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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Die dramatische Kunst G. von wildenbruchs.

zugeben mag, umsomehr muß man sich darüber wundern, wie wenig der Dichter
sich Mühe gegeben hat, den Gang der Handlung aus dieser selbst hervorwachsen
zu lassein Zweimal wird ihre Fortführung nur durch den Zufall möglich.
Zuerst belauscht Mathias die Unterredungen Reinholds mit Henneker und Maria,
und dann wieder dieser den Anschlag der Menoniten gegen Henneker, Was soll
man zu einem solchen Mangel an Begründung sagen? So leicht darf sich der
dramatische Dichter über aufsteigende Schwierigkeiten nicht hinwegsetzen. Aber
es kommt noch schlimmer, Henneker hat alle Ursache, seine Aufreizung zum
Freiheitskämpfe mit der äußersten Vorsicht zu betreiben. Besonders gegen die
Menoniten. deren Wesen er kennen muß, denn sonst Ware er kein richtiger
Emissär, bedarf es der größten Behutsamkeit, aber davon scheint er keine
Ahnung zu haben; er führt sich ein, als ob List und Verschlagenheit fiir ihn
die am ersten zu entbehrenden Eigenschaften seien. Woher weiß er denn, daß
er in dem Garten, in den er sich nächtlicher Weile einschleicht, Reinhold finden
wird und daß dieser gerade in der Stimmung ist, seinen Plänen Gehör zu
geben? Von einer Begründung, daß er eben zu dieser Zeit und an eben diesem
Orte erscheinen muß, findet sich keine Spur, und so ist hier dieselbe Willkür
wie an einer andern Stelle, von der noch die Rede sein muß. In dem furcht¬
baren Hereinbrechen der Katastrophe, welche alle schönen Hoffnungen Waldemars
zertrümmert, stirbt auch seine Tochter, Mnu kann mit dem Dichter darüber
einverstanden sein, daß mit dem Zusammensturz alles übrigen auch Maria nicht
mehr leben kann. Aber wie plausibel auch die Notwendigkeit ihres Todes er¬
scheinen mag, so ist doch damit der Dichter nicht schon der Verpflichtung über¬
hoben, uns auch die Ursache desselben zu zeigen. Maria stirbt plötzlich in den
Armen ihres Vaters, aber wodurch dieser Tod herbeigeführt wird, unterläßt
der Dichter zu sagen. Das ist eine Fahrlässigkeit, die gerügt werden muß,
und das umsomehr, als sie eben nicht allein dasteht, sondern mit den oben an¬
geführten Beispielen eine ganze Reihe bildet und auch in diesem Stücke jene
Wildenbruchsche Art kennzeichnet, die wir schon häufig haben tadeln müssen,
jene Art, welche in dem Bestreben, einem erregungsbedürftigen Publikum die
verlangten Effekte zu bieten, eine der höchsten dichterischen Verpflichtungen über¬
sieht. Gegen diese Art oder, um den richtigen Namen zu gebrauchen, gegen
diese Mache, denn ?r"/i?<7es ist das nicht, sollen denn auch die letzten Bemer¬
kungen, die ich zu den Wildenbruchschen Schauspielen zu machen gedenke, ge¬
richtet sein.

In der Besprechung des "Menoniten" hat es an Lob nicht gefehlt, aber
es ist doch nur ein beziehungsweise gespendetes, kein unbedingt geltendes ge¬
wesen. Ist es nach den aufgestellten Gesichtspunkten von allen andern Dramen
Wildcnbruchs das beste, so bleibt doch die andre Frage, wie es den Vergleich
mit den bessern, um nicht zu sagen den besten Stücken unsrer klassischen Literatur
auszuhalten vermag. Ich glaube, daß selbst eine oberflächliche Kritik da noch


Die dramatische Kunst G. von wildenbruchs.

zugeben mag, umsomehr muß man sich darüber wundern, wie wenig der Dichter
sich Mühe gegeben hat, den Gang der Handlung aus dieser selbst hervorwachsen
zu lassein Zweimal wird ihre Fortführung nur durch den Zufall möglich.
Zuerst belauscht Mathias die Unterredungen Reinholds mit Henneker und Maria,
und dann wieder dieser den Anschlag der Menoniten gegen Henneker, Was soll
man zu einem solchen Mangel an Begründung sagen? So leicht darf sich der
dramatische Dichter über aufsteigende Schwierigkeiten nicht hinwegsetzen. Aber
es kommt noch schlimmer, Henneker hat alle Ursache, seine Aufreizung zum
Freiheitskämpfe mit der äußersten Vorsicht zu betreiben. Besonders gegen die
Menoniten. deren Wesen er kennen muß, denn sonst Ware er kein richtiger
Emissär, bedarf es der größten Behutsamkeit, aber davon scheint er keine
Ahnung zu haben; er führt sich ein, als ob List und Verschlagenheit fiir ihn
die am ersten zu entbehrenden Eigenschaften seien. Woher weiß er denn, daß
er in dem Garten, in den er sich nächtlicher Weile einschleicht, Reinhold finden
wird und daß dieser gerade in der Stimmung ist, seinen Plänen Gehör zu
geben? Von einer Begründung, daß er eben zu dieser Zeit und an eben diesem
Orte erscheinen muß, findet sich keine Spur, und so ist hier dieselbe Willkür
wie an einer andern Stelle, von der noch die Rede sein muß. In dem furcht¬
baren Hereinbrechen der Katastrophe, welche alle schönen Hoffnungen Waldemars
zertrümmert, stirbt auch seine Tochter, Mnu kann mit dem Dichter darüber
einverstanden sein, daß mit dem Zusammensturz alles übrigen auch Maria nicht
mehr leben kann. Aber wie plausibel auch die Notwendigkeit ihres Todes er¬
scheinen mag, so ist doch damit der Dichter nicht schon der Verpflichtung über¬
hoben, uns auch die Ursache desselben zu zeigen. Maria stirbt plötzlich in den
Armen ihres Vaters, aber wodurch dieser Tod herbeigeführt wird, unterläßt
der Dichter zu sagen. Das ist eine Fahrlässigkeit, die gerügt werden muß,
und das umsomehr, als sie eben nicht allein dasteht, sondern mit den oben an¬
geführten Beispielen eine ganze Reihe bildet und auch in diesem Stücke jene
Wildenbruchsche Art kennzeichnet, die wir schon häufig haben tadeln müssen,
jene Art, welche in dem Bestreben, einem erregungsbedürftigen Publikum die
verlangten Effekte zu bieten, eine der höchsten dichterischen Verpflichtungen über¬
sieht. Gegen diese Art oder, um den richtigen Namen zu gebrauchen, gegen
diese Mache, denn ?r»/i?<7es ist das nicht, sollen denn auch die letzten Bemer¬
kungen, die ich zu den Wildenbruchschen Schauspielen zu machen gedenke, ge¬
richtet sein.

In der Besprechung des „Menoniten" hat es an Lob nicht gefehlt, aber
es ist doch nur ein beziehungsweise gespendetes, kein unbedingt geltendes ge¬
wesen. Ist es nach den aufgestellten Gesichtspunkten von allen andern Dramen
Wildcnbruchs das beste, so bleibt doch die andre Frage, wie es den Vergleich
mit den bessern, um nicht zu sagen den besten Stücken unsrer klassischen Literatur
auszuhalten vermag. Ich glaube, daß selbst eine oberflächliche Kritik da noch


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[0029] Die dramatische Kunst G. von wildenbruchs. zugeben mag, umsomehr muß man sich darüber wundern, wie wenig der Dichter sich Mühe gegeben hat, den Gang der Handlung aus dieser selbst hervorwachsen zu lassein Zweimal wird ihre Fortführung nur durch den Zufall möglich. Zuerst belauscht Mathias die Unterredungen Reinholds mit Henneker und Maria, und dann wieder dieser den Anschlag der Menoniten gegen Henneker, Was soll man zu einem solchen Mangel an Begründung sagen? So leicht darf sich der dramatische Dichter über aufsteigende Schwierigkeiten nicht hinwegsetzen. Aber es kommt noch schlimmer, Henneker hat alle Ursache, seine Aufreizung zum Freiheitskämpfe mit der äußersten Vorsicht zu betreiben. Besonders gegen die Menoniten. deren Wesen er kennen muß, denn sonst Ware er kein richtiger Emissär, bedarf es der größten Behutsamkeit, aber davon scheint er keine Ahnung zu haben; er führt sich ein, als ob List und Verschlagenheit fiir ihn die am ersten zu entbehrenden Eigenschaften seien. Woher weiß er denn, daß er in dem Garten, in den er sich nächtlicher Weile einschleicht, Reinhold finden wird und daß dieser gerade in der Stimmung ist, seinen Plänen Gehör zu geben? Von einer Begründung, daß er eben zu dieser Zeit und an eben diesem Orte erscheinen muß, findet sich keine Spur, und so ist hier dieselbe Willkür wie an einer andern Stelle, von der noch die Rede sein muß. In dem furcht¬ baren Hereinbrechen der Katastrophe, welche alle schönen Hoffnungen Waldemars zertrümmert, stirbt auch seine Tochter, Mnu kann mit dem Dichter darüber einverstanden sein, daß mit dem Zusammensturz alles übrigen auch Maria nicht mehr leben kann. Aber wie plausibel auch die Notwendigkeit ihres Todes er¬ scheinen mag, so ist doch damit der Dichter nicht schon der Verpflichtung über¬ hoben, uns auch die Ursache desselben zu zeigen. Maria stirbt plötzlich in den Armen ihres Vaters, aber wodurch dieser Tod herbeigeführt wird, unterläßt der Dichter zu sagen. Das ist eine Fahrlässigkeit, die gerügt werden muß, und das umsomehr, als sie eben nicht allein dasteht, sondern mit den oben an¬ geführten Beispielen eine ganze Reihe bildet und auch in diesem Stücke jene Wildenbruchsche Art kennzeichnet, die wir schon häufig haben tadeln müssen, jene Art, welche in dem Bestreben, einem erregungsbedürftigen Publikum die verlangten Effekte zu bieten, eine der höchsten dichterischen Verpflichtungen über¬ sieht. Gegen diese Art oder, um den richtigen Namen zu gebrauchen, gegen diese Mache, denn ?r»/i?<7es ist das nicht, sollen denn auch die letzten Bemer¬ kungen, die ich zu den Wildenbruchschen Schauspielen zu machen gedenke, ge¬ richtet sein. In der Besprechung des „Menoniten" hat es an Lob nicht gefehlt, aber es ist doch nur ein beziehungsweise gespendetes, kein unbedingt geltendes ge¬ wesen. Ist es nach den aufgestellten Gesichtspunkten von allen andern Dramen Wildcnbruchs das beste, so bleibt doch die andre Frage, wie es den Vergleich mit den bessern, um nicht zu sagen den besten Stücken unsrer klassischen Literatur auszuhalten vermag. Ich glaube, daß selbst eine oberflächliche Kritik da noch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/29>, abgerufen am 30.06.2024.