuft darauf
hinaus, daß jeder Reiche, jeder Hochgestellte, jeder Mann von sozialem Einfluß,
welcher sich der Zerschlagung des Staates widersetzt, dies lediglich seines
Reichtums oder der Erhaltung seiner Position und seines Einflusses wegen
thut, und daß Uneigennützigkeit und wahrer Verstand nur bei den Armen,
Niedrigen und Umgekehrten zu finden sind. Kann man demagogischer, kann man
weniger staatsmännisch reden? Aber freilich, der Politiker, welcher das Wahl¬
recht weitern Kreisen meente, welcher dem Oberhause ans Leben möchte, der
Mann, welcher England nach amerikanischem Muster demokratisircn will, setzt
uns damit nicht in Verwunderung.

Die Masse, zu welcher Gladstone sich wendet, wird ihm glauben. Im
Unterhause dagegen wird ihm diese Verdächtigung seiner Gegner vermutlich
nichts nutzen; wenigstens sollte man glauben, daß kein sich selbst achtender Ver¬
treter des britischen Volkes so schwachen Geistes sein werde, sich durch eine so
übel begründete Verdächtigung vor seiner Wählerschaft, sich durch diesen Vorwurf,


Das neue Manifest Gladstones,

anzurufen, an die sich ein Staatsmann von klarem Verstände und hohem Sinne
immer nur ungern wenden wird, wenn er um Beistand oder Auskunft verlegen
ist. Er hat, nicht gerade offen und unmittelbar, aber verständlich genug auch
für das Auge der Massen, an den Neid und die Eifersucht des niedern Volkes
gegen die höher» Klassen appellirt und von einem Konflikte der Stände ge¬
sprochen, indem er behauptet hat, das Vorgehen der Unionisten beruhe nicht
auf allgemeinen Rücksichten auf die nationale Wohlfahrt, sondern auf eng¬
herzigen Standesvornrteilen und persönlichen Bedürfnissen. „Reichtum, so ruft
er aus, gesellschaftlicher Einfluß, Stellung, Titel, gelehrter Beruf oder die große
Mehrheit derselben, mit einem Worte der Geist und die Macht der Klasse bilden
die Hauptstürke der gegnerischen Heeresmacht." Über die Beweiskraft dieser rein
willkürlichen Behauptung ist umsoweniger ein Wort zu verlieren, als Gladstone
jeden etwaigen Mangel seiner Klassifikation durch einen charakteristischen Zusatz
beseitigt. „Das große Heer der Klassen — er hat natürlich immer die obern
Klassen, den Adel, die Reichen, die Gebildeten im Sinne — hat, wie die alten
Ritter, einen Troß von Knappen als Dienstleute hinter sich, der aus den von
der Klasse abhängigen Leuten besteht." Mit dieser Darstellung, die dem Wähler
niederer Klasse einleuchten wird, während wir bisher immer meinten, je höher
jemand stehe, je wohlhabender er sei, desto weniger bedürfe er für sich, und desto
mehr könne er das Bedürfnis des Ganzen würdigen und handelnd wahrnehmen,
hat der Verfasser des Mcmifefts sich recht eigentlich als demagogischen Politiker
charakerisirt. Wer gegen sein irisches Projekt stimmt, thut es ans Selbstsucht.
Jeder Unionist, der sich reichen Besitzes, gesellschaftlichen Einflusses, eines hohen
Ranges, einer bedeutenden Stellung erfreut oder zu einer gelehrten Berufsart
gehört, wird so zu einem „Ritter des Klassenordens," und jeder Freund der
Neichseinhcit, dem diese Vorzüge nicht zuteil geworden sind, wird im Handum¬
drehen zu einem von seinen Knappen oder Troßknechten. Das läuft darauf
hinaus, daß jeder Reiche, jeder Hochgestellte, jeder Mann von sozialem Einfluß,
welcher sich der Zerschlagung des Staates widersetzt, dies lediglich seines
Reichtums oder der Erhaltung seiner Position und seines Einflusses wegen
thut, und daß Uneigennützigkeit und wahrer Verstand nur bei den Armen,
Niedrigen und Umgekehrten zu finden sind. Kann man demagogischer, kann man
weniger staatsmännisch reden? Aber freilich, der Politiker, welcher das Wahl¬
recht weitern Kreisen meente, welcher dem Oberhause ans Leben möchte, der
Mann, welcher England nach amerikanischem Muster demokratisircn will, setzt
uns damit nicht in Verwunderung.

Die Masse, zu welcher Gladstone sich wendet, wird ihm glauben. Im
Unterhause dagegen wird ihm diese Verdächtigung seiner Gegner vermutlich
nichts nutzen; wenigstens sollte man glauben, daß kein sich selbst achtender Ver¬
treter des britischen Volkes so schwachen Geistes sein werde, sich durch eine so
übel begründete Verdächtigung vor seiner Wählerschaft, sich durch diesen Vorwurf,


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[0301] Das neue Manifest Gladstones, anzurufen, an die sich ein Staatsmann von klarem Verstände und hohem Sinne immer nur ungern wenden wird, wenn er um Beistand oder Auskunft verlegen ist. Er hat, nicht gerade offen und unmittelbar, aber verständlich genug auch für das Auge der Massen, an den Neid und die Eifersucht des niedern Volkes gegen die höher» Klassen appellirt und von einem Konflikte der Stände ge¬ sprochen, indem er behauptet hat, das Vorgehen der Unionisten beruhe nicht auf allgemeinen Rücksichten auf die nationale Wohlfahrt, sondern auf eng¬ herzigen Standesvornrteilen und persönlichen Bedürfnissen. „Reichtum, so ruft er aus, gesellschaftlicher Einfluß, Stellung, Titel, gelehrter Beruf oder die große Mehrheit derselben, mit einem Worte der Geist und die Macht der Klasse bilden die Hauptstürke der gegnerischen Heeresmacht." Über die Beweiskraft dieser rein willkürlichen Behauptung ist umsoweniger ein Wort zu verlieren, als Gladstone jeden etwaigen Mangel seiner Klassifikation durch einen charakteristischen Zusatz beseitigt. „Das große Heer der Klassen — er hat natürlich immer die obern Klassen, den Adel, die Reichen, die Gebildeten im Sinne — hat, wie die alten Ritter, einen Troß von Knappen als Dienstleute hinter sich, der aus den von der Klasse abhängigen Leuten besteht." Mit dieser Darstellung, die dem Wähler niederer Klasse einleuchten wird, während wir bisher immer meinten, je höher jemand stehe, je wohlhabender er sei, desto weniger bedürfe er für sich, und desto mehr könne er das Bedürfnis des Ganzen würdigen und handelnd wahrnehmen, hat der Verfasser des Mcmifefts sich recht eigentlich als demagogischen Politiker charakerisirt. Wer gegen sein irisches Projekt stimmt, thut es ans Selbstsucht. Jeder Unionist, der sich reichen Besitzes, gesellschaftlichen Einflusses, eines hohen Ranges, einer bedeutenden Stellung erfreut oder zu einer gelehrten Berufsart gehört, wird so zu einem „Ritter des Klassenordens," und jeder Freund der Neichseinhcit, dem diese Vorzüge nicht zuteil geworden sind, wird im Handum¬ drehen zu einem von seinen Knappen oder Troßknechten. Das läuft darauf hinaus, daß jeder Reiche, jeder Hochgestellte, jeder Mann von sozialem Einfluß, welcher sich der Zerschlagung des Staates widersetzt, dies lediglich seines Reichtums oder der Erhaltung seiner Position und seines Einflusses wegen thut, und daß Uneigennützigkeit und wahrer Verstand nur bei den Armen, Niedrigen und Umgekehrten zu finden sind. Kann man demagogischer, kann man weniger staatsmännisch reden? Aber freilich, der Politiker, welcher das Wahl¬ recht weitern Kreisen meente, welcher dem Oberhause ans Leben möchte, der Mann, welcher England nach amerikanischem Muster demokratisircn will, setzt uns damit nicht in Verwunderung. Die Masse, zu welcher Gladstone sich wendet, wird ihm glauben. Im Unterhause dagegen wird ihm diese Verdächtigung seiner Gegner vermutlich nichts nutzen; wenigstens sollte man glauben, daß kein sich selbst achtender Ver¬ treter des britischen Volkes so schwachen Geistes sein werde, sich durch eine so übel begründete Verdächtigung vor seiner Wählerschaft, sich durch diesen Vorwurf,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/301>, abgerufen am 02.07.2024.