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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Die griechische Frage.

Monate dauernden Bedrohungen des europäischen Friedens durch den kleinsten
Staat des Weltteils vorzuziehen wäre. Griechenland hat von einem Angriffe
auf Epirus und Makedonien nichts zu erwarten als eine Niederlage. Seine
kriegerischen Mittel sind trotz aller Verstärkung seiner an der Grenze stehenden
Truppen unzureichend. Sein angebliches Recht existirt nur in seiner Einbildung,
es hat wenigstens mit dem Völkerrechte nichts zu schaffen, und selbst ein wirk¬
liches Recht gewinnt keine Kriege, wenn ihm nicht die Macht zur Seite steht
oder große Sympathien ihm entgegenkommen. Die letztern fehlen ihm in den
türkische" Provinzen, deren Eroberung es im Auge hat. Die dortigen helle¬
nischen Stammesgenossen werden geneigt sein, es zu unterstützen, sie bilden aber
nicht die Mehrheit der Bevölkerung und wohnen mir hin und wieder dicht bei¬
sammen. Die Griechen bauen auf ihre geistige Überlegenheit über die Albanesen
und Bulgaren in jenen Provinzen, lassen aber die Thatsache aus den Augen,
daß die Albanesen in Epirus ihnen jetzt an Nationalgefühl nicht nachstehen und
daß das griechische Element in Makedonien das bulgarische schon lange nicht mehr
so beherrscht und aufsaugt wie früher. Diese Bulgaren sehen jetzt einen bulgarischen
Staat neben sich, der ein energisches Leben zeigt, von dem er an sie abgiebt.
Selbstverständlich werden sie nicht in einen hellenischen Staat aufzugehen ge¬
neigt sein, der ein fremder ist und ihnen nicht dnrch Thatkraft imponirt. Griechen¬
land hat den rechten Augenblick versäumt. Es sollte das jetzt begriffen haben,
und man sollte meinen, nachdem die Anhänger der großgriechischen Idee sich
gezwungen gesehen haben, die Hoffnung auf Byzanz für immer aufzugeben,
müßte es ihnen leichter fallen, die Hoffnung auf den Besitz von hundert oder
zweihundert Dörfern und Kleinstädter in Mciccdomen und Albanien fahren zu
lassen. Können sie das nicht, so werden sie müssen, und müssen thut weh, be¬
sonders wenn das Anderswollen viel Geld gekostet hat.

Ähnliches gilt von Kreta, auf das man in Athen schon seit Jahrzehnten
begehrliche Blicke wirft und von dem vor kurzem ein "patriotischer," d. h. chau¬
vinistischer Redner in der dortigen Kammer wissen wollte, es sei zu sofortigen
Aufstande bereit und warte nur auf einen Wink dazu. Man behauptet, die
Jusel sei ein natürliches Zubehör zu Griechenland, ihrem "Mutterlande," ver¬
stößt aber damit nur insofern nicht gegen die Geschichte, als Kreta in halb
mythischer Zeit eines der letzten Ziele der dorischen Wanderung war und durch
diese zu der ursprünglich semitischen Bevölkerung ein starkes hellenisches Element
erhielt. Von einem Zusammenhange mit den Stammverwandten war hier später
bis auf die letzten Jahrzehnte viel weniger die Rede als selbst in Sizilien und
Unteritalien. Auch in der Zeit des regsten nationalen Lebens der altgriechischen
Zeit war das kretische Griechentum politisch gesondert von dem auf den Nachbar¬
inseln und auf dem Festlande Europas und Kleinasiens. Erst 67 v. Chr. wurde
Kreta ein Teil des römischen Weltreiches und so einigermaßen mit der übrigen
hellenischen Welt verbunden. Als jenes Reich in eine westliche und eine östliche


Die griechische Frage.

Monate dauernden Bedrohungen des europäischen Friedens durch den kleinsten
Staat des Weltteils vorzuziehen wäre. Griechenland hat von einem Angriffe
auf Epirus und Makedonien nichts zu erwarten als eine Niederlage. Seine
kriegerischen Mittel sind trotz aller Verstärkung seiner an der Grenze stehenden
Truppen unzureichend. Sein angebliches Recht existirt nur in seiner Einbildung,
es hat wenigstens mit dem Völkerrechte nichts zu schaffen, und selbst ein wirk¬
liches Recht gewinnt keine Kriege, wenn ihm nicht die Macht zur Seite steht
oder große Sympathien ihm entgegenkommen. Die letztern fehlen ihm in den
türkische» Provinzen, deren Eroberung es im Auge hat. Die dortigen helle¬
nischen Stammesgenossen werden geneigt sein, es zu unterstützen, sie bilden aber
nicht die Mehrheit der Bevölkerung und wohnen mir hin und wieder dicht bei¬
sammen. Die Griechen bauen auf ihre geistige Überlegenheit über die Albanesen
und Bulgaren in jenen Provinzen, lassen aber die Thatsache aus den Augen,
daß die Albanesen in Epirus ihnen jetzt an Nationalgefühl nicht nachstehen und
daß das griechische Element in Makedonien das bulgarische schon lange nicht mehr
so beherrscht und aufsaugt wie früher. Diese Bulgaren sehen jetzt einen bulgarischen
Staat neben sich, der ein energisches Leben zeigt, von dem er an sie abgiebt.
Selbstverständlich werden sie nicht in einen hellenischen Staat aufzugehen ge¬
neigt sein, der ein fremder ist und ihnen nicht dnrch Thatkraft imponirt. Griechen¬
land hat den rechten Augenblick versäumt. Es sollte das jetzt begriffen haben,
und man sollte meinen, nachdem die Anhänger der großgriechischen Idee sich
gezwungen gesehen haben, die Hoffnung auf Byzanz für immer aufzugeben,
müßte es ihnen leichter fallen, die Hoffnung auf den Besitz von hundert oder
zweihundert Dörfern und Kleinstädter in Mciccdomen und Albanien fahren zu
lassen. Können sie das nicht, so werden sie müssen, und müssen thut weh, be¬
sonders wenn das Anderswollen viel Geld gekostet hat.

Ähnliches gilt von Kreta, auf das man in Athen schon seit Jahrzehnten
begehrliche Blicke wirft und von dem vor kurzem ein „patriotischer," d. h. chau¬
vinistischer Redner in der dortigen Kammer wissen wollte, es sei zu sofortigen
Aufstande bereit und warte nur auf einen Wink dazu. Man behauptet, die
Jusel sei ein natürliches Zubehör zu Griechenland, ihrem „Mutterlande," ver¬
stößt aber damit nur insofern nicht gegen die Geschichte, als Kreta in halb
mythischer Zeit eines der letzten Ziele der dorischen Wanderung war und durch
diese zu der ursprünglich semitischen Bevölkerung ein starkes hellenisches Element
erhielt. Von einem Zusammenhange mit den Stammverwandten war hier später
bis auf die letzten Jahrzehnte viel weniger die Rede als selbst in Sizilien und
Unteritalien. Auch in der Zeit des regsten nationalen Lebens der altgriechischen
Zeit war das kretische Griechentum politisch gesondert von dem auf den Nachbar¬
inseln und auf dem Festlande Europas und Kleinasiens. Erst 67 v. Chr. wurde
Kreta ein Teil des römischen Weltreiches und so einigermaßen mit der übrigen
hellenischen Welt verbunden. Als jenes Reich in eine westliche und eine östliche


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/205>, abgerufen am 04.07.2024.