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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Der Kampf um die Schule in Belgien.

Dcizwischenkunft wenig. Zugleich schärft sich in der zweiten Kammer der bis
dahin ruhige Ton der Debatte zu offner Kriegserklärung. Malon, der Führer
der Rechten, entrollt plötzlich in seiner Rede die katholische Glaubensfahne,
erklärt sich gegen den Entwurf als Ganzes, weil er überhaupt keine "neutralen,"
die Kinder aller Eltern umfassenden Gemeindeschulen will, sondern nur die
konfessionelle Schule für jede Religiousgesellschaft, Und für jede beansprucht
er die Unterstützung aus Staatsmitteln. (Dieselbe auf Zerstörung der öffent¬
lichen Schulen gerichtete Forderung vertreten die katholischen Bischöfe in den
Vereinigten Staaten.) Zugleich kündigt er an, daß die echten Katholiken, d. h.
die nicht liberalen, dem Unterrichtsmouopvl des Staates die freien Schulen
entgegensetzen würden, gleichviel mit welchen Opfern, und daß der Sieg ihnen
zuletzt bleiben werde. Die freien Schulen, d. h. die nnter Leitung der Geistlichkeit
stehenden Klosterschulen, werden in noch größerer Zahl als bisher gegründet
(wie das auch in Paris und in Frankreich überhaupt geschehen ist), und alle
Mittel des Beichtstuhls, der Kanzel, der Versammlungen werden angewandt, um
die Eltern von der Beschickung der neuen Staatsschulen abzuhalten. Der Papst
ermahnt zwar, bei der Massenverdammung dieser Schulen, Ausnahmen zuzulassen,
aber ohne sichtbare Wirkung. Frere-Orban, der sich zuletzt vom Vatikan hinter¬
gangen glaubt, ruft den Baron Anethcm aus Rom zurück und bricht nach lungern
Depcscheuwechsel alle diplomatischen Veziehuugen mit Leo XIII. im Sommer des
Jahres 1880 ab. Der päpstliche Nuntius Nina verläßt bald darauf Brüssel.
Von 1880 bis 1884 dauert nun der Kampf zwischen den Gegnern der Staats¬
schulen und der sie verteidigenden Staatsregierung und deren Anhängern. Der
Riß dringt in jede Gemeinde, in jede Familie. Frauen verlassen ihre Männer,
Kinder werden von den Geistlichen zu offner Empörung und Ungehorsam gegen
ihre Väter verleitet. Der Bericht der von der Kammer 1881 eingesetzten
Untersuchungskommission beweist, wie groß der Einfluß der Geistlichkeit namentlich
in den vlämischen Provinzen ist, und bis zu welchem Grade er in Anwendung
gebracht wurde. Eine Zeit lang konnte man sich zwar noch der Hoffnung hin¬
geben, daß beide Unterrichtssysteme, das des Staates und das der Kirche, sich
noch länger Konkurrenz machen würden. Zuletzt jedoch schritt die bischöfliche
Partei zum Angriff auf die feindliche Zitadelle. Sie zog vor, sie mit einem
male zu erstürmen und zu zerstören, als sie durch langwierige Belagerung aus¬
zuhungern und zur Übergabe zu zwingen. Es ist möglich, daß die gedrückte
Geschäftslage die Fortsetzung der außerordentlichen Geldopfer zur Erhaltung
der Klosterschulen erschwerte. Thatsache ist, daß die Führer der Rechten im
Spätsommer des Jahres 1884 die bisherige Staatsuntcrricytsverwaltnng der
Verschwendung ziehen und Einschränkung und Sparsamkeit schon bei den Juni¬
wahlen desselben Jahres auf ihr Banner geschrieben hatten. Die Macht der
Geistlichkeit zeigte sich bei diesen Wahlen in überraschender Weise. Die siegreiche
katholische Partei zog mit einer größern Mehrheit in beide Kammern ein, als je


Der Kampf um die Schule in Belgien.

Dcizwischenkunft wenig. Zugleich schärft sich in der zweiten Kammer der bis
dahin ruhige Ton der Debatte zu offner Kriegserklärung. Malon, der Führer
der Rechten, entrollt plötzlich in seiner Rede die katholische Glaubensfahne,
erklärt sich gegen den Entwurf als Ganzes, weil er überhaupt keine „neutralen,"
die Kinder aller Eltern umfassenden Gemeindeschulen will, sondern nur die
konfessionelle Schule für jede Religiousgesellschaft, Und für jede beansprucht
er die Unterstützung aus Staatsmitteln. (Dieselbe auf Zerstörung der öffent¬
lichen Schulen gerichtete Forderung vertreten die katholischen Bischöfe in den
Vereinigten Staaten.) Zugleich kündigt er an, daß die echten Katholiken, d. h.
die nicht liberalen, dem Unterrichtsmouopvl des Staates die freien Schulen
entgegensetzen würden, gleichviel mit welchen Opfern, und daß der Sieg ihnen
zuletzt bleiben werde. Die freien Schulen, d. h. die nnter Leitung der Geistlichkeit
stehenden Klosterschulen, werden in noch größerer Zahl als bisher gegründet
(wie das auch in Paris und in Frankreich überhaupt geschehen ist), und alle
Mittel des Beichtstuhls, der Kanzel, der Versammlungen werden angewandt, um
die Eltern von der Beschickung der neuen Staatsschulen abzuhalten. Der Papst
ermahnt zwar, bei der Massenverdammung dieser Schulen, Ausnahmen zuzulassen,
aber ohne sichtbare Wirkung. Frere-Orban, der sich zuletzt vom Vatikan hinter¬
gangen glaubt, ruft den Baron Anethcm aus Rom zurück und bricht nach lungern
Depcscheuwechsel alle diplomatischen Veziehuugen mit Leo XIII. im Sommer des
Jahres 1880 ab. Der päpstliche Nuntius Nina verläßt bald darauf Brüssel.
Von 1880 bis 1884 dauert nun der Kampf zwischen den Gegnern der Staats¬
schulen und der sie verteidigenden Staatsregierung und deren Anhängern. Der
Riß dringt in jede Gemeinde, in jede Familie. Frauen verlassen ihre Männer,
Kinder werden von den Geistlichen zu offner Empörung und Ungehorsam gegen
ihre Väter verleitet. Der Bericht der von der Kammer 1881 eingesetzten
Untersuchungskommission beweist, wie groß der Einfluß der Geistlichkeit namentlich
in den vlämischen Provinzen ist, und bis zu welchem Grade er in Anwendung
gebracht wurde. Eine Zeit lang konnte man sich zwar noch der Hoffnung hin¬
geben, daß beide Unterrichtssysteme, das des Staates und das der Kirche, sich
noch länger Konkurrenz machen würden. Zuletzt jedoch schritt die bischöfliche
Partei zum Angriff auf die feindliche Zitadelle. Sie zog vor, sie mit einem
male zu erstürmen und zu zerstören, als sie durch langwierige Belagerung aus¬
zuhungern und zur Übergabe zu zwingen. Es ist möglich, daß die gedrückte
Geschäftslage die Fortsetzung der außerordentlichen Geldopfer zur Erhaltung
der Klosterschulen erschwerte. Thatsache ist, daß die Führer der Rechten im
Spätsommer des Jahres 1884 die bisherige Staatsuntcrricytsverwaltnng der
Verschwendung ziehen und Einschränkung und Sparsamkeit schon bei den Juni¬
wahlen desselben Jahres auf ihr Banner geschrieben hatten. Die Macht der
Geistlichkeit zeigte sich bei diesen Wahlen in überraschender Weise. Die siegreiche
katholische Partei zog mit einer größern Mehrheit in beide Kammern ein, als je


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[0210] Der Kampf um die Schule in Belgien. Dcizwischenkunft wenig. Zugleich schärft sich in der zweiten Kammer der bis dahin ruhige Ton der Debatte zu offner Kriegserklärung. Malon, der Führer der Rechten, entrollt plötzlich in seiner Rede die katholische Glaubensfahne, erklärt sich gegen den Entwurf als Ganzes, weil er überhaupt keine „neutralen," die Kinder aller Eltern umfassenden Gemeindeschulen will, sondern nur die konfessionelle Schule für jede Religiousgesellschaft, Und für jede beansprucht er die Unterstützung aus Staatsmitteln. (Dieselbe auf Zerstörung der öffent¬ lichen Schulen gerichtete Forderung vertreten die katholischen Bischöfe in den Vereinigten Staaten.) Zugleich kündigt er an, daß die echten Katholiken, d. h. die nicht liberalen, dem Unterrichtsmouopvl des Staates die freien Schulen entgegensetzen würden, gleichviel mit welchen Opfern, und daß der Sieg ihnen zuletzt bleiben werde. Die freien Schulen, d. h. die nnter Leitung der Geistlichkeit stehenden Klosterschulen, werden in noch größerer Zahl als bisher gegründet (wie das auch in Paris und in Frankreich überhaupt geschehen ist), und alle Mittel des Beichtstuhls, der Kanzel, der Versammlungen werden angewandt, um die Eltern von der Beschickung der neuen Staatsschulen abzuhalten. Der Papst ermahnt zwar, bei der Massenverdammung dieser Schulen, Ausnahmen zuzulassen, aber ohne sichtbare Wirkung. Frere-Orban, der sich zuletzt vom Vatikan hinter¬ gangen glaubt, ruft den Baron Anethcm aus Rom zurück und bricht nach lungern Depcscheuwechsel alle diplomatischen Veziehuugen mit Leo XIII. im Sommer des Jahres 1880 ab. Der päpstliche Nuntius Nina verläßt bald darauf Brüssel. Von 1880 bis 1884 dauert nun der Kampf zwischen den Gegnern der Staats¬ schulen und der sie verteidigenden Staatsregierung und deren Anhängern. Der Riß dringt in jede Gemeinde, in jede Familie. Frauen verlassen ihre Männer, Kinder werden von den Geistlichen zu offner Empörung und Ungehorsam gegen ihre Väter verleitet. Der Bericht der von der Kammer 1881 eingesetzten Untersuchungskommission beweist, wie groß der Einfluß der Geistlichkeit namentlich in den vlämischen Provinzen ist, und bis zu welchem Grade er in Anwendung gebracht wurde. Eine Zeit lang konnte man sich zwar noch der Hoffnung hin¬ geben, daß beide Unterrichtssysteme, das des Staates und das der Kirche, sich noch länger Konkurrenz machen würden. Zuletzt jedoch schritt die bischöfliche Partei zum Angriff auf die feindliche Zitadelle. Sie zog vor, sie mit einem male zu erstürmen und zu zerstören, als sie durch langwierige Belagerung aus¬ zuhungern und zur Übergabe zu zwingen. Es ist möglich, daß die gedrückte Geschäftslage die Fortsetzung der außerordentlichen Geldopfer zur Erhaltung der Klosterschulen erschwerte. Thatsache ist, daß die Führer der Rechten im Spätsommer des Jahres 1884 die bisherige Staatsuntcrricytsverwaltnng der Verschwendung ziehen und Einschränkung und Sparsamkeit schon bei den Juni¬ wahlen desselben Jahres auf ihr Banner geschrieben hatten. Die Macht der Geistlichkeit zeigte sich bei diesen Wahlen in überraschender Weise. Die siegreiche katholische Partei zog mit einer größern Mehrheit in beide Kammern ein, als je

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/210>, abgerufen am 24.07.2024.