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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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In elfter, vielleicht zwölfter Stunde.

die Lebensweise der Einzelnen sein werden, daS ist freilich eine andre Frage,
der die sozialdemokratischen Redner und Schriftsteller bisher nach Kräften aus¬
gewichen sind. Bekanntlich haben geistvolle Nationalökonomen (so der alte
Hildebrand schon 1848) die logische Unmöglichkeit des Bestandes einer sozialistischen
Gesellschaftsform nachzuweisen versucht, und sofern man diese Nachweise als
zwingend gelten lassei, will (womit es freilich unsers Ercichtens seinen Haken
hat), so würde die Schlußfolgerung gerechtfertigt sein, daß schon der Versuch
einer selbst noch so vorläufigen oder geteilten Durchführung notwendigerweise
scheitern müßte. Wir unserseits halten es für richtig, daß eine Fort- und
Höherbildung, eine Veredlung und zukunftsvolle Entwicklung des Menschen¬
geschlechts auf sozialdemokratischer Grundlage unmöglich sein würde; aber damit
ist noch nicht gesagt, daß die Durchführung derselbe" in irgendeiner Form ab¬
solut undenkbar sei. Demnach begnügen wir uns zu sagen, daß wir das Ge¬
lingen des Versuches, den Traum einer sozialistischen Staats- und Gesellschafts¬
ordnung zu verwirklichen, für höchst unwahrscheinlich und in diesem Sinne
auch schon ein nur vorübergehendes Gelingen für fast ausgeschlossen halten. Die
Sozialdemokraten selbst haben sich, wie gesagt, bisher den Kopf nicht sehr dar¬
über zerbrochen, wie sie im Falle des äußern Sieges ihre Lehren zu verwirk¬
lichen gedenken; sie geben zu verstehen, das werde sich nachher in der "Praxis"
schon geben. Aber man sei versichert, daß diese Unsicherheit auch nicht einen
Augenblick von dem Erteilen des Losbruchsignals, wenn die Zeit für dasselbe
gekommen zu sein scheint, zurückhalten wird.

Wieder eine andre Frage (und hier begegnen wir freilich dem schwachen
Punkte der Sozialdemokratie) ist die, inwieweit die leitenden Personen und die
grundsätzlichen, bewußten Mitgliedschaften ans die ganze Masse der sozialdemo-
kratischen Anhängerschaft rechnen können. Fassen wir die Stufen dieser An¬
hängerschaft und deren ungefähre Stärke einmal ins Ange. Zuerst die Führer:
Reichstagsmitglieder, Zeitungsredakteure und Schriftsteller. Es sind Zweifel
gestattet, ob unter denselben volle Einmütigkeit herrsche, und früher -- man
denke an Mühlberger und Rittiughausen -- mochten selbst darüber Zweifel ge¬
stattet sein, ob sich nicht gerade unter der Führerschaft eine gemäßigtere Richtung
herausbilden werde. Hieran ist heute wohl nicht mehr zu denken, höchstens
daran, daß sich im Verlaufe etwa ausgebrochener revolutionärer Stürme mit
Viereck, Frohne, Hasenelever, ja anch Bebel von irgendeinem Punkte ab
doch eher reden lassen werde als mit dem seineu Rachedurst von Jahrzehnt zu
Jahrzehnt schleppenden Liebknecht oder dem rasenden "Ritter von Vollmar."
Daß aber die ganze Masse dieser, Lassalle so verhaßten "Intelligenzen" grund-
sätzlich streng zusammenhalten und die gleiche Taktik auf die gleichen Ziele hin
verfolgen wird, unterliegt keinem Zweifel; anch wird mau annehmen dürfen,
daß diese Leute nicht vor der Aufgabe zurückschrecken würden, es mit der Neu¬
organisation von Staat und Gesellschaft praktisch zu versuchen, und es ist nicht


In elfter, vielleicht zwölfter Stunde.

die Lebensweise der Einzelnen sein werden, daS ist freilich eine andre Frage,
der die sozialdemokratischen Redner und Schriftsteller bisher nach Kräften aus¬
gewichen sind. Bekanntlich haben geistvolle Nationalökonomen (so der alte
Hildebrand schon 1848) die logische Unmöglichkeit des Bestandes einer sozialistischen
Gesellschaftsform nachzuweisen versucht, und sofern man diese Nachweise als
zwingend gelten lassei, will (womit es freilich unsers Ercichtens seinen Haken
hat), so würde die Schlußfolgerung gerechtfertigt sein, daß schon der Versuch
einer selbst noch so vorläufigen oder geteilten Durchführung notwendigerweise
scheitern müßte. Wir unserseits halten es für richtig, daß eine Fort- und
Höherbildung, eine Veredlung und zukunftsvolle Entwicklung des Menschen¬
geschlechts auf sozialdemokratischer Grundlage unmöglich sein würde; aber damit
ist noch nicht gesagt, daß die Durchführung derselbe» in irgendeiner Form ab¬
solut undenkbar sei. Demnach begnügen wir uns zu sagen, daß wir das Ge¬
lingen des Versuches, den Traum einer sozialistischen Staats- und Gesellschafts¬
ordnung zu verwirklichen, für höchst unwahrscheinlich und in diesem Sinne
auch schon ein nur vorübergehendes Gelingen für fast ausgeschlossen halten. Die
Sozialdemokraten selbst haben sich, wie gesagt, bisher den Kopf nicht sehr dar¬
über zerbrochen, wie sie im Falle des äußern Sieges ihre Lehren zu verwirk¬
lichen gedenken; sie geben zu verstehen, das werde sich nachher in der „Praxis"
schon geben. Aber man sei versichert, daß diese Unsicherheit auch nicht einen
Augenblick von dem Erteilen des Losbruchsignals, wenn die Zeit für dasselbe
gekommen zu sein scheint, zurückhalten wird.

Wieder eine andre Frage (und hier begegnen wir freilich dem schwachen
Punkte der Sozialdemokratie) ist die, inwieweit die leitenden Personen und die
grundsätzlichen, bewußten Mitgliedschaften ans die ganze Masse der sozialdemo-
kratischen Anhängerschaft rechnen können. Fassen wir die Stufen dieser An¬
hängerschaft und deren ungefähre Stärke einmal ins Ange. Zuerst die Führer:
Reichstagsmitglieder, Zeitungsredakteure und Schriftsteller. Es sind Zweifel
gestattet, ob unter denselben volle Einmütigkeit herrsche, und früher — man
denke an Mühlberger und Rittiughausen — mochten selbst darüber Zweifel ge¬
stattet sein, ob sich nicht gerade unter der Führerschaft eine gemäßigtere Richtung
herausbilden werde. Hieran ist heute wohl nicht mehr zu denken, höchstens
daran, daß sich im Verlaufe etwa ausgebrochener revolutionärer Stürme mit
Viereck, Frohne, Hasenelever, ja anch Bebel von irgendeinem Punkte ab
doch eher reden lassen werde als mit dem seineu Rachedurst von Jahrzehnt zu
Jahrzehnt schleppenden Liebknecht oder dem rasenden „Ritter von Vollmar."
Daß aber die ganze Masse dieser, Lassalle so verhaßten „Intelligenzen" grund-
sätzlich streng zusammenhalten und die gleiche Taktik auf die gleichen Ziele hin
verfolgen wird, unterliegt keinem Zweifel; anch wird mau annehmen dürfen,
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[0253] In elfter, vielleicht zwölfter Stunde. die Lebensweise der Einzelnen sein werden, daS ist freilich eine andre Frage, der die sozialdemokratischen Redner und Schriftsteller bisher nach Kräften aus¬ gewichen sind. Bekanntlich haben geistvolle Nationalökonomen (so der alte Hildebrand schon 1848) die logische Unmöglichkeit des Bestandes einer sozialistischen Gesellschaftsform nachzuweisen versucht, und sofern man diese Nachweise als zwingend gelten lassei, will (womit es freilich unsers Ercichtens seinen Haken hat), so würde die Schlußfolgerung gerechtfertigt sein, daß schon der Versuch einer selbst noch so vorläufigen oder geteilten Durchführung notwendigerweise scheitern müßte. Wir unserseits halten es für richtig, daß eine Fort- und Höherbildung, eine Veredlung und zukunftsvolle Entwicklung des Menschen¬ geschlechts auf sozialdemokratischer Grundlage unmöglich sein würde; aber damit ist noch nicht gesagt, daß die Durchführung derselbe» in irgendeiner Form ab¬ solut undenkbar sei. Demnach begnügen wir uns zu sagen, daß wir das Ge¬ lingen des Versuches, den Traum einer sozialistischen Staats- und Gesellschafts¬ ordnung zu verwirklichen, für höchst unwahrscheinlich und in diesem Sinne auch schon ein nur vorübergehendes Gelingen für fast ausgeschlossen halten. Die Sozialdemokraten selbst haben sich, wie gesagt, bisher den Kopf nicht sehr dar¬ über zerbrochen, wie sie im Falle des äußern Sieges ihre Lehren zu verwirk¬ lichen gedenken; sie geben zu verstehen, das werde sich nachher in der „Praxis" schon geben. Aber man sei versichert, daß diese Unsicherheit auch nicht einen Augenblick von dem Erteilen des Losbruchsignals, wenn die Zeit für dasselbe gekommen zu sein scheint, zurückhalten wird. Wieder eine andre Frage (und hier begegnen wir freilich dem schwachen Punkte der Sozialdemokratie) ist die, inwieweit die leitenden Personen und die grundsätzlichen, bewußten Mitgliedschaften ans die ganze Masse der sozialdemo- kratischen Anhängerschaft rechnen können. Fassen wir die Stufen dieser An¬ hängerschaft und deren ungefähre Stärke einmal ins Ange. Zuerst die Führer: Reichstagsmitglieder, Zeitungsredakteure und Schriftsteller. Es sind Zweifel gestattet, ob unter denselben volle Einmütigkeit herrsche, und früher — man denke an Mühlberger und Rittiughausen — mochten selbst darüber Zweifel ge¬ stattet sein, ob sich nicht gerade unter der Führerschaft eine gemäßigtere Richtung herausbilden werde. Hieran ist heute wohl nicht mehr zu denken, höchstens daran, daß sich im Verlaufe etwa ausgebrochener revolutionärer Stürme mit Viereck, Frohne, Hasenelever, ja anch Bebel von irgendeinem Punkte ab doch eher reden lassen werde als mit dem seineu Rachedurst von Jahrzehnt zu Jahrzehnt schleppenden Liebknecht oder dem rasenden „Ritter von Vollmar." Daß aber die ganze Masse dieser, Lassalle so verhaßten „Intelligenzen" grund- sätzlich streng zusammenhalten und die gleiche Taktik auf die gleichen Ziele hin verfolgen wird, unterliegt keinem Zweifel; anch wird mau annehmen dürfen, daß diese Leute nicht vor der Aufgabe zurückschrecken würden, es mit der Neu¬ organisation von Staat und Gesellschaft praktisch zu versuchen, und es ist nicht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/253>, abgerufen am 26.07.2024.