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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Die griechische Frage.

Hälfte zerfiel, verblieb die Insel mir verhältnismäßig kurze Zeit bei der letzter",
denn 823 wurde sie dem griechischen Kaiser dnrch die Araber entrissen, in deren
Besitz sie sast anderthalbhundert Jahre verblieb. Nikevhorvs Pholas brachte
sie 961 Mieder unter die Herrschaft von Byzanz. Bald nach der Eroberung
Konstantinopels durch die Kreuzfahrer geriet sie in die Hände der Genuesen,
denen sie nicht lange darauf von den Venetianern abgenommen Mürbe, Diese
behaupteten ihre Eroberung bis 1645 gegen die Türken, welche das übrige
griechische Land erobert hatten, und die Hauptstadt fiel sogar erst 1696 in deren
Hände. Seitdem hat sie mit Ansncchme weniger Jahre, in denen sie Mehemed
Ali pfandweise besaß, zum Reiche der Pforte gehört, die deu 1863 ausge¬
brochenen und von Athen unterstützten Aufstand 1867 niederwarf und die Insel
sicher gutwillig nicht abtreten wird, da sie von größter Wichtigkeit für den
Bestand ihrer Herrschaft ist, und da sie bei einer solchen Weigerung mit aller
Bestimmtheit England an ihrer Seite haben wird. Ein Blick auf die Karte
reicht hin, um zu erkennen, daß die Linie Kreta-Rhodus es ermöglicht, die Ver¬
teidigung der Dardanellen gegen einen von Süden her kommenden Feind schon
in einer Entfernung von sechzig geographischen Meilen mit Aussicht auf Erfolg
zu beginnen, wenn man ihm mit genügenden Secstreitträften die schmalen Wasser¬
straße" im Osten und Westen Kretas verschließen kann. Der Verlust des letz¬
teren öffnet jeder feindlichen Flotte den Zugang von Südwesten her nach den
Dardanellen und sperrt anderseits der türkischen Kriegsmarine den Weg zu
Ausfällen nach dem westlichen Mittelmeere. Wir weisen auf die Verlegenheit
hin, welche der Pforte während des Krieges mit Mehemed Ali daraus erwuchs,
daß sich Kreta damals im Besitze des letztern befand, während das kurz vorher
unabhängig gewordene Griechenland die Inselgruppe der Cykladen mit dem
militärisch höchst wichtigen Syra inne hatte. Damals war das Ägeische Meer
den Schiffen des Kapudan Pascha, der es früher beherrscht hatte, vollständig
verschlossen, und keine osmanische Flotte wäre imstande gewesen, westlich von
Kreta durch die Meerenge von Cerigo und Cerigotto oder östlich durch die von
Karpathvs durchzubrechen. Es ergiebt sich aus dieser Erfahrung der strate¬
gische Wert Kretas: dasselbe ist für die Pforte, wenn sie überhnnpt für einen
Seekrieg genügende Mittel besitzt, von größter Bedeutung, eine Art Malta oder
Gibraltar.




Die griechische Frage.

Hälfte zerfiel, verblieb die Insel mir verhältnismäßig kurze Zeit bei der letzter»,
denn 823 wurde sie dem griechischen Kaiser dnrch die Araber entrissen, in deren
Besitz sie sast anderthalbhundert Jahre verblieb. Nikevhorvs Pholas brachte
sie 961 Mieder unter die Herrschaft von Byzanz. Bald nach der Eroberung
Konstantinopels durch die Kreuzfahrer geriet sie in die Hände der Genuesen,
denen sie nicht lange darauf von den Venetianern abgenommen Mürbe, Diese
behaupteten ihre Eroberung bis 1645 gegen die Türken, welche das übrige
griechische Land erobert hatten, und die Hauptstadt fiel sogar erst 1696 in deren
Hände. Seitdem hat sie mit Ansncchme weniger Jahre, in denen sie Mehemed
Ali pfandweise besaß, zum Reiche der Pforte gehört, die deu 1863 ausge¬
brochenen und von Athen unterstützten Aufstand 1867 niederwarf und die Insel
sicher gutwillig nicht abtreten wird, da sie von größter Wichtigkeit für den
Bestand ihrer Herrschaft ist, und da sie bei einer solchen Weigerung mit aller
Bestimmtheit England an ihrer Seite haben wird. Ein Blick auf die Karte
reicht hin, um zu erkennen, daß die Linie Kreta-Rhodus es ermöglicht, die Ver¬
teidigung der Dardanellen gegen einen von Süden her kommenden Feind schon
in einer Entfernung von sechzig geographischen Meilen mit Aussicht auf Erfolg
zu beginnen, wenn man ihm mit genügenden Secstreitträften die schmalen Wasser¬
straße» im Osten und Westen Kretas verschließen kann. Der Verlust des letz¬
teren öffnet jeder feindlichen Flotte den Zugang von Südwesten her nach den
Dardanellen und sperrt anderseits der türkischen Kriegsmarine den Weg zu
Ausfällen nach dem westlichen Mittelmeere. Wir weisen auf die Verlegenheit
hin, welche der Pforte während des Krieges mit Mehemed Ali daraus erwuchs,
daß sich Kreta damals im Besitze des letztern befand, während das kurz vorher
unabhängig gewordene Griechenland die Inselgruppe der Cykladen mit dem
militärisch höchst wichtigen Syra inne hatte. Damals war das Ägeische Meer
den Schiffen des Kapudan Pascha, der es früher beherrscht hatte, vollständig
verschlossen, und keine osmanische Flotte wäre imstande gewesen, westlich von
Kreta durch die Meerenge von Cerigo und Cerigotto oder östlich durch die von
Karpathvs durchzubrechen. Es ergiebt sich aus dieser Erfahrung der strate¬
gische Wert Kretas: dasselbe ist für die Pforte, wenn sie überhnnpt für einen
Seekrieg genügende Mittel besitzt, von größter Bedeutung, eine Art Malta oder
Gibraltar.




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[0206] Die griechische Frage. Hälfte zerfiel, verblieb die Insel mir verhältnismäßig kurze Zeit bei der letzter», denn 823 wurde sie dem griechischen Kaiser dnrch die Araber entrissen, in deren Besitz sie sast anderthalbhundert Jahre verblieb. Nikevhorvs Pholas brachte sie 961 Mieder unter die Herrschaft von Byzanz. Bald nach der Eroberung Konstantinopels durch die Kreuzfahrer geriet sie in die Hände der Genuesen, denen sie nicht lange darauf von den Venetianern abgenommen Mürbe, Diese behaupteten ihre Eroberung bis 1645 gegen die Türken, welche das übrige griechische Land erobert hatten, und die Hauptstadt fiel sogar erst 1696 in deren Hände. Seitdem hat sie mit Ansncchme weniger Jahre, in denen sie Mehemed Ali pfandweise besaß, zum Reiche der Pforte gehört, die deu 1863 ausge¬ brochenen und von Athen unterstützten Aufstand 1867 niederwarf und die Insel sicher gutwillig nicht abtreten wird, da sie von größter Wichtigkeit für den Bestand ihrer Herrschaft ist, und da sie bei einer solchen Weigerung mit aller Bestimmtheit England an ihrer Seite haben wird. Ein Blick auf die Karte reicht hin, um zu erkennen, daß die Linie Kreta-Rhodus es ermöglicht, die Ver¬ teidigung der Dardanellen gegen einen von Süden her kommenden Feind schon in einer Entfernung von sechzig geographischen Meilen mit Aussicht auf Erfolg zu beginnen, wenn man ihm mit genügenden Secstreitträften die schmalen Wasser¬ straße» im Osten und Westen Kretas verschließen kann. Der Verlust des letz¬ teren öffnet jeder feindlichen Flotte den Zugang von Südwesten her nach den Dardanellen und sperrt anderseits der türkischen Kriegsmarine den Weg zu Ausfällen nach dem westlichen Mittelmeere. Wir weisen auf die Verlegenheit hin, welche der Pforte während des Krieges mit Mehemed Ali daraus erwuchs, daß sich Kreta damals im Besitze des letztern befand, während das kurz vorher unabhängig gewordene Griechenland die Inselgruppe der Cykladen mit dem militärisch höchst wichtigen Syra inne hatte. Damals war das Ägeische Meer den Schiffen des Kapudan Pascha, der es früher beherrscht hatte, vollständig verschlossen, und keine osmanische Flotte wäre imstande gewesen, westlich von Kreta durch die Meerenge von Cerigo und Cerigotto oder östlich durch die von Karpathvs durchzubrechen. Es ergiebt sich aus dieser Erfahrung der strate¬ gische Wert Kretas: dasselbe ist für die Pforte, wenn sie überhnnpt für einen Seekrieg genügende Mittel besitzt, von größter Bedeutung, eine Art Malta oder Gibraltar.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/206>, abgerufen am 24.07.2024.