Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite


Das neue Manifest Gladstones.

äh
rcnd die parlamentarische Entscheidung über die Vi8ruxt!on LM,
den Gladstoneschen Gesetzvvrschlag wegen der Trennung Irlands
von Großbritannien, vertagt worden ist, hat der Urheber des
Planes an die Wähler von Midlothian eine neue Ansprache ge¬
richtet, in welcher er denselben verteidigt und empfiehlt, und welche
nun seit acht Tagen in England das Tagesgespräch und das Zeitungsthemn
ist. ont/ Roos nennt dieses Manifest einen "feurig ermutigenden Aufruf,
gegen Irland Gerechtigkeit zu üben." Der konservative LtanäMä will in ihm
einen "Aufschrei zorniger Verzweiflung" hören. Die 1'uns8 erblicken darin
"das thatsächliche Eingeständnis, das Home Rule trotz alles Starrsinns und
trotz der Buiidcsgeuvsseuschaft Paruells nicht durchsetzen zu können" und "eine
Probe demagogischer Gemütsstimmung gefährlichster Art, wie sie in der ganzen
englischen Geschichte uicht zu finden sei." Das letztere ist polemische Über¬
treibung eines an sich richtigen Urteils, aber ob der demagogische Ton der An¬
sprache nicht wohlberechnet ist und bei einem großen Teile der Engländer Erfolg
haben wird, ist eine Frage, die wir nicht verneinen möchten. Die öffentliche
Meinung in England hat sich durch Gladstones Wirksamkeit verändert wie die
öffentliche Meinung in Deutschland, soweit sie nicht durch die Fortschrittspartei
ausgedrückt wird, seit Bismarcks Auftreten, nur in umgekehrter Richtung. In
den Jahren von 1847 bis 1866 hätte eine ähnliche Ansprache unter den
Deutschen großen Beifall gefunden, jetzt würde sie. wenigstens bei der Mehrzahl
derselben, ihre Wirkung verfehlen, ja mit Achselzucken aufgenommen werden;
denn wie viel uns auch am strengen und festen Realpolitiker noch mangeln
mag, so sind wir doch weniger gefühlsselig, weniger empfänglich für die Frei¬
heitsphrase, weniger kosmopolitisch, praktischer und verstündiger geworden. Ge-


Grmzbvten II. 87


Das neue Manifest Gladstones.

äh
rcnd die parlamentarische Entscheidung über die Vi8ruxt!on LM,
den Gladstoneschen Gesetzvvrschlag wegen der Trennung Irlands
von Großbritannien, vertagt worden ist, hat der Urheber des
Planes an die Wähler von Midlothian eine neue Ansprache ge¬
richtet, in welcher er denselben verteidigt und empfiehlt, und welche
nun seit acht Tagen in England das Tagesgespräch und das Zeitungsthemn
ist. ont/ Roos nennt dieses Manifest einen „feurig ermutigenden Aufruf,
gegen Irland Gerechtigkeit zu üben." Der konservative LtanäMä will in ihm
einen „Aufschrei zorniger Verzweiflung" hören. Die 1'uns8 erblicken darin
„das thatsächliche Eingeständnis, das Home Rule trotz alles Starrsinns und
trotz der Buiidcsgeuvsseuschaft Paruells nicht durchsetzen zu können" und „eine
Probe demagogischer Gemütsstimmung gefährlichster Art, wie sie in der ganzen
englischen Geschichte uicht zu finden sei." Das letztere ist polemische Über¬
treibung eines an sich richtigen Urteils, aber ob der demagogische Ton der An¬
sprache nicht wohlberechnet ist und bei einem großen Teile der Engländer Erfolg
haben wird, ist eine Frage, die wir nicht verneinen möchten. Die öffentliche
Meinung in England hat sich durch Gladstones Wirksamkeit verändert wie die
öffentliche Meinung in Deutschland, soweit sie nicht durch die Fortschrittspartei
ausgedrückt wird, seit Bismarcks Auftreten, nur in umgekehrter Richtung. In
den Jahren von 1847 bis 1866 hätte eine ähnliche Ansprache unter den
Deutschen großen Beifall gefunden, jetzt würde sie. wenigstens bei der Mehrzahl
derselben, ihre Wirkung verfehlen, ja mit Achselzucken aufgenommen werden;
denn wie viel uns auch am strengen und festen Realpolitiker noch mangeln
mag, so sind wir doch weniger gefühlsselig, weniger empfänglich für die Frei¬
heitsphrase, weniger kosmopolitisch, praktischer und verstündiger geworden. Ge-


Grmzbvten II. 87
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0297" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/198363"/>
          <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341843_198065/figures/grenzboten_341843_198065_198363_000.jpg"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Das neue Manifest Gladstones.</head><lb/>
          <p xml:id="ID_854" next="#ID_855"> äh<lb/>
rcnd die parlamentarische Entscheidung über die Vi8ruxt!on LM,<lb/>
den Gladstoneschen Gesetzvvrschlag wegen der Trennung Irlands<lb/>
von Großbritannien, vertagt worden ist, hat der Urheber des<lb/>
Planes an die Wähler von Midlothian eine neue Ansprache ge¬<lb/>
richtet, in welcher er denselben verteidigt und empfiehlt, und welche<lb/>
nun seit acht Tagen in England das Tagesgespräch und das Zeitungsthemn<lb/>
ist. ont/ Roos nennt dieses Manifest einen &#x201E;feurig ermutigenden Aufruf,<lb/>
gegen Irland Gerechtigkeit zu üben." Der konservative LtanäMä will in ihm<lb/>
einen &#x201E;Aufschrei zorniger Verzweiflung" hören. Die 1'uns8 erblicken darin<lb/>
&#x201E;das thatsächliche Eingeständnis, das Home Rule trotz alles Starrsinns und<lb/>
trotz der Buiidcsgeuvsseuschaft Paruells nicht durchsetzen zu können" und &#x201E;eine<lb/>
Probe demagogischer Gemütsstimmung gefährlichster Art, wie sie in der ganzen<lb/>
englischen Geschichte uicht zu finden sei." Das letztere ist polemische Über¬<lb/>
treibung eines an sich richtigen Urteils, aber ob der demagogische Ton der An¬<lb/>
sprache nicht wohlberechnet ist und bei einem großen Teile der Engländer Erfolg<lb/>
haben wird, ist eine Frage, die wir nicht verneinen möchten. Die öffentliche<lb/>
Meinung in England hat sich durch Gladstones Wirksamkeit verändert wie die<lb/>
öffentliche Meinung in Deutschland, soweit sie nicht durch die Fortschrittspartei<lb/>
ausgedrückt wird, seit Bismarcks Auftreten, nur in umgekehrter Richtung. In<lb/>
den Jahren von 1847 bis 1866 hätte eine ähnliche Ansprache unter den<lb/>
Deutschen großen Beifall gefunden, jetzt würde sie. wenigstens bei der Mehrzahl<lb/>
derselben, ihre Wirkung verfehlen, ja mit Achselzucken aufgenommen werden;<lb/>
denn wie viel uns auch am strengen und festen Realpolitiker noch mangeln<lb/>
mag, so sind wir doch weniger gefühlsselig, weniger empfänglich für die Frei¬<lb/>
heitsphrase, weniger kosmopolitisch, praktischer und verstündiger geworden. Ge-</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grmzbvten II. 87</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0297] [Abbildung] Das neue Manifest Gladstones. äh rcnd die parlamentarische Entscheidung über die Vi8ruxt!on LM, den Gladstoneschen Gesetzvvrschlag wegen der Trennung Irlands von Großbritannien, vertagt worden ist, hat der Urheber des Planes an die Wähler von Midlothian eine neue Ansprache ge¬ richtet, in welcher er denselben verteidigt und empfiehlt, und welche nun seit acht Tagen in England das Tagesgespräch und das Zeitungsthemn ist. ont/ Roos nennt dieses Manifest einen „feurig ermutigenden Aufruf, gegen Irland Gerechtigkeit zu üben." Der konservative LtanäMä will in ihm einen „Aufschrei zorniger Verzweiflung" hören. Die 1'uns8 erblicken darin „das thatsächliche Eingeständnis, das Home Rule trotz alles Starrsinns und trotz der Buiidcsgeuvsseuschaft Paruells nicht durchsetzen zu können" und „eine Probe demagogischer Gemütsstimmung gefährlichster Art, wie sie in der ganzen englischen Geschichte uicht zu finden sei." Das letztere ist polemische Über¬ treibung eines an sich richtigen Urteils, aber ob der demagogische Ton der An¬ sprache nicht wohlberechnet ist und bei einem großen Teile der Engländer Erfolg haben wird, ist eine Frage, die wir nicht verneinen möchten. Die öffentliche Meinung in England hat sich durch Gladstones Wirksamkeit verändert wie die öffentliche Meinung in Deutschland, soweit sie nicht durch die Fortschrittspartei ausgedrückt wird, seit Bismarcks Auftreten, nur in umgekehrter Richtung. In den Jahren von 1847 bis 1866 hätte eine ähnliche Ansprache unter den Deutschen großen Beifall gefunden, jetzt würde sie. wenigstens bei der Mehrzahl derselben, ihre Wirkung verfehlen, ja mit Achselzucken aufgenommen werden; denn wie viel uns auch am strengen und festen Realpolitiker noch mangeln mag, so sind wir doch weniger gefühlsselig, weniger empfänglich für die Frei¬ heitsphrase, weniger kosmopolitisch, praktischer und verstündiger geworden. Ge- Grmzbvten II. 87

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/297
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/297>, abgerufen am 24.07.2024.