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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Italiener nennen, Ja, es war ein schöner Abend, und Karl spürte jetzt noch
eine wohlthätige Wirkung, wenn er sich alle Einzelheiten ins Gedächtnis rief.
Es giebt junge Weiber mit einer heilenden, kräftigenden Atmosphäre. O was
vermöchte erst seine unvergleichliche Marianna, wenn sie ihre Zurückhaltung
gegen ihn überwinden wollte!"

Doch nein, wir fahren nicht fort, selbst sür das kritische Zitat ist der Ton
des Folgenden bis zum Zusammenbruche des Elenden zu widerwärtig, zu ab¬
stoßend. Die Wirklichkeit, welche mit einer Gestalt wie der dieses frühzeitig
verlebten und dabei brünstig verliebten Millionärs gegeben wird, was kann, was
darf sie uns sein? Was beweist die ckelerweckeude Wahrheit dieses Paares, bei
dem Mann und Weib einander wert sind, gegen die "übertriebene Liebe," gegen
die Illusion und den leidenschaftlichen Drang nach Vereinigung, was bedeutet
sie für die Erkenntnis der menschlichen Natur, wenn es sich in der Literatur
denn nun durchaus nicht nur um ästhetische Wirkungen handeln soll? Welche
Wichtigkeit vermögen wir Erscheinungen und Vorgängen, wie den in "Marianna"
geschilderten, für die vielgerühmte Physiologie der Gesellschaft beizumessen? Wir
trauen G. Conrad vollkommen zu, daß er auf alle diese Fragen selbst mit
Achselzucken antworten und bemerken würde, es sei ihm einzig und allein um
getreue und möglichst drastische Darstellung eines bestimmten Stückes Leben,
ohne jede Nebenabsicht, zu thun gewesen. Dieser Absicht darf der Leser und
Beurteiler die ebenso unmittelbare und naive Erklärung, daß ihm dies Stück
Leben nicht gefalle, entgegensetzen.

Ob es Leser giebt, welche an der die "Maifahrt" eröffnenden Künstler¬
gesellschaft, die unter der gemütlichen Losung: "Es lebe die Rotznase, es lebe
der Selbstmord" im Hvfbräuhausc beisammen sitzt, oder an dem Bericht des
naturalistischen Malers Gregor Knöbelseder mit Anmerkungen von Hans Deixl-
hofer wärmere Teilnahme zu gewinnen vermögen, lassen wir dahingestellt. Als
Erzählung knüpft die "Maifahrt" gewissermaßen an "Marianna" an, insofern
der auf Capri weilende Münchner Maler von den weitern Schicksalen der
schönen Witwe, die inzwischen ihren Doktor Mikoras geheiratet hat, einige,
wenn auch keineswegs klare Kunde giebt. Die Abenteuer Gregor Knöbelseders
wie die in diese Abenteuer eingeflochtenen Reflexionen seiner Münchner Kunst¬
genossen empfangen aber ihr stärkstes Interesse durch die Auseinandersetzungen
des fingirten naturalistischen Malers über den Naturalismus in der Kunst,
Auseinandersetzungen und Bekenntnisse, die bis auf einen gewissen Punkt wohl
auch die Meinung Conrads wiedergeben. Wenn Herr Gregor Knöbelseder sich
vernehmen läßt: "Jeder Künstler und Schriftsteller hat eben die Manier, das,
was er am besten kann und was ihm den sichersten Erfolg eingebracht, als
alleinseligmachendes Kunstdogma zu definiren, um seine Werke damit zu glori-
fiziren und die Werke der andern, die in abweichenden Punkten exzelliren, als
ketzerhaft und verpfuscht herunterzusetzen in den Augen aller rechtgläubigen


Italiener nennen, Ja, es war ein schöner Abend, und Karl spürte jetzt noch
eine wohlthätige Wirkung, wenn er sich alle Einzelheiten ins Gedächtnis rief.
Es giebt junge Weiber mit einer heilenden, kräftigenden Atmosphäre. O was
vermöchte erst seine unvergleichliche Marianna, wenn sie ihre Zurückhaltung
gegen ihn überwinden wollte!"

Doch nein, wir fahren nicht fort, selbst sür das kritische Zitat ist der Ton
des Folgenden bis zum Zusammenbruche des Elenden zu widerwärtig, zu ab¬
stoßend. Die Wirklichkeit, welche mit einer Gestalt wie der dieses frühzeitig
verlebten und dabei brünstig verliebten Millionärs gegeben wird, was kann, was
darf sie uns sein? Was beweist die ckelerweckeude Wahrheit dieses Paares, bei
dem Mann und Weib einander wert sind, gegen die „übertriebene Liebe," gegen
die Illusion und den leidenschaftlichen Drang nach Vereinigung, was bedeutet
sie für die Erkenntnis der menschlichen Natur, wenn es sich in der Literatur
denn nun durchaus nicht nur um ästhetische Wirkungen handeln soll? Welche
Wichtigkeit vermögen wir Erscheinungen und Vorgängen, wie den in „Marianna"
geschilderten, für die vielgerühmte Physiologie der Gesellschaft beizumessen? Wir
trauen G. Conrad vollkommen zu, daß er auf alle diese Fragen selbst mit
Achselzucken antworten und bemerken würde, es sei ihm einzig und allein um
getreue und möglichst drastische Darstellung eines bestimmten Stückes Leben,
ohne jede Nebenabsicht, zu thun gewesen. Dieser Absicht darf der Leser und
Beurteiler die ebenso unmittelbare und naive Erklärung, daß ihm dies Stück
Leben nicht gefalle, entgegensetzen.

Ob es Leser giebt, welche an der die „Maifahrt" eröffnenden Künstler¬
gesellschaft, die unter der gemütlichen Losung: „Es lebe die Rotznase, es lebe
der Selbstmord" im Hvfbräuhausc beisammen sitzt, oder an dem Bericht des
naturalistischen Malers Gregor Knöbelseder mit Anmerkungen von Hans Deixl-
hofer wärmere Teilnahme zu gewinnen vermögen, lassen wir dahingestellt. Als
Erzählung knüpft die „Maifahrt" gewissermaßen an „Marianna" an, insofern
der auf Capri weilende Münchner Maler von den weitern Schicksalen der
schönen Witwe, die inzwischen ihren Doktor Mikoras geheiratet hat, einige,
wenn auch keineswegs klare Kunde giebt. Die Abenteuer Gregor Knöbelseders
wie die in diese Abenteuer eingeflochtenen Reflexionen seiner Münchner Kunst¬
genossen empfangen aber ihr stärkstes Interesse durch die Auseinandersetzungen
des fingirten naturalistischen Malers über den Naturalismus in der Kunst,
Auseinandersetzungen und Bekenntnisse, die bis auf einen gewissen Punkt wohl
auch die Meinung Conrads wiedergeben. Wenn Herr Gregor Knöbelseder sich
vernehmen läßt: „Jeder Künstler und Schriftsteller hat eben die Manier, das,
was er am besten kann und was ihm den sichersten Erfolg eingebracht, als
alleinseligmachendes Kunstdogma zu definiren, um seine Werke damit zu glori-
fiziren und die Werke der andern, die in abweichenden Punkten exzelliren, als
ketzerhaft und verpfuscht herunterzusetzen in den Augen aller rechtgläubigen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/188>, abgerufen am 04.07.2024.