Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.Die naturalistische Schule in Deutschland. die Hauptsache losgehenden Darstellung gebührt, allerdings aufgeworfen werden. Die naturalistische Schule in Deutschland. die Hauptsache losgehenden Darstellung gebührt, allerdings aufgeworfen werden. <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0186" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/198252"/> <fw type="header" place="top"> Die naturalistische Schule in Deutschland.</fw><lb/> <p xml:id="ID_496" prev="#ID_495" next="#ID_497"> die Hauptsache losgehenden Darstellung gebührt, allerdings aufgeworfen werden.<lb/> Der Schriftsteller stellt sich und wünscht die Leser auf einen Standpunkt zu<lb/> stellen, wie ihn sein Philosoph Gurlinger mit Berufung auf den alten Epiktet<lb/> vertritt: „Mau gehört noch zum Pöbel, solange man immer auf andre die<lb/> Schuld schiebt; man ist auf der Bahn der Weisheit, wenn man immer nur sich<lb/> selber verantwortlich macht; aber der wirkliche Weise findet niemanden schuldig,<lb/> weder sich noch andre." Mit allem Respekt vor dem Tiefsinn des Stoikers<lb/> von Hierapolis, weisen wir die Berufung auf ihn von vornherein zurück, denn<lb/> die Frage ist nicht, ob schuldig oder schuldlos, sie bleibt vielmehr und würde<lb/> bleiben, auch „wenn die nächsten achtzehnhundert Jahre mittels Naturwissenschaft<lb/> und experimentaler Psychologie die glänzende Bestätigung des Epiktctschen Satzes<lb/> bringen werden," ob die poetisch sein sollende Darstellung in irgendeiner Weise<lb/> einen poetischen Eindruck hinterläßt. Wir müssen dies für den größern Teil<lb/> der im „Totentanz der Liebe" gegebnen Erfindungen oder Wirklichkeiten ent¬<lb/> schieden verneinen. Denn die Phantasie nud Sympathie, mittels deren wir<lb/> Schicksale und Gestalten des Dichters oder (da die Naturalisten die Worte<lb/> Poesie und Poet nicht hören mögen) des Schriftstellers in uns aufnehmen, sind<lb/> eben unerbittlicher als jene Reflexion, die alles verzeiht, weil sie alles versteht.<lb/> Wenn uns in „Marianna" eine Ehebruchsgeschichte vorgeführt wird, so dürfen,<lb/> ja müssen wir fordern, daß wir entweder an der Heldin oder am Helden irgend¬<lb/> welchen stärkern oder wärmern Anteil zu nehmen vermögen. Der Autor führt<lb/> uns eine „feurige Dreißigerin" vor, die einen impotenten Millionär geheiratet<lb/> hat und über die „blutig dumme Geschichte," mit der sie das ersehnte Sinnenglück<lb/> verwirkt hat, nicht hinwegkommen kann. Ihr Gatte braucht eine Marienbader<lb/> Kur gegen Fettherz und Asthma, und Marianna hat natürlich nicht bloß die wer¬<lb/> benden Liebhaber, sondern auch die kuppelude Helferin (einer Versucherin branches<lb/> bei ihr nicht) in der Person des Fräuleins Elisa von Hntzlcr an der Seite.<lb/> Fräulein Elisa ist „starkgeistige Schwereuötcrin von der malenden, dichtenden<lb/> und klavierklimpernden Dilettantenzunft zum »heiligen Gral,« zudem eifriges<lb/> Mitglied des Antivivisektionsvereins." Sie macht einige schwache Versuche,<lb/> Marianna auf dem breiten Wege aufzuhalten, als sie jedoch die Schöne ent¬<lb/> schlossen sieht, ihrem guten dicken Karl den Laufpaß zu geben, als die begehrliche<lb/> Freundin aufschreit: „Ich will einen ganzen lebendigen Mann. Einen Mann,<lb/> der mich bis zum Wahnsinn liebt, und den ich wieder lieben kann ohne Falsch,<lb/> ohne Komödie mit ganzer Kraft bis zum Tod, bis in den Tod. Ja wohl,<lb/> wenn er ein Grieche ist, so will ich den Griechen, und wenn er der Teufel selbst<lb/> ist, so will ich den Teufel," so zeigt sie sich hilfreich und vermittelt mit großem<lb/> Eifer die Zusammenkunft des Afrikareisenden Doktor Mikoras mit Marianna.<lb/> Sie weiß vermutlich genau, daß die geforderte große Passion fürs Leben ans<lb/> einen vorübergehenden und alltäglichen Rausch hinauslaufen wird, aber sie hat,<lb/> wie uns an andrer Stelle der Erzählung verraten wird, schon mehrfach bei</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0186]
Die naturalistische Schule in Deutschland.
die Hauptsache losgehenden Darstellung gebührt, allerdings aufgeworfen werden.
Der Schriftsteller stellt sich und wünscht die Leser auf einen Standpunkt zu
stellen, wie ihn sein Philosoph Gurlinger mit Berufung auf den alten Epiktet
vertritt: „Mau gehört noch zum Pöbel, solange man immer auf andre die
Schuld schiebt; man ist auf der Bahn der Weisheit, wenn man immer nur sich
selber verantwortlich macht; aber der wirkliche Weise findet niemanden schuldig,
weder sich noch andre." Mit allem Respekt vor dem Tiefsinn des Stoikers
von Hierapolis, weisen wir die Berufung auf ihn von vornherein zurück, denn
die Frage ist nicht, ob schuldig oder schuldlos, sie bleibt vielmehr und würde
bleiben, auch „wenn die nächsten achtzehnhundert Jahre mittels Naturwissenschaft
und experimentaler Psychologie die glänzende Bestätigung des Epiktctschen Satzes
bringen werden," ob die poetisch sein sollende Darstellung in irgendeiner Weise
einen poetischen Eindruck hinterläßt. Wir müssen dies für den größern Teil
der im „Totentanz der Liebe" gegebnen Erfindungen oder Wirklichkeiten ent¬
schieden verneinen. Denn die Phantasie nud Sympathie, mittels deren wir
Schicksale und Gestalten des Dichters oder (da die Naturalisten die Worte
Poesie und Poet nicht hören mögen) des Schriftstellers in uns aufnehmen, sind
eben unerbittlicher als jene Reflexion, die alles verzeiht, weil sie alles versteht.
Wenn uns in „Marianna" eine Ehebruchsgeschichte vorgeführt wird, so dürfen,
ja müssen wir fordern, daß wir entweder an der Heldin oder am Helden irgend¬
welchen stärkern oder wärmern Anteil zu nehmen vermögen. Der Autor führt
uns eine „feurige Dreißigerin" vor, die einen impotenten Millionär geheiratet
hat und über die „blutig dumme Geschichte," mit der sie das ersehnte Sinnenglück
verwirkt hat, nicht hinwegkommen kann. Ihr Gatte braucht eine Marienbader
Kur gegen Fettherz und Asthma, und Marianna hat natürlich nicht bloß die wer¬
benden Liebhaber, sondern auch die kuppelude Helferin (einer Versucherin branches
bei ihr nicht) in der Person des Fräuleins Elisa von Hntzlcr an der Seite.
Fräulein Elisa ist „starkgeistige Schwereuötcrin von der malenden, dichtenden
und klavierklimpernden Dilettantenzunft zum »heiligen Gral,« zudem eifriges
Mitglied des Antivivisektionsvereins." Sie macht einige schwache Versuche,
Marianna auf dem breiten Wege aufzuhalten, als sie jedoch die Schöne ent¬
schlossen sieht, ihrem guten dicken Karl den Laufpaß zu geben, als die begehrliche
Freundin aufschreit: „Ich will einen ganzen lebendigen Mann. Einen Mann,
der mich bis zum Wahnsinn liebt, und den ich wieder lieben kann ohne Falsch,
ohne Komödie mit ganzer Kraft bis zum Tod, bis in den Tod. Ja wohl,
wenn er ein Grieche ist, so will ich den Griechen, und wenn er der Teufel selbst
ist, so will ich den Teufel," so zeigt sie sich hilfreich und vermittelt mit großem
Eifer die Zusammenkunft des Afrikareisenden Doktor Mikoras mit Marianna.
Sie weiß vermutlich genau, daß die geforderte große Passion fürs Leben ans
einen vorübergehenden und alltäglichen Rausch hinauslaufen wird, aber sie hat,
wie uns an andrer Stelle der Erzählung verraten wird, schon mehrfach bei
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