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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Kritische Beiträge zur sozialen Frage.

und den etwaigen Überschuß seiner Produktion für sich selbst aufspeichert, wird
derselbe jetzt sein Produkt dem Stärkeren abliefern müssen, nachdem er soviel
davon für sich behalten oder von dem Stärkeren zurückbekommen hat, als er zum
notwendigen Unterhalt bedarf. So steht an der Wiege der menschlichen Ge¬
sellschaft die Gewalt und fuhrt in Bezug auf die Arbeitskraft zur persönlichen
Gebundenheit.

Aber nicht bloß der Arbeitskraft gegenüber macht sich das Recht des Stärkeren
geltend. Die zunehmende Zahl der Menschen verleiht dem zweiten, ursprünglich
ebenfalls freien Faktor der menschlichen Wirtschaft, dem Stoff der äußern Natur,
mehr und mehr Wert und führt zum Privateigentum an demselben, und so
entstehen in der menschlichen Gesellschaft durch die Einwirkung der persönlichen
Gebundenheit und des Privateigentums bestimmte Gegensätze, wie Herren und
Sklaven, Besitzende und Nichtbesitzende, Gegensätze, die freilich nicht immer streng
geschieden sein werden, sondern die mehr oder weniger je nach den Verhältnissen
ineinander übergehen.

Tritt uns z. B. im Anfang der wirtschaftlichen Entwicklung die persönliche
Gebundenheit in ihrer schroffsten Form, der Sklaverei, entgegen, so hat der Lauf
der Zeit dieselbe in immer mildere Formen übergeführt; die letzten hundert
Jahre haben nahezu den Rest der persönlichen Gebundenheit in den zivilisirten
Staaten durch gesetzliche Aufhebung weggeschafft und nur noch wenige Schranken
stehen gelassen. An die Stelle des einstigen Gegensatzes von Herr und Sklave
ist das allgemeine gleiche Staatsbürgertum aller Angehörigen eines Volkes getreten-

Anders ging es mit demjenigen Gegensatz, welcher durch den Übergang des
Arbeitsstvffes in die Hände der einzelnen Individuen entstanden war, mit dem
Privateigentum. Je mehr wir den Unterschied zwischen Herr und Sklave schwinden
sehen, desto mehr sehen wir auch, wie gleichzeitig damit die Ausbildung des
Privateigentums immer weitere Kreise zieht; wir sehen, wie Hand in Hand mit
der Lockerung der persönlichen Gebundenheit immer mehr ehemals freies oder
Gemeineigentum in die Hunde einzelner übergeht, wie namentlich auch die Ent¬
wicklung des geltenden Rechts in dieser Richtung vorschreitet, sodaß man bei
genauer Untersuchung zu dem Schlüsse kommen muß, daß die Bestrebungen beider
Faktoren in einem umgekehrten Verhältnis stehen, das heißt, daß mit der zu¬
nehmenden Ausbildung des Privateigentums eine Abnahme der persönlichen Ge¬
bundenheit, und umgekehrt mit der Zunahme der persönlichen Gebundenheit eine
Minderung des Privateigentums verbunden ist.

Der Grund dieser Thatsache ergiebt sich aus unsern obigen Auseinander¬
setzungen über die menschliche Individualität, welche beim Zusammentreffen der
menschlichen Einzelinteressen den Stärkern veranlaßt, dem Schwächern gegenüber
seine Herrschaft geltend zu machen. Um dies zu können, wird der Stärkere
den Schwüchern teils in Bezug auf die Arbeitskraft, teils in Bezug auf den
Arbeitsstoff beschränken. In Bezug auf welchen der beiden Faktoren er dies


Grenzboten II. 1386. 20
Kritische Beiträge zur sozialen Frage.

und den etwaigen Überschuß seiner Produktion für sich selbst aufspeichert, wird
derselbe jetzt sein Produkt dem Stärkeren abliefern müssen, nachdem er soviel
davon für sich behalten oder von dem Stärkeren zurückbekommen hat, als er zum
notwendigen Unterhalt bedarf. So steht an der Wiege der menschlichen Ge¬
sellschaft die Gewalt und fuhrt in Bezug auf die Arbeitskraft zur persönlichen
Gebundenheit.

Aber nicht bloß der Arbeitskraft gegenüber macht sich das Recht des Stärkeren
geltend. Die zunehmende Zahl der Menschen verleiht dem zweiten, ursprünglich
ebenfalls freien Faktor der menschlichen Wirtschaft, dem Stoff der äußern Natur,
mehr und mehr Wert und führt zum Privateigentum an demselben, und so
entstehen in der menschlichen Gesellschaft durch die Einwirkung der persönlichen
Gebundenheit und des Privateigentums bestimmte Gegensätze, wie Herren und
Sklaven, Besitzende und Nichtbesitzende, Gegensätze, die freilich nicht immer streng
geschieden sein werden, sondern die mehr oder weniger je nach den Verhältnissen
ineinander übergehen.

Tritt uns z. B. im Anfang der wirtschaftlichen Entwicklung die persönliche
Gebundenheit in ihrer schroffsten Form, der Sklaverei, entgegen, so hat der Lauf
der Zeit dieselbe in immer mildere Formen übergeführt; die letzten hundert
Jahre haben nahezu den Rest der persönlichen Gebundenheit in den zivilisirten
Staaten durch gesetzliche Aufhebung weggeschafft und nur noch wenige Schranken
stehen gelassen. An die Stelle des einstigen Gegensatzes von Herr und Sklave
ist das allgemeine gleiche Staatsbürgertum aller Angehörigen eines Volkes getreten-

Anders ging es mit demjenigen Gegensatz, welcher durch den Übergang des
Arbeitsstvffes in die Hände der einzelnen Individuen entstanden war, mit dem
Privateigentum. Je mehr wir den Unterschied zwischen Herr und Sklave schwinden
sehen, desto mehr sehen wir auch, wie gleichzeitig damit die Ausbildung des
Privateigentums immer weitere Kreise zieht; wir sehen, wie Hand in Hand mit
der Lockerung der persönlichen Gebundenheit immer mehr ehemals freies oder
Gemeineigentum in die Hunde einzelner übergeht, wie namentlich auch die Ent¬
wicklung des geltenden Rechts in dieser Richtung vorschreitet, sodaß man bei
genauer Untersuchung zu dem Schlüsse kommen muß, daß die Bestrebungen beider
Faktoren in einem umgekehrten Verhältnis stehen, das heißt, daß mit der zu¬
nehmenden Ausbildung des Privateigentums eine Abnahme der persönlichen Ge¬
bundenheit, und umgekehrt mit der Zunahme der persönlichen Gebundenheit eine
Minderung des Privateigentums verbunden ist.

Der Grund dieser Thatsache ergiebt sich aus unsern obigen Auseinander¬
setzungen über die menschliche Individualität, welche beim Zusammentreffen der
menschlichen Einzelinteressen den Stärkern veranlaßt, dem Schwächern gegenüber
seine Herrschaft geltend zu machen. Um dies zu können, wird der Stärkere
den Schwüchern teils in Bezug auf die Arbeitskraft, teils in Bezug auf den
Arbeitsstoff beschränken. In Bezug auf welchen der beiden Faktoren er dies


Grenzboten II. 1386. 20
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[0161] Kritische Beiträge zur sozialen Frage. und den etwaigen Überschuß seiner Produktion für sich selbst aufspeichert, wird derselbe jetzt sein Produkt dem Stärkeren abliefern müssen, nachdem er soviel davon für sich behalten oder von dem Stärkeren zurückbekommen hat, als er zum notwendigen Unterhalt bedarf. So steht an der Wiege der menschlichen Ge¬ sellschaft die Gewalt und fuhrt in Bezug auf die Arbeitskraft zur persönlichen Gebundenheit. Aber nicht bloß der Arbeitskraft gegenüber macht sich das Recht des Stärkeren geltend. Die zunehmende Zahl der Menschen verleiht dem zweiten, ursprünglich ebenfalls freien Faktor der menschlichen Wirtschaft, dem Stoff der äußern Natur, mehr und mehr Wert und führt zum Privateigentum an demselben, und so entstehen in der menschlichen Gesellschaft durch die Einwirkung der persönlichen Gebundenheit und des Privateigentums bestimmte Gegensätze, wie Herren und Sklaven, Besitzende und Nichtbesitzende, Gegensätze, die freilich nicht immer streng geschieden sein werden, sondern die mehr oder weniger je nach den Verhältnissen ineinander übergehen. Tritt uns z. B. im Anfang der wirtschaftlichen Entwicklung die persönliche Gebundenheit in ihrer schroffsten Form, der Sklaverei, entgegen, so hat der Lauf der Zeit dieselbe in immer mildere Formen übergeführt; die letzten hundert Jahre haben nahezu den Rest der persönlichen Gebundenheit in den zivilisirten Staaten durch gesetzliche Aufhebung weggeschafft und nur noch wenige Schranken stehen gelassen. An die Stelle des einstigen Gegensatzes von Herr und Sklave ist das allgemeine gleiche Staatsbürgertum aller Angehörigen eines Volkes getreten- Anders ging es mit demjenigen Gegensatz, welcher durch den Übergang des Arbeitsstvffes in die Hände der einzelnen Individuen entstanden war, mit dem Privateigentum. Je mehr wir den Unterschied zwischen Herr und Sklave schwinden sehen, desto mehr sehen wir auch, wie gleichzeitig damit die Ausbildung des Privateigentums immer weitere Kreise zieht; wir sehen, wie Hand in Hand mit der Lockerung der persönlichen Gebundenheit immer mehr ehemals freies oder Gemeineigentum in die Hunde einzelner übergeht, wie namentlich auch die Ent¬ wicklung des geltenden Rechts in dieser Richtung vorschreitet, sodaß man bei genauer Untersuchung zu dem Schlüsse kommen muß, daß die Bestrebungen beider Faktoren in einem umgekehrten Verhältnis stehen, das heißt, daß mit der zu¬ nehmenden Ausbildung des Privateigentums eine Abnahme der persönlichen Ge¬ bundenheit, und umgekehrt mit der Zunahme der persönlichen Gebundenheit eine Minderung des Privateigentums verbunden ist. Der Grund dieser Thatsache ergiebt sich aus unsern obigen Auseinander¬ setzungen über die menschliche Individualität, welche beim Zusammentreffen der menschlichen Einzelinteressen den Stärkern veranlaßt, dem Schwächern gegenüber seine Herrschaft geltend zu machen. Um dies zu können, wird der Stärkere den Schwüchern teils in Bezug auf die Arbeitskraft, teils in Bezug auf den Arbeitsstoff beschränken. In Bezug auf welchen der beiden Faktoren er dies Grenzboten II. 1386. 20

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/161>, abgerufen am 03.07.2024.